Gerald Förster

Galisia


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zu grübeln, auf welchem Weg der Täter in das Schloss gekommen war. Dazu drängte sich ihm immer heftiger die Frage auf, wer denn eigentlich die nötige Chuzpe für eine solch unerhörte Tat besitzen konnte. Auch wenn sich das Trauma tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben hatte, waren doch immerhin schon zehn Jahre seit dem großen Sterben vergangen. Die spontane Wut eines trauernden Familienvaters käme nach der langen Zeit als Motiv also eher nicht in Frage. Außerdem, so überlegte er, wer das getan hat, muss über technische Möglichkeiten verfügen, die wir nicht kennen, über ausreichende Geldmittel, über Beziehungen in die höchsten Kreise oder über alles zusammen. Dennoch, den Gedanken, den Mörder unter den Souveränen zu suchen, ließ er beizeiten wieder fallen. Das waren allesamt Krähen, die sich gegenseitig die Augen nicht aushackten. Sie hatten die Körner untereinander aufgeteilt, mit unterschiedlichen Anteilen zwar, aber jeder konnte auf seine Weise zufrieden sein. Und auch die Idee, dass der Täter den verarmten Schichten entstammte, verbannte er bald wieder aus seinen Überlegungen. Einem Vertreter dieser lethargischen, grauen Masse war ein derartiger Kraftakt einfach nicht zuzutrauen.

      Vermutlich waren an der Ausführung dieser Tat mehrere Personen beteiligt. Denn hier war in jeder Hinsicht ein Aufwand betrieben worden, den ein Einzelner kaum hätte leisten können. Waren der oder die Täter vielleicht von der Konkurrenz beauftragte Killer? Auch hatte man schon von asiatischen Kämpfern mit unfassbaren Talenten gehört, Ninja, die wie Schatten angeflogen kamen, um dann in Sekundenschnelle mit einem Taschenmesser ein ganzes Regiment niederzumetzeln. Blödsinn, dachte er grinsend. Oder war es der Einstand einer bislang unbekannten extremistischen Vereinigung? Auch unwahrscheinlich. Zu dicht hatte der Geheimdienst seine Netze gewebt, als dass sich eine Terrorzelle unbemerkt hätte organisieren können. Oder war es am Ende gar der Geheimdienst selbst? Man sagte über Avaran, Kanzler und Regierung hätten ihm aus der Hand gefressen. War er über seine eigenen Allüren gestolpert?

      »Vierzehn Uhr im Konferenzraum, Lagebesprechung!«, platzte Gernot von Stauffen in Brandts Überlegungen.

      »Die Schwarzen sind auch dabei?«

      »Die insbesondere. Der Kanzler möchte persönlich über die Ermittlungen informiert werden. Er ließ verlauten, dass ihn mit Rikard Avaran etwas ganz besonderes verbunden habe.«

      »Das glaube ich aufs Wort.«

      Von Stauffen hatte sich schon wieder zum Gehen umgewandt, als Brandt noch etwas einfiel. »Wir haben da einen Neuen, einen Kommissar Neideck. Er ist Kallenbach zugeteilt. Ein talentierter Bursche, wie ich meine, aber was wirkliche Polizeiarbeit angeht ... Ich finde, ein paar praktische Erfahrungen könnten seinen Ermittlerhorizont erweitern helfen. Ich hätte ihn gerne dabei.«

      »Ihre Entscheidung. Meinen Segen sollen Sie haben«, antwortete der Staatsanwalt lakonisch.

      Die Besprechung begann pünktlich. Neben von Stauffen und Brandt, nebst einem über die unerwartete Berufung überraschten Polizeinovizen Neideck, waren auch Uhland, Kallenbach sowie die Agenten Schmidt und Schmidt - die vom Geheimdienst hießen alle Schmidt – anwesend. Außerdem hatte man die Fallanalytikerin und Kriminalpsychologin Thea Voss hinzugebeten. Früher hatte sie für die Kripo Koblenz Täterprofile erstellt, heute arbeitete sie hauptsächlich in beratender Funktion. Ihre Gabe, das »Wesen des Bösen« analytisch zu durchdringen, hatte die Aufklärungsquote im Rhein-Mosel-Dreieck kontinuierlich und zu höchster Zufriedenheit der Staatsanwaltschaft nach oben getrieben.

      Voss war eine auffallend attraktive Frau, wohl irgendwo zwischen ihrer vierten und fünften Lebensdekade. Brandt hatte sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Sie sieht verdammt gut aus, entsann er sich augenblicklich. Nordischer Typ, aufgeweckte, stahlblaue Augen und eine außergewöhnlich gut gelungene Komposition aus Model und Rubensfrau. Ihr Exgatte hatte sich nach ein paar Ehejahren entschieden, für den Staatsschutz zu arbeiten. In diesem Beruf erwartete man von ihm, und freilich auch von seiner Angetrauten, absolute Gefolgschaft. Sie aber war eine couragierte Frau, die kein Blatt vor den Mund zu nehmen bereit war und offen kritisierte, was sie für kritikwürdig hielt. Der Autorität zu hofieren war für sie nie eine Option. Auch nicht dem Mann an ihrer Seite zuliebe. Sie hatte ihm nicht nachgetrauert. Einer, der sich auf einen unredlichen Pakt einließ, hätte auf Dauer ohnehin nicht zu ihr gepasst. Einige Male schon hatte Brandt das Gefühl, ihr nicht ganz gleichgültig zu sein, aber wahrscheinlich, so argwöhnte er, war das nur eine seiner männlichen Eitelkeit geschuldete Einbildung.

      Die Runde wurde durch Maximilian Ulfkötter komplettiert. Ulfkötter galt als einer der Altmeister des deutschen Journalismus und war bis heute ein ebenso kluger wie eloquenter Infragesteller der herrschenden Ordnung. Bis zuletzt hatte er sich gegen die Verstaatlichung der Presse gewehrt. Am Ende war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich dem Druck der Informationsbehörde zu beugen und, wollte er weiter seinem Beruf nachgehen, für das Regierungsblatt WAHRHEIT zu schreiben. Mit erheblichen Bauchschmerzen hatte er das Angebot akzeptiert, die Redaktion einiger Lokalausgaben im Rheinland zu übernehmen. Weil sich dort aber kein Raum für investigativen, ehrlichen Journalismus fand, schrieb er nebenher für eine Untergrundzeitung. Trotz aller Drohungen und Repressalien seitens der Behörden war er bis heute ein unermüdlicher Verfechter des aufrechten Wortes geblieben. Er war sich bewusst, dass der Geheimdienst ihn beobachtete, und manchmal wunderte er sich, dass man ihn nicht längst aus dem Verkehr gezogen hatte. Er erklärte es sich als strategischen Schachzug der Behörden, ihm in der sonst reglementierten Presselandschaft so etwas wie die Rolle eines intellektuellen Ventils zuzugestehen. Zehn Jahre zuvor hatte er im EuroPharm-Skandal recherchiert und dabei das, wie er selber behauptete, größte Verbrechen aller Zeiten aufgedeckt. Dass man heute ausgerechnet ihn, den unbequemen Journalisten, zu einer Einsatzbesprechung der Polizei zitiert hatte, empfand nicht nur er als merkwürdig. Wahrscheinlich, so mutmaßte er, wollte der Staatsschutz ihn zu seinen damaligen Recherchen befragen, oder er sollte instruiert werden, wie der Tod Avarans in der Presse darzustellen sei.

      »Ich denke, wir können beginnen«, eröffnete von Stauffen die ungewöhnlich zusammengesetzte Runde. »Zuerst möchte ich unsere Gäste begrüßen. Herr Schmidt und ... äh ... Herr Schmidt arbeiten für den Staatsschutz. Sie werden uns bei den Ermittlungen unterstützen.«

      Unterstützen oder auf die Finger sehen, fragte sich Brandt. Freilich war er sich darüber im Klaren, dass man sich gegenüber diesen Zeitgenossen besser in Zurückhaltung übte, eine kleine Spitze konnte er sich dennoch nicht verkneifen. »Sagen Sie, tragen Sie zufällig den gleichen Namen oder sind Sie miteinander verwandt?« Vielleicht war ihm dieser Gedanke auch spontan gekommen, weil sich die beiden tatsächlich zu ähneln schienen. Oder lag das an ihrer uniformen Kleidung?

      »Darf ich Ihnen Hauptkommissar Brandt vorstellen«, kam von Stauffen mit einem strafenden Seitenblick in dessen Richtung den Agenten zuvor. »Er ist der leitende Ermittler.«

      »Auf eine gute Zusammenarbeit, Herr Brandt«, antwortete einer der Staatsschützer unterkühlt. Sein prüfender Blick wanderte über die Anwesenden. Bei dem jungen Mann mit dem Sommersprossengesicht blieb er hängen. Schon beim Hereinkommen war Neideck aufgefallen, wie dieser Schmidt ihn angestarrt hatte. Während er vorhin noch Erschrockenheit in dessen Gesicht zu erkennen glaubte, spiegelte sich jetzt eine seltsame Besorgnis darin wider. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtet Neideck ihn. Kennen wir uns, fragte er sich. Dann sah er ihm offen ins Gesicht und war einen kurzen Augenblick lang verwirrt. Er durchkramte alle Schubläden, in denen er die Erlebnisse früherer Tage verstaut hatte. Bis er eine alte, eingestaubte Kindheitserinnerung gefunden zu haben glaubte, die aber, wie hinter einer Schattenwand, zu einem konturlosen Flimmern verschwamm. Wer bist du nur, fragte er sich erneut, aber sein Gedächtnis blieb ihm die Antwort schuldig. Eine Verwechslung, sagte er sich schließlich. Nur eine Verwechslung.

      Während Neideck noch seiner nebulösen Gedankenreise nachhing, ergriff von Stauffen wieder das Wort. »Herr Kallenbach, bitte fassen Sie für uns den Stand der kriminaltechnischen Ermittlungen zusammen.«

      Der Mann vom Erkennungsdienst erhob sich von seinem Stuhl und stützte sich mit den Fäusten auf den Tisch. »Es gibt mehr Fragen als Antworten. Deshalb lassen Sie mich direkt zum springenden Punkt kommen: Um null Uhr haben die Fahnder ein irreguläres Signal aus Avarans Schlafraum empfangen. Mit irregulär meine ich, es wurde nicht identifiziert. Auch war es signifikant schwächer als üblich. Der mutmaßliche Täter hat sich, wie