Gerald Förster

Galisia


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in seine Lebensmaxime aufgenommen. Nur im Kopf war er noch immer der Freigeist von früher.

      »Toni, nun sag schon, wem wir diese schlaflose Nacht verdanken.«

      Das nonchalante Begrüßungslächeln des Kriminaltechnikers verwandelte sich übergangslos in eine skeptische Miene. »Dieser Fall wird das Nervenkostüm des Staatsanwaltes auf eine harte Probe stellen.«

      »Es ist fraglich, ob es unser Fall bleibt. Avaran war nicht irgendwer. Mich wundert, dass die Schlapphüte noch nicht hier sind. Aber was meintest du mit ›Problem‹?«

      Kallenbach runzelte die Stirn. »Um null Uhr gab es ein schwaches Signal, keine zwei Minuten lang. Es wurde nicht identifiziert!«

      »Eine Störung?«

      »Unwahrscheinlich. Es gab noch nie eine Störung.«

      »Dann wurde die Datenübertragung manipuliert?«

      »Ausgeschlossen. Der Stream kann weder beeinflusst noch unterbrochen werden. Jeder Versuch wäre tödlich.«

      Brandt sah ihn ungläubig an. »Du willst mir also sagen, dass wir keine Aussage zum Täter treffen können?«

      »So ist es.«

      Jetzt war der Kommissar wach. »Dann dürfte es allerdings zu einer Angelegenheit für den Staatsschutz werden.« Sichtbar erheitert schnippte er mit den Fingern. »Aber bis es soweit ist, werden wir die Gelegenheit wahrnehmen, unsere Fähigkeiten in klassischer Detektivarbeit unter Beweis zu stellen.«

      »Ich habe das dumme Gefühl«, orakelte Kallenbach, »dass uns diese Geschichte noch arge Kopfschmerzen bereiten wird.«

      Seine Intuitionen hatten Brandt schon oft auf die richtige Fährte geführt. Heute aber schien etwas anders zu sein. So zweifelnd hatte er ihn bislang selten erlebt. Doch jetzt wollte er nicht darauf eingehen. Ganz sicher würde das Tageslicht bereits die eine oder andere Erleuchtung mit sich bringen. »Wer hat ihn gefunden?«, fragte er, als hätte er die Andeutung eben überhört.

      »Ein Wachmann hat uns informiert, als sein Dienstherr plötzlich vom Monitor verschwunden war.«

      »Wie kam der Täter herein?«

      »Preisfrage! Niemand kommt hier herein.«

      »Was meinst du damit?«

      Kallenbach sah den Kommissar an. »Hatte ich schon erwähnt, dass uns diese Geschichte noch Kopfschmerzen bereiten wird? Das Gebäude ist eines der am besten gesicherten in ganz Deutschland. Alle Überwachungssysteme waren eingeschaltet, als wir eintrafen. Detaillierte Auswertungen laufen noch, ich kann dir aber jetzt schon sagen, dass es zur fraglichen Zeit keinerlei Bewegungen auf dem Gelände gab. Und die Wachmannschaft hat mir versichert, dass nicht einmal eine Maus ihre Checkpoints unbemerkt hätte passieren können. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie er das angestellt hat.«

      »Aber das er hereinkam, steht doch außer Frage, oder?«, fragte Brandt und klang dabei fast ein wenig spöttelnd.

      »Das ist das einzige, was ich dir bestätigen kann. Es ist, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht und dorthin auch wieder verschwunden.«

      »Was spricht dagegen, dass er durch den Keller oder über das Dach kam?«

      »Neueste und teuerste Gerätschaft. Zusätzlich zu unserem Schutzprogramm hat sich Avaran seine Sicherheit einiges kosten lassen. Er hat einen Lifescanner installieren und den gesamten Gebäudekomplex mit einem PSC1 umgeben lassen.«

      »Mit einem was?«

      »Ein Energieschirm. Der Mann vom Wachdienst hat es mir wie eine überdimensionale, über den Schlossberg gestülpte, unsichtbare Glocke beschrieben. Wer oder was dem Schirm zu nahe kommt und größer ist als eine Elster, löst Alarm aus.«

      Brandt bekam große Augen. »Ein Energieschirm?«

      »Ein neues Spielzeug für die Leuchttürme der Gesellschaft, erst seit drei Monaten auf dem Markt. Der Wachmann kann es dir besser erklären.«

      »Größer als eine Elster«, überlegte er. »Also angenommen, ein Kind wirft einen Ball über den Zaun, wird Alarm ausgelöst?«

      »Abgesehen davon, dass es nicht ohne weiteres in die Nähe des Zaunes käme, so ähnlich haben es sich die Konstrukteure wohl gedacht.«

      Der Kommissar war beeindruckt. »Apropos Elster, kann man schon sagen, ob etwas gestohlen wurde?«

      »Nichts, soweit wir das bisher beurteilen können.«

      »Vielleicht fand der Täter eine Gelegenheit, sich im Gebäude einschließen zu lassen.«

      »Welche Gelegenheit? Das Schloss ist längst nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich. Außerdem widerspräche es dem, wenn auch nur fragmentarischen, Satellitensignal, und auch der Lifescanner hat nichts dergleichen angezeigt.«

      Brandt stutzte. »Ich glaube, ich muss meine Kenntnisse in Sicherheitselektronik mal wieder auffrischen. Was, in aller Welt, ist denn nun wieder ein Lifescanner?«

      Kallenbach lächelte milde. »Auch das lässt du dir am besten von dem Wachmann erklären. Laut seiner Aussage jedenfalls hat der Lifescanner kein unbefugtes Leben im Schloss erkannt. Und der nimmt sogar die fürstliche Hauskatze wahr. Schau hier.«

      Er deutete auf einen kleinen roten Punkt auf dem Bildschirm seines Interface, mit dem er sich Zugriff auf die Computer des Wachdienstes im Erdgeschoss verschafft hatte. »Und diese großen Kleckse hier, das sind wir.«

      Nachdenklich ging Brandt im herrschaftlichen Schlafzimmer auf und ab. Er blieb am Fenster stehen und sah hinunter auf den Rhein, wie sich seine seichten Wellen gläsern im schwachen Mondlicht kräuselten. Dieses Schloss ist abgeschirmt wie Fort Knox. Niemand spaziert hier unbemerkt ein und aus. Ganz davon abgesehen, man geht nicht einfach zu jemandem wie Avaran. Man nähert sich ihm nicht einmal. Das ist verbotenes Terrain.

      Das Leben hatte es mit Vincent Brandt nicht immer gut gemeint. An Schicksalsschlägen aber war er nie zerbrochen. Nicht, als seine Eltern bei einem Verkehrsunfall starben und er, als damals Neunjähriger, fortan bei seinen Großeltern aufwuchs und auch nicht, als seine Frau und seine kleine Tochter der Großen Grippe zum Opfer fielen. Unlängst hatte er seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert und er war sein einziger Gast. Die Jahre hatten dem schlanken, großgewachsenen Mann tiefe Furchen ins Gesicht gezeichnet und sein Haar war ergraut. Er war ein ernsthafter Analytiker, ein scharfer Beobachter mit verlässlichen Intuitionen und einem ausgeprägtem Rechtsbewusstsein.

      Brandt stammte aus einem mittelrheinischen, von dunkelgrauem Moselschiefer geprägten, kleinen verschlafenen Dörfchen. Urbane Betriebsamkeit war seinen Einwohnern so fremd wie die sterile Anonymität der Stadt. Man fühlte sich als Teil einer verschworenen, die Beschaulichkeit schätzenden Gemeinschaft. Wenn er sich heute an seine Kindheit erinnerte, erschienen ihm immer wieder die gleichen Bilder: Wie er mit dem flachsblonden Toni aus der Nachbarschaft durch die nahen Wälder streifte, wie sie sich mit blauen Zähnen anlachten, wenn sie wieder einmal zu viele der köstlichen Heidelbeeren gefuttert hatten oder wie sie auf einer Wiese lagen, Grashalme kauten und, was bei den beiden Jungs stets zu außerordentlicher Erheiterung führte, mit einer selbstgebauten Zwille die nebenan weidenden Schafe beschossen, die dann unter entsetztem Geblöke davonstoben.

      Eine einschneidende Wendung nahm das Leben des kleinen Vincent, als eines Tages Vater und Mutter von einer Spritztour in das nahegelegene Koblenz nicht wieder nach Hause gekommen waren. Ein Sattelzugfahrer hatte eine rote Ampel übersehen. Der Kleinwagen und seine Insassen wurden bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Später bezeichnete er es als Glück im Unglück, dass er aus seiner vertrauten Umgebung nicht herausgerissen wurde, weil seine Großeltern, die den Nachbarhof bewohnten, ihn wie selbstverständlich aufnahmen. Seine kindliche Unbeschwertheit aber hatte an diesem Tag ihr jähes Ende gefunden.

      Brandt war ein Mann ohne Fassade, indes mit direkter Ansprache. Im Gegensatz zu Uhland, der sich eher des eleganteren Floretts, respektive der scharfzüngigen Ironie als verbale Waffe bediente, sagte man ihm nach, dass die seine eher der mittelschwere Säbel sei. Seit mehr als zwanzig Jahren war