Gerald Förster

Galisia


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Software-Algorithmen beurteilten, ob sich eine Person den Vorschriften gemäß oder verdächtig verhielt. Das System war sogar imstande, Schlüsse über Charakter und Wesensmerkmale zu ziehen. Was der Kirche in zweitausend Jahren mit der Proklamation eines allessehenden Gottes und mit der formelhaft wiederholten Warnung vor einem himmlischen Strafgericht nie vollständig gelungen war, nämlich das Massenbewusstsein zu lenken, erreichten die Geheimdienste mit dem Einsatz des Global Observation and Trace Tracking System. Im Unterschied zu den überlieferten Göttern aber, die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte und deren Wirken gern von ungöttlichen Pannen begleitet war, existierte ›GOTT‹ real und arbeitete fehlerfrei.

      Die Idee von der totalen Steuerung des Menschen war perfektioniert, das Instrument dafür in die Köpfe verschoben: Kontrolle durch Selbstkontrolle. Aus der verbindlichen Gewissheit einer Dauerobservierung erwuchs intuitiv die Angst, dass aus den gesammelten Daten falsche Schlüsse gezogen und man schuldlos von der unheimlichen Maschinerie verschlungen werden konnte. Und so hinderte man sich letztendlich, in gleichsam freiwillig gezwungenem Gehorsam, selber am Ausleben von natürlichen Bedürfnissen und Begabungen. Identitäten waren zu digitalen Adressen konvertiert.

      Die Menschen wehrten sich nicht mehr dagegen. Sie flohen auch nicht mehr, denn es gab kein Wohin. Und dem Bastard, geboren aus der Ehe von Politik und Kapital, war ein gedeihlicher Fortbestand gesichert.

      Personen in »herausragender gesellschaftlicher Stellung«, wie Rikard Avaran, ermöglichte man die Deaktivierung ihres personal chip. Diese Prozedur, so hieß es, sei ein technisch hochanspruchsvolles Verfahren, bei dem erst während des Eingriffs ein Programm die erforderlichen Codes generiere, die den Chip stilllegten und damit die Blockade des Nervensystems aufhoben. Danach konnte der Chip entfernt werden, ohne dass die betroffene Person Schaden nahm.

      Indes besaß ein »Explantierter« einen Status, der die Inanspruchnahme von ARGUS nahelegte. So wurde die gewonnene Freiheit durch das Schutzprogramm, das, wie ein Fahnder, jeden Schritt beobachtete, praktisch wieder eingebüßt. Insofern war ein Souverän inhaftiert wie jeder andere auch, in einem Edelgefängnis zwar, aber inhaftiert. Trotzdem, allein die Gewissheit, selber zu entscheiden, wann und wie man überwacht wurde, ging, so fand man in den elitären Kreisen, mit einer elementaren Aufwertung der Lebensqualität einher. Zudem war es auf den Upper Class Partys immer wieder ein besonderer Genuss, einen »Chipsy« auf seinen »kleinen Makel« hinzuweisen.

      »Warum Avaran?«, dachte Brandt laut.

      »Ich kann mich irren«, antwortete Uhland bissig, »aber ich schätze, er hat sich nicht nur Freunde im Leben gemacht. Dieser Unfall, als den die Staatspresse seine Gewinnparanoia damals verkleidete, war die größte humane Katastrophe aller Zeiten.«

      Brandt musste nicht daran erinnert werden. »Ihm wurde keine Schuld nachgewiesen.«

      Uhlands Bissigkeit schlug in Groll um. »Nein. Weil es in diesem Land keine Gerichte für Leute wie ihn gibt.«

      Während sich die Journaille seinerzeit mit Spekulationen überbot, was denn genau zur Katastrophe geführt hatte, sprachen die offiziellen Medien beharrlich von einem Unfall. Selbst Brandt, der sich als einen eher getreuen Staatsdiener bezeichnete, war diese These so wenig glaubhaft erschienen, wie das Presseorgan selbst. Denn immer dann, wenn es seinem Informationsauftrag hätte nachkommen sollen, sah es seine Bestimmung darin, die Ereignisse zu interpretieren statt zu erklären.

      »Zugegeben, er gehört nicht zu den Opfern, die mein Mitgefühl erwecken. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, die ethischen Maßstäbe der Justiz zu bewerten. Meine Frage zielte auf etwas ganz anderes ab: Avaran war ein Kontrollfreak. Dieses Haus gleicht einem Maginot-Bunker. Allein hier einzudringen ist ein Husarenstück. Aber ihn zu töten und wieder zu verschwinden, und das alles unerkannt und innerhalb weniger Sekunden, das ist ein wahrer technischer Coup.«

      Tatsächlich schien das Schutzbedürfnis Rikard Avarans hochgradig ausgeprägt, hatte er doch, zusätzlich zu den ARGUS-Maßnahmen, noch weiter aufgerüstet. Neben der obligatorischen Wachmannschaft beaufsichtigte ein Dutzend Elitesoldaten das Schloss und seinen Herrn. Fünf Männer waren für die Sicherung von Höfen und Gärten zuständig, weitere fünf patrouillierten in den Umgebungsparks und zwei beaufsichtigten die Monitore im Erdgeschoss.

      Im Frühjahr hatte eine Neuerscheinung auf der Securitymesse für Aufsehen gesorgt. Einer auf Überwachungstechniken spezialisierten schwedischen Firma war es gelungen, hochfrequente Felder in beliebigen Formen und Größen zu erzeugen. Mit Hilfe von Sendern und Sensoren, die man rund um ein Gelände in Fels oder Erdreich verdeckt platzierte, ließ sich ein halbkugelförmiges Energiefeld mit einem Durchmesser von mehreren hundert Meter aufbauen. Avaran war einer der ersten, der sein Anwesen mit Hilfe dieser unsichtbaren Kuppel schützen ließ.

      Um seine Wissenslücken in punkto Sicherheitselektronik, speziell der auf Stolzenfels, zu füllen, begab sich Brandt nach unten in den großen Rittersaal, wo die Männer des Wachdienstes vor ihren Bildschirmen saßen. »Guten Morgen«, rief er ihnen angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit zu. Inzwischen war es fast fünf und draußen schickte der Tag sein erstes diffuses Licht über den Rhein. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«, sprach er einen der Wachleute an.

      »Hauser«, knurrte der ohne aufzuschauen. Hauser war ein finster dreinblickender Zweimeterriese, der Brandt augenblicklich an einen Eisenbieger erinnerte, den er als Kind einmal auf einer Kirmes bestaunt hatte. Sein kahler Schädel, ein schwarzer Kinnbart und eine dunkle Sonnenbrille, die er offenbar auch nachts nicht abnahm, beförderten zusätzlich sein angsteinflößendes Äußeres.

      »Ich bin Hauptkommissar Brandt, der leitende Ermittler. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

      Hauser drehte sich langsam um. Dann stand er auf. Wenn sich seine Statur im Sitzen bereits erahnen ließ, ragte der Wachmann jetzt wie ein Berg vor dem Kommissar auf, der, selbst eine stattliche Erscheinung, ehrfürchtig nach oben blickte, als er dessen tatsächliche Ausmaße erfasste. Vorsichtig griff er nach der ausgestreckten klobigen Pranke. »Ist Ihnen gegen Mitternacht etwas Besonderes aufgefallen?«, fragte er, noch immer von Hausers physischer Wucht ergriffen.

      »Bei meinem letzten Kontrollgang um halb zwölf gab es keine besonderen Vorkommnisse. Genau um null Uhr dann erlosch die Anzeige auf dem Lifescanner.«

      Donnerwetter, es spricht, stellte Brandt erleichtert fest. »Was genau tut dieser Lifescanner?«

      Hauser brachte sich in Positur, als hätte er einen wichtigen Vortrag zu halten. Dabei zeigte er sich weit weniger einsilbig und auch viel umgänglicher, als Brandt es nach dem ersten Eindruck befürchtet hatte. »Es handelt sich um ein hochsensibles Messinstrument, einfach gesagt, um eine Kombination aus Temperaturfühler und einer Art Seismograph. An allen Zimmerdecken befinden sich Sensoren, die thermographische Abweichungen wahrnehmen, wie sie durch unsere Körperwärme entstehen, genauso wie die Schwingungen, die unser Puls erzeugt. Mittels dieser beiden Informationen identifiziert es alles, was sich warmen Geblüts und eines Herzschlages erfreut als lebendes Objekt, welches dann schematisch auf dem Bildschirm dargestellt wird. Sehen Sie hier.« Er zeigte auf einen der Monitore. »Das ist das Schlafzimmer. Diese roten Visualisierungen sind ihre Leute.«

      Brandt nickte. Es waren die »Kleckse«, die er vorhin auf Kallenbachs Interface gesehen hatte.

      »Personen«, fuhr Hauser fort, »die sich im Gebäude aufhalten, werden von den Sensoren erfasst und als solche erkannt. Ändern sich die Voraussetzung, die zur Identifizierung führen, erlischt die Anzeige. Avarans Herzstillstand löste den Alarm aus.«

      »Was haben Sie danach getan?«

      »Was das Regelwerk von ARGUS in diesem Fall vorschreibt: Bei Unregelmäßigkeiten jedweder Art ist sofort die nächste Polizeidienststelle zu kontaktieren. Was ich auch unverzüglich tat. Dann sind ein Kollege und ich nach oben gegangen und haben nachgesehen. Er war tot.«

      »Wie haben Sie seinen Tod festgestellt?«

      »Herr Hauptkommissar, ich habe dreizehn Jahre meines Lebens in Kriegsgebieten zugebracht und dabei unzählige Tote gesehen. Glauben Sie mir, ich weiß, wann einer tot ist.«

      Brandt nickte abermals. »Wir müssen das später noch protokollieren.