Gerald Förster

Galisia


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und Galgenhumor, wenn sich Angehörige der unteren Schichten fortan selber »Bricks« nannten. Von besser Bemittelten ausgesprochen indes haftete dem Begriff immer ein leiser Beigeschmack der Verachtung an. »Bricks« wurde bald zur allgemeingebräuchlichen Bezeichnung für jene drei Viertel der Bevölkerung, deren Leben sich zwischen täglichem Überlebenskampf, Sorge um Nest und Nachwuchs, Sportübertragungen, digitalen Verführungen und Streitereien ums Nichts abspielte, die sich in Drogen, Religionen, Alkohol und Promiskuität flüchteten, die ihrer Kompetenz enteignet worden waren und in deren abgeschottetes, kleinkriminelles Milieu sich der Staat kaum noch einmischte. Dieser Schicht, so hieß es, fehle sowohl das Interesse als auch das intellektuelle Verständnis für Recht und Ordnung, soziale Verständigung und kulturelle Identität. Allein die Staatsdiener, zu denen auch Brandt und sein berufliches Umfeld zählte, Banker, vermögende Freiberufliche und einige Sportidole, denen in den Armenbezirken eine vergleichbare Verehrung zuteilwurde, wie den Gladiatoren der römischen Antike, bildeten eine Art Restbürgertum.

      Zeitgleich mit der Reformierung der Exekutivorgane und der Einführung von ARGUS war die deutsche Bevölkerung mit dem Gesetz der »Nachhaltigen Terrorprävention« konfrontiert worden. Zur Sicherheit der Bürger und zum Zweck einer effektiven Verbrechensbekämpfung, so die amtliche Lesart, war mit seinem Inkrafttreten das Tragen des personal chip vorgeschrieben. Binnen einer Jahresfrist wurde jeder auf deutschem Territorium lebenden Person der Chip eingesetzt. Neugeborene bekamen ihn seither unmittelbar nach der Geburt implantiert. Der in den Hirnstamm eingepflanzte Mikrochip übernahm nach seiner Initialisierung die Steuerung der Informationsflüsse im Zwischenhirn sowie der Afferenzen vom und zum Rückenmark. Ein unqualifiziertes Entfernen des Chip oder der Versuch einer elektronischen Manipulation hatte schwerwiegende Beeinträchtigungen des Zentralnervensystems zur Folge und führte notwendigerweise zum Hirntod.

      Der künstliche Körperteil stellte aber nicht nur das Überleben sicher, sondern regelte längst auch den Alltag. Ohne den Chip war man quasi nicht mehr existent. Er hatte Personaldokumente, wie Reisepass oder Führerschein, abgelöst. Alle persönlichen Informationen, unter anderem biometrische Daten, Gesundheitszustand, Auffälligkeiten, Lebenslauf, Qualifikationen wie auch die Bonität bildeten das »Persönliche Profil«, das auf dem Chip gespeichert und auf den zuständigen Behördenservern einzusehen war. Auch jeglicher Zahlungsverkehr wurde über den Chip abgewickelt. Ein direkter Kontakt mit seiner Bank war für den Kunden nicht mehr vorgesehen. Alle Kontobewegungen wurden via Satellit auf den Chip übertragen, und über sein »InterData,- Funk- & Media Access Device«, kurz Interface, war es jedem Bürger möglich, Geldbewegungen und seine daraus resultierende Kredithöhe einzusehen. Geldkarten aller Art waren abgeschafft und das wenige noch im Umlauf befindliche Bargeld fand im normalen Tagesgeschäft kaum noch Akzeptanz. Zahlkassen gab es in den Verkaufseinrichtungen nicht mehr, man zahlte per Chip »im Vorbeigehen« an einem der Disponierer, die in Märkten, Kaufhäusern und Läden an den Ausgängen angebracht waren.

      Global Observation and Trace Tracking System – am Namen des Systems hatte ein ganzes Angestelltenheer des Informationsministeriums getüftelt. Auch wenn es im Englischen keine umgangssprachliche Entsprechung dafür gab, so ließ sich doch aus den Anfangsbuchstaben das Akronym ›GOTT‹ ableiten, ein Abstraktum, welches den Menschen von Anbeginn Ehrfurcht abverlangte und ihnen nun die neue Allmacht vergegenständlichen sollte. Und in der Tat, mit der Inbetriebnahme des Systems sah und wusste sein Betreiber, der Staatsschutz, alles über eine Person, konnte walten und richten, so, wie es in den Vorstellungen Gläubiger nur der Schöpfer selbst vermochte. Als das System, seinem Allgewalt suggerierenden Namen gerecht werdend, weltweit zum Einsatz kam, wurde das Kurzwort ›GOTT‹ auch in andere Sprachen übernommen, wenngleich es seiner Sinnfälligkeit aus dem Deutschen dort entbehrte.

      Anfangs stieß ›GOTT‹ auf erhebliche Ressentiments bei der Bevölkerung. Denen begegnete man zuerst mit den üblichen Mantras, wie etwa »Zu Ihrer eigenen Sicherheit« oder »Fortschritt durch den Chip«. Derlei Slogans wären leicht als Täuschungsversuche zu entlarven gewesen, doch die Anfälligkeit großer Teile der Gesellschaft für seligmachendes Heilsgefasel spielte ihren Verbreitern unwillkürlich in die Hände. Nach einer »vertrauensstiftenden Phase« schließlich wurde das Tragen des Chip ohne weitere Debatten per Gesetz verordnet. Unbestritten wartete dieser mit einigen Features auf, die den Alltag vereinfachten. Tatsächlich aber ließ sich damit dessen originärer Zweck, nämlich die umfassende Kontrolle der Privatsphäre, unkompliziert verschleiern.

      Das Konzept sah vor, dass jeder Person, neben ihrem persönlichen Profil, ein digitaler Identifikationscode zugeordnet und auf ihrem Chip hinterlegt war. Der Chip stand in permanentem Austausch mit einem Satellitensystem, den sogenannten Fahndungssatelliten, kurz »Fahnder« genannt. Alle ermittelten Daten wurden live an die Rechenzentren der Sicherheitsorgane gesendet, dort elektronisch ausgewertet und in einer Datenbank gespeichert, auf das auch Brandt im Rahmen seiner Ermittlertätigkeit zugriffsberechtigt werden konnte. Anhand dieser Informationen waren Polizei und Militär imstande, Aufenthalte und Wege einzelner Personen, genau wie Menschenansammlungen, zu jeder Zeit und an jedem Ort festzustellen.

      Das neue Verbrechensbekämpfungsgesetz sah man in der Regierung als erforderlich an, weil sich infolge der Deindustriealisierung die Armut auch in den bislang besser situierten Schichten ausgebreitet hatte. Der Mittelstand war zusehends verarmt, und als die Banken begannen, Konten und Eigenheime der Bürger zu pfänden, entdeckten diese ihre Gemeinsamkeiten mit dem Prekariat. Eines Tages standen sie gemeinsam auf der Straße. Wöchentlich traf man sich in allen größeren Städten zu Protestmärschen, die oftmals dann, wenn die Sicherheitskräfte einschritten, in blutigen Straßenschlachten endeten. Am Ende waren die zuständigen Organe kaum mehr in der Lage, ihre Aufgabe zu bewältigen.

      Um bei militärischen Einsätzen im Inneren stets die höchstmögliche Effizienz zu erzielen, hatte der Staatsschutz die alte Idee, die Bevölkerung per Chip zu erfassen und zu kontrollieren, wieder aus der Schublade gekramt. Versammlungen waren jetzt schon in ihrer Entstehung zu erkennen und befähigten das Militär, bei sich anbahnenden Ausschreitungen schnell und wirksam gegenzusteuern.

      Bei der Einführung von ›GOTT‹ setzte die Regierung insbesondere auf das Vertrauen der jungen Leute. Und in der Tat war die Jugend auch schnell begeistert ob der neuen Möglichkeiten, die der künstliche Körperteil bot. Ohne die wirklichen Absichten seiner Betreiber zu hinterfragen, war man bereit, für einige innovative Spielereien sein Privatleben offenzulegen. Die Erfahrungen der Vergangenheit noch im Gedächtnis war es die ältere Generation, die kritisch bis ablehnend auf den Chip reagierte. Es hatte sie damals nicht unvorbereitet getroffen, als die Erfassung ihrer Daten und das Ausspionieren ihrer Privatsphäre Stück für Stück legalisiert und schließlich zur Normalität geworden war. Doch anstatt sich zu widersetzen, und wäre es nur durch den Verzicht auf einigen elektronischen Flitter gewesen, huldigten sie den Mainstreamclaqueuren. Mehr noch: Sie fanden es zunehmend unvernünftig, sich nicht jedem neuen vermeintlichen Komfortmuss zu unterwerfen. Was ein gesunder Verstand anfangs noch instinktsicher als nutzlos oder schädlich beurteilt, deutet ein durch methodische Einflüsterungen ermüdeter Verstand irgendwann als logisch und unverzichtbar um. Eine menschliche Schwäche, die sich politische Treiber und Trommler gern zunutze machen. Und so waren sie dem Apparat, dessen berechnende Radikalität sie regelmäßig unterschätzten, einmal mehr in die Falle gelaufen.

      ›GOTT‹ war zuerst ein deutsches, später dann ein Projekt der internationalen Konföderation, in dem Deutschland die Pionierrolle zukam. Angesichts der »guten Erfahrungen«, die man hier gesammelt hatte, verordnete man sehr schnell zuerst im restlichen Europa, dann in Nordamerika, Russland und den bevölkerungsreichen ostasiatischen Ländern seinen Einwohnern den Chip. Vier Jahre später war ›GOTT‹ weltweiter Standard. Einzig einige südafrikanische Staaten lehnten eine Verchipung ihrer Bevölkerung ab, der Grund, warum die Konföderation sie fortan boykottierte. Grenzübertritte in und aus diesen Ländern waren seither streng reglementiert, ebenso wie Handels- und diplomatische Beziehungen weitgehend eingestellt wurden.

      Jeder Schritt, jede Bewegung gleich welcher Art, jeder Kontakt zu einem Lesegerät, jede gesendete oder empfangene Nachricht, jede Kontobewegung, jede Besorgung, selbst jeder Restaurantbesuch erzeugte Daten, die pausenlos vom Chip via Satellit zu einem der Zentralrechner übertragen und dort ausgewertet wurden. ›GOTT‹ verband als erstes intelligentes Spähsystem