Nieke V. Grafenberg

Die Sonnenanbeterin


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wir allein unterwegs waren.

      Unterwegs zu dem Ort, der so gar nichts vom Charme eines heimeligen Chaletdorfes hat, wie ich es liebe.

      Das weißgekalkte Berghotel am nördlichen Seezipfel steht viel zu nah an der Durchgangsstraße. Gegenüber drängen sich ein paar bescheidenere Gasthöfe und zwei Andenkenläden. Mittendrin eine Bank mit dem Hinweisschild Geldautomat .

      Ein Edelsteingeschäft.

      Von der holzverschlagähnlichen Talstation schlängelt sich ein Sessellift zur Panoramahütte . Seine starr aufstrebenden Masten verschandeln die sanfte Almenlandschaft und beleidigen sommers das Auge.

      Oberhalb des Ortes ein meist verlassener Tennisplatz.

      „Mama, pass auf - wenn du so weiter machst, kommen wir nie an!“

      Riekes Aufschrei kurz vor dem Ziel riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Wir waren am happigsten Steilstück der Zufahrtsstraße zum Ort angelangt. Noch heute klingt mir das nervtötende Geräusch in den Ohren, als ich den ersten Gang nicht schalten konnte, ängstlich auf die Bremse stieg und damit den Motor abwürgte. Und dann, in der Hektik, fiel mir nichts mehr ein! Unaufhaltsam rollten wir rückwärts den Hang hinunter. Panik brach aus, bis die lädierte Handbremse fasste.

      Hinter uns das höhnische Gehupe der Überholenden, bis endlich ein neuer Start gelang.

      In der Linkskurve beim Dorfeingangsschild fiel mir wie jedes Jahr ein:

      „Der erste Eindruck ist wie immer nicht überwältigend. Nur gut, dass uns der Ort empfohlen wurde! Auf mehr als einen Kaffee wäre ich sonst bestimmt nicht geblieben!“

      Unser Anreisetag war noch trügerisch warm. Der bedrohliche Himmel war uns gefolgt, kam mit düsterer Wolkenwand näher.

      Ich nahm die Sonnenbrille von der Nase, setzte sie aber gleich wieder auf. Vor uns lag es, am Ende des Sees, in ener lockend hellen Lichtsäule, die mir die Tränen in die Augen trieb - unser Hotel.

      Der Scheunenhof.

      Unsere langjährige Sommerfrische.

      Aus der Entfernung hatten wir unverstellte Sicht auf die Nordseite der Anlage. Dort liegen Wasserbecken, Bootsanleger und Zirbensauna geborgen zwischen schützenden Gebäudearmen. Noch herrschte reger Badebetrieb auf den Rasenterrassen. Ein grünweißes Tretboot leuchtete auf, löste sich vom Ufer, strebte lautlos zur Mitte des Sees.

      Erst als wir die Einfahrt zum Hotelparkplatz passierten, schloss ein Wolkenfetzen die heitere Himmelslücke.

      Wir waren da.

      Ich muss dem Haus zugute halten: Es hat sich gewehrt und den Kampf für sich entschieden. Auch dem tatendurstigsten aller Architekten war es nicht gelungen, seinen ursprünglichen Charme zu zerstören.

      Wie immer schweifte mein erster Blick über Wohlvertrautes, fiel danach auf den neuesten Anbau - einen vierstöckigen, der Westseite horstähnlich angeklebten Gebäudeteil. Sein mehrfach versetztes Satteldach scheint über dem gläsernen Halbrund des vorgebauten Ruhepavillons zu schweben. Balkone und Dachgauben versprechen himmlischen Ausblick auf das Bergpanorama.

      Ein Fahrstuhl fährt bis zum obersten Nest - zum wahrhaftigen Adlerhorst .

      Dorthin, wo Vera ihr Zimmer hatte.

      Mühelos passt dieser Wohnturm sich den behäbigen Fensterläden und traditionell verarbeiteten Holzverkleidungen der Galerien im alten Mittelteil an. Dort stützten sich Hausgäste auf die Brüstung, genossen den Ausblick auf das tragische Geschehen vor dem Haus.

      Und auf das Panorama.

      Darunter, zu ebener Erde, lugt vorwitzig das durch hohe Fenster transparent gehaltene Sonnencafé hervor - rechts und links gerahmt von den weißen Sitzgruppen und gelben Schirmen der Schönwetter-Außenterrasse.

      Nur, dass kein schönes Wetter war.

      Aber das konnte sich ganz schnell ändern. Ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen ab und zu nährten die Hoffnung, wie gewohnt nach dem Frühstück draußen sitzen zu können. Es war der günstigste Platz - war Ausguck auf Anreisende, Abreisende, agile und erschöpfte Wanderer, Liebespaare, schräge Vögel.

      Und auf den Abtransport eines Sarges.

      Langeweile kam hier nicht auf.

      Das nach Süden blickende Haupthaus ist Kernstück des Scheunenhof . Es birgt den geschäftigen Eingangsbereich mit Kaminhalle und Empfang, der bei kühlerem Wetter eine ähnlich kurzweilige Funktion innehat wie die Schönwetterterrasse. Unverschnörkelt hochgezogen, unterbricht dieser gelblich verputzte Vorbau die lange Front der Balkongalerie. Die setzt sich nach Osten hin fort, um nach wenigen Metern mit dem gesamten Gebäudeteil dahin abzuknicken, wo das Seeufer unzugänglich ist und wir der Ruhe wegen so gerne wohnen. Wie schon in den Vorjahren war eines der vorderen Galeriezimmer für Jana und Thomas und die Hunde reserviert.

      Blickfang vor dem Eingang sind jedes Jahr wieder geschickt platzierte, paarweise nickende Fuchsienbäumchen, blau-weiß unterpflanzt oder gelb, in stattlichen Kübeln. Zwei weiß gestrichene Holzbänke sind heißbegehrter Platz an der Sonne vor der wärmespendenden, windgeschützten Hausmauer.

      Allerorts besonnene Staudenvielfalt in gemulchten Beeten. Dazwischen besänftigendes Grün.

      Das war der Ort des Geschehens.

      Der Ort, an dem gerade ein Sarg weggeschafft wurde.

      „Wer mag das sein? Ob wir die wohl kennen?“

      Ungestüm kurbelte Sanne das Seitenfenster herunter, während ich noch zögerlich die Gepäckentladezone vor dem Haupteingang ansteuerte.

      Herr Leo, Restaurantleiter, Oberkellner und Sommelier in einer Person, war schon zur Stelle. Bestimmt, aber taktvoll, wiegelte er unangebrachte Fragen von Zaungästen ab, wies herumlungerndes Personal auf ihre Plätze und stand, wie üblich, für alle Eventualitäten auf dem Sprung.

      Eigenartig fing dieser Urlaub an. So etwas war nie zuvor dagewesen. Im Geiste sah ich Ulli schicksalsergeben die Schultern heben, sah ihn den Sitz seiner Brille korrigieren, blickte in vergrößerte Augen hinter starken Gläsern und hörte ihn sagen:

      „Einmal ist immer das erste Mal.“

      Rieke war längst aus dem Auto geklettert und zu Johanna gelaufen, die in Wanderkleidung bei einer aufgescheucht wirkenden Gästegruppe stand.

      Sie war Patentante und schon am Vortag angereist.

      Dem Anlass entsprechend strahlte sie nur gedämpfte Wiedersehensfreude aus, doch pure Neugier blitzte aus ihren Augen, als sie den Kopf ins Auto steckte. Mit ausdrucksloser Miene raunte sie uns zu:

      „Noch weiß keiner so richtig, was los ist. Aber verlasst euch darauf - bis ihr ausgepackt habt, bin ich auf alle Fälle informiert!“

      Der Riemen meiner Handtasche lugte unter einem Berg von Windjacken hervor. Ich zog sie heraus und stieg aus.

      Wie alle Sommer nahm ich mir vor, jeden einzelnen Urlaubstag so gründlich wie möglich auszukosten.

      Auch wenn dieser erste nichts Gutes verhieß.

      DREI

      Ursprünglich hatte ich vor, binnen kurzem die Gepäckladezone für Nachkommende freizumachen. Aber ich wusste - beide Töchter würden mich am Empfang erwarten. Sie hatten das Gepäck in unser Stockwerk transportiert und standen garantiert bereit. Wie jedes Jahr freuten sie sich auf das, was jetzt kam - auf den warmen Empfang und die Zeremonie.

      Der Wandtresor an der Rezeption wurde aufgesperrt. Wir hatten die Qual der Wahl zwischen einem Begrüßungsschnaps oder Säften aus den Flaschen, die darin verwahrt wurden. Beides gut gekühlt.

      Ich konnte etwas Hochprozentiges gebrauchen nach der Mühsal der Anreise und der befremdlichen Begegnung mit dem Tod. Ein Schnaps war immer etwas Besonderes, genau wie ein Urlaub im Scheunenhof . Ohne großes Aufheben wurde die Prozedur zelebriert.

      Aufhebens