Karen Erbs

Kapitäne ohne Kurs


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      Peter hielt sich kurz beide Hände vor den Mund, als wolle er seinem Mund das Reden verbieten. Dann schloss er wieder kurz die Augen und hielt die Hände wie zum Gebet an die Lippen: „Es tut mir so leid, Jenny. Er ist erschossen worden von … von … von deinem Bruder. Stefan und deine Schwägerin – sie hatten wohl … äh … sie waren …“

      Der Schmerz traf Jenny völlig unvorbereitet. Stöhnend klappte sie abrupt nach vorne. Ihr Herzschlag pumpte wie wild. Bilder, Ängste und Lügen. Ein schreckliches Chaos gerahmt von Schmerzen im Unterleib. Ruhig bleiben! Atmen. Richtig atmen. Alles andere ausblenden. Es gab einen Fahrplan für diese Situation.

      „Peter, könnt ihr mich ins Krankenhaus bringen? Fiona, rufst du meine Eltern an? Die rote Reisetasche dort neben der Garderobe muss mit ins Krankenhaus.“

      Die Nässe an den Beinen nahm Jenny erst wahr, als Ludwig meinte: „Ich glaube, deine Fruchtblase ist schon geplatzt. Willst du noch schnell ein anderes Nachthemd anziehen. Und ihr könntet vielleicht einige Handtücher oder Decken auf eure Sitzbank legen. Mach, dir keine Sorgen, Jenny! Ich bin Arzt und zwei Wochen vor dem Termin, das ist nicht so ungewöhnlich. Bleib schön ruhig und denke immer an das richtige Atmen.“

      Mit Tränen in den Augen und völlig erschöpft von ihren ständig wechselnden Emotionen, nahm Jenny dankbar wahr, wie alle froh waren, sich um ihr Wohlbefinden kümmern zu dürfen und den schnellen, sicheren Transport nach Schleswig zu gewährleisten.

      Das Baby hatte es zwar eilig, doch es kam erst im Krankenhaus zur Welt und wurde ein gesundes Mädchen. Jenny nannte sie trotz der fürchterlichen Umstände ihrer Geburt Felicitas.

      Fiona und Ludwig wurden Pateneltern und ein Paar.

      Auf dem Weg nach Friedrichstadt

      Er hatte sich zum ersten Mal seit Jahren durchgesetzt, und nun musste Willi dafür büßen. Einmal in seinem Eheleben, und nur weil er zu seinem runden Geburtstag ausdrücklich darauf bestanden hatte, durfte er Urlaubsort und Urlaubsmonat bestimmen. Jetzt bereute Willi schon auf der Hinreise das ganze Unternehmen.

      Bis zuletzt hatte er gehofft, dass seine Frau Gerlinde ihn alleine reisen lassen würde, denn in über vierzig Jahren Ehe hatte er sie bisher nie dazu überreden können, mit ihm nach Nordfriesland zu fahren.

      Sie brauchte ihren Urlaub mit garantiertem Sonnenschein: Mallorca, Ibiza, Italien, die Kanarischen Inseln, Tunesien, die Türkei, Florida und sogar auf den Malediven - sie waren überall gewesen. Willi musste immer mit, und Gerlinde hatte immer das gleiche Programm: Tagsüber Dauersonnen am Strand - abends in die Hotelbar oder irgendwo anders hin zum Tanzen mit trinkfesten und gleich gesinnten Deutschen, Engländern und Skandinaviern.

      Wie oft hatte er schon gehofft, ein bösartiger Hautkrebs würde sie erwischen? Sie für ihre Sonnengier bestrafen! Er mochte ihre braune Haut, die immer lederner wirkte, schon lange nicht mehr anschauen. Geschweige denn anfassen. Sie vermisste seine Berührungen aber nicht. Hielt nichts von Sex im Alter.

      Willi packte das Steuer noch fester an. Er war zwar siebzig Jahre alt, aber er wollte Zärtlichkeit und Berührungen. Verdammt, was hatte das mit dem Alter zu tun?

      Immerhin durfte er sich im sonnigen Süden tagsüber manchmal absetzen. Er mietete dann oft ein Auto und erforschte das Innere der Inseln. Auf Wanderungen mit stillen Glücksmomenten machte er Fotos von alten Klöstern, sonderbaren Gewächsen, wunderschönen Küsten und einsamen Buchten. Manchmal war es auch zu Begegnungen und kurzen Affären mit Frauen gekommen. Das waren dann unvergessliche Höhepunkte gewesen. Er hatte sich aber nie getraut, eine dieser Urlaubsbekanntschaften zuhause wieder zu sehen. Gerlinde konnte zur Furie werden, wenn sie sich aufregte. Und er musste auf sein Herz Acht geben. Eigentlich wollte er auch nur so oft wie möglich seine Ruhe zum Fotografieren. Willi liebte die Stille seiner Dunkelkammer.

      Stille?

      Seit ihrer kurzen Pause in Hamburg jammerte Gerlinde. Früher hatte sie nie in die Hansestadt gewollt, nun war es ihr mit seinen prachtvollen Passagen, schicken Restaurants, Shows und Musicals wie das Las Vegas des Nordens vorgekommen. Gerlindes Stimme überschlug sich zum wiederholten Male, als sie ihn von der Seite ankeifte:

      „Glaube ja nicht, dass ich mit dir in Gummistiefeln durch das Watt latsche oder auf dem Fischkutter raus zum Angeln fahre. Mir wird bei dem Gedanken schon kotzübel.“

      Willi wusste, es wäre besser, weiterhin zu schweigen, aber er konnte sich die Frage nicht verkneifen:

      „Warum bist du dann überhaupt mitgekommen?“

      „Du glaubst doch nicht, dass ich nicht weiß, dass du lieber alleine los wolltest? Wirst schon deine Gründe haben. Aber nicht mit mir, mein Lieber, ich bin ja nicht völlig bescheuert!“

      Willi seufzte und bremste vorsichtig ab, um wieder einen sicheren Abstand zum Vordermann zu bekommen. Die Sicht war schlecht geworden. Es war richtiges Aprilwetter. Auf der Fahrt von Düsseldorf nach Hamburg hatte es geregnet. An der Alster hatten sie Sonnenschein und sogar draußen in einer windgeschützten Ecke schräg gegenüber dem schönen Rathaus einen Kaffee genießen können.

      Zuletzt hatte Gerlinde unbedingt noch in das Restaurant des berühmten Fernsehkochs Mälzer gewollt, aber dort lief nichts ohne Reservierung.

      Woraufhin Gerlinde wieder ihre Wut an ihm ausließ. Er beruhigte sie, indem er ihr vorschlug, in einem der alten Hotels an der Binnenalster essen zu gehen. Das Atlantic Hotel, in dem Udo Lindenberg seit Jahren eine Suite bewohnte, hatte seine Frau beschwichtigt, aber das Essen war teuer gewesen und hatte seinen Zeitplan völlig über den Haufen geworfen.

      Gerlinde hätte natürlich am liebsten in dem Hotel übernachtet, aber Willi bestand darauf, nach Friedrichstadt zu ihrer Pension zu fahren. Doch nun war es nicht nur dunkel, es hatte auch wieder angefangen zu regnen. Wenn das Wetter so bliebe, würde der Urlaub mit Gerlinde die Hölle werden.

      Ihm schien, dass sie besonders gereizt war, seitdem sie letzte Woche mit der Pensionswirtin am Telefon gesprochen hatte. Willi hatte ja nicht gewusst, dass die Frau Witwe war. Gerlinde und ihre Verdächtigungen!

      Und er hatte sich so sehr auf das alte Holländerstädtchen gefreut. Ihre Unterkunft lag an der Treene im Westersielzug. Willi war schon neugierig, was sich hinter diesem seltsamen Straßennamen verbarg.

      Gerlinde war grundsätzlich eine eifersüchtige und misstrauische Frau. Willi war sich sicher, dass sie deswegen auch keine langfristigen Freundinnen hatte. Gerlinde konnte ihre Gefühle, auch Neid und Missgunst, nicht gut vor anderen verbergen.

      Wieder seufzte Willi, als er an seine alten Freunde und Kollegen von früher dachte, die sich nach und nach von ihm zurückgezogen hatten. Nur sein alter Kumpel und Nachbar Frank war ihm noch geblieben. Unverwüstlich ließ der alle Unhöflichkeiten Gerlindes an sich abtropfen, traute sich sogar manchmal, ihr mit Ironie zu begegnen. Er hatte ihm auch für den Urlaub zwischen Nordsee, Treene und Eider den Rücken gestärkt.

      Frank war oft im Norden. Hatte ihm erzählt, wo es die besten Fischbrötchen gab. Von der salzigen Luft und den Halligen hatte er geschwärmt und Willi ans Herz gelegt, unbedingt zum Westerhever Leuchtturm zu wandern. Das Eidersperrwerk und das Kattinger Watt sollte er sich anschauen. Natürlich sollte er auch auf Theodor Storms Spuren in der grauen Stadt am Meer wandeln. Und auf jeden Fall sollte Willi mindestens einmal zum Roten Haubarg, um dort leckeren Kuchen in einem riesigen historischen Bauernhaus mit einer gekachelten Stube zu genießen. Pesel wurde die Stube genannt, meinte Frank. Er würde sicher viele Fotos von den Landschaften vor und hinter dem Deich machen. Willis Augen begannen zu brennen.

      Sie waren nun nicht mehr auf der Autobahn, sondern auf der B 5 zwischen Heide und Tönning, wo er hinter Tönning irgendwann rechts nach Friedrichstadt abbiegen wollte. Es war also nicht mehr weit, aber er hatte sich wohl zu viel zugemutet. Sein Rücken tat weh. Er versuchte, sich bequemer hinzusetzen und musste abrupt bremsen, als vor ihm rote Lichter im Regen aufleuchteten.

      Gerlinde schreckte auf und fing wieder an, auf ihm rumzuhacken: „Du bist viel zu müde zum Fahren und bringst uns noch um. Wir hätten doch in Hamburg