Gerald Förster

Galisia


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er und musste sich dabei räuspern, »ich hätte es an der ein oder anderen Stelle anders formuliert, aber grundsätzlich ist das alles richtig.«

      Von Stauffen glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Was war das, der Staatsschutz auf einem Canossagang? Ungläubige Blicke schwirrten durch den Raum. Man sah sich an und hob die Schultern. Ulfkötter aber war alles andere als überrascht. »Also bitte! Das ist doch nichts Neues. Genauso hatte ich es damals in meinen Artikeln geschrieben und so ist es seitdem auf verschiedenen Webseiten nachzulesen.«

      »Sie haben recht, wir haben unsere Erkenntnisse mit den Ihren verglichen und in den meisten Punkten Übereinstimmung festgestellt«, bemerkte Schmidt wie selbstverständlich.

      »Was meinen Sie mit ›meinen Erkenntnissen verglichen‹? Alle meine Unterlagen sind verbrannt.«

      »Das ist nur teilweise richtig. Vor der Zerstörung Ihres Büros haben wir alle für uns wichtigen Dokumente gesichert.«

      »Also doch ... Sie ...« Ulfkötter fuhr erzürnt hoch, um einen Augenblick später wie ein altersschwacher Greis und mit ausdruckslosem Blick auf seinen Stuhl zurückzusinken.

      »Sie galten als Abweichler und der Staatsschutz hat seine Arbeit getan«, konstatierte Schmidt kühl.

      Der Journalist starrte in das Wasserglas vor sich. »Bin ich deshalb hier?«, stöhnte er. »Eine Machtdemonstration? Sie wollen sich meinen Gehorsam sichern?«

      Die unerwartete Offenherzigkeit eines Angehörigen der für seine Verschlagenheit berüchtigten Geheimpolizei hatte Erstaunen ausgelöst. Auch Brandt sann nach einer Antwort. Das klang nicht nach Unterstützung in einem heiklen Fall, das klang nach Beichte. Nein, noch anders, das klang nach Verrat. Aber was konnte diese Agenten dazu gebracht haben, die Autorität ihres Arbeitgebers zu untergraben? Verfolgten die beiden Schmidts eigene Ziele? Er wartete ab, ob Ulfkötter noch etwas sagen wollte. Der aber sah noch immer seltsam gleichgültig vor sich hin und schwieg. »Herr Schmidt, ich will nicht glauben, dass sich der Geheimdienst über Nacht zum aufrechten Partner der Öffentlichkeit gewandelt hat. Ich gehe wohl auch nicht fehl in der Annahme, dass Ihr Bekenntnis weder mit Ihren Vorgesetzten abgestimmt ist noch dass es eine neue offizielle Version zu den tragischen Ereignissen gibt. Ihr Eingeständnis kann also nur ein Teil der Wahrheit sein. Was ist der wirkliche Grund für Ihren unverblümten Freimut?«

      Der Geheimagent schien verlegen. »Sie haben Recht«, gestand er zögerlich. »Ich habe es bereits angedeutet: Avaran stand mir, sagen wir, nahe. Das muss Ihnen genügen.«

      »Ihr persönliches Interesse ist so groß, dass Sie sich erpressbar machen?«, fragte Voss ungläubig.

      »In den Augen der Bevölkerung mag er ein Monster sein. Man unterstellt ihm allein die Schuld an der Ausbreitung des Virus. Ich aber sage, er wird zu Unrecht verteufelt. Man macht ihn zum Sündenbock für ...« Er brach den Satz ab. Für einen kurzen Moment nahm seine Miene beinahe weinerliche Züge an. »Er liebte das Geld, aber ich ...« Schmidt stockte erneut. Nur einen Augenblick später fand er in seinen gewohnten Tonfall zurück und sein Blick verwandelte sich wieder zu Eis. »Lassen wir das. Und was meine Erpressbarkeit betrifft, Frau Voss, halte ich das Risiko für überschaubar. Unsere Warnung war ernst gemeint. Aber ich wiederhole sie gerne noch einmal: Wenn ich, egal von welcher Seite, höre, der Staatsschutz hätte aus dem Nähkästchen geplaudert, weiß ich, wo nach der Quelle zu suchen ist.« Wieder sah er dabei Ulfkötter drohend an. Der aber hielt seinem Blick stand, und die Gelassenheit, die er dabei ausstrahlte, verdutzte Schmidt.

      Von Stauffen sah sich abermals genötigt, beschwichtigend einzugreifen. »Das also war die Vorgeschichte. Aber wie kam es zur Katastrophe?«, fragte er und hoffte, damit die erhitzten Gemüter wieder auf Normaltemperatur zu bringen.

      Schmidt hielt den Journalisten noch immer mit durchdringendem Blick fest. »Weil die gesamte Pharmabranche letzthin nicht mehr die erhofften Gewinne erzielte, gönnte man sich eine Phase der taktischen Neuorientierung. EuroPharm war danach der erste Konzern, bei dem die alte Geschäftstüchtigkeit zu neuem Leben erwachte. Man erinnerte sich an die zuvor schon mehrfach erfolgreiche Strategie, änderte sie aber dahingehend um, dass man ein vermeintlich marktreifes Heilmittel, das bisher noch hinter einer Panzerschranktür ruhte, als Ausgangspunkt für seine Planung hernahm. Es fehlte nur noch eine passende Krankheit. Ich komme später darauf zu sprechen.«

      Ulfkötter schüttelte zynisch grinsend den Kopf, was Schmidt geflissentlich übersah. Ungerührt fuhr er fort. »Etwa ab dem Jahre 2010 experimentierten Forscher in einem Hochsicherheitslabor der Rotterdamer Erasmus-Universität mit dem H5N1-Virus. Sie wollten herausfinden, ob er tatsächlich das Potential hat, eine Pandemie auszulösen. Dieser Grippevirus kann für Menschen zwar gefährlich werden, ist aber normalerweise kaum ansteckend. Durch gezielte Mutationen wurde er derart verändert, dass er nun durch Tröpfcheninfektion übertragen werden konnte. Das bedeutete, ein banaler Schnupfen konnte bereits zum Tode führen. Ohne ein sofort verfügbares Gegenmittel wären Millionen Opfer die Folge. Die Erasmus-Universität, die von der holländischen Regierung keine Unterstützung mehr erhielt und deshalb in finanziellen Nöten schwebte, geriet in Avarans Visier. Eine großzügige Spende seines Konzerns rettete sie vor dem finanziellen Aus. Quasi aus Dankbarkeit verkaufte man dem Pharmariesen sein Virenlabor einschließlich aller Forschungsergebnisse. Der mutierte Rotterdamer H5N1 war praktisch eine tickende Bombe. Während es all die Jahre gelungen war, ihn vor etwaigen Terroristen zu schützen, wollte Avaran aus der Arbeit der holländischen Wissenschaftler Profit schlagen. Und zwar in einer Größenordnung, von denen kein Großindustrieller bisher zu träumen gewagt hatte. Hinter verschlossenen Türen gebar man die Idee, den Virus freizusetzen, um dann mit seinem Gegenmittel, das den Namen Eutamidin bekommen hatte, parat zu stehen. Man wäre weltweit als einziger imstande gewesen, ein Heilmittel binnen kurzer Zeit und in ausreichenden Mengen zu liefern. Avaran sah keine Gefahr. Normalerweise dauert es mehrere Monate, bis eine Krankheit sich ausbreitet. Genug Zeit für die Behörden, sich mit Eutamidin zu bevorraten und die Bevölkerung impfen zu lassen. Er brachte außerdem gesetzliche Zwangsimpfungen ins Spiel, und dank seiner Beziehungen bis in die inneren Zirkel der Politik hätte er die vermutlich auch durchgesetzt. Das versprach Gewinne in Billionenhöhe. Gleichzeitig würde man als Retter der Menschheit dastehen. Der Plan schien perfekt.

      Mit Eutamidin war ein Breitband-Grippemittel entwickelt worden, das gegenüber den herkömmlichen Medikamenten eine wesentlich aggressivere Wirkung auf Viren besaß. Damit war es für Menschen mit erhöhter Grippeanfälligkeit, in erster Linie also für Kinder und Ältere, geeignet. Die Entwicklung des Medikaments hatte viele Millionen verschlungen. Jetzt sah man die Zeit gekommen, die Ernte einzufahren. Im Labor war seine Wirksamkeit bereits nachgewiesen. Als nächstes sollte eine erste Testreihe am lebenden Objekt folgen. Dafür hatten sich im ersten Schritt zwölf Studenten der Humboldt-Universität zur Verfügung gestellt. Man injizierte ihnen den mutierten H5N1, um ihn anschließend mit Eutamidin wieder zu bekämpfen. Aber es wirkte nicht wie erhofft.«

      »Was genau ist schiefgelaufen?«, wollte Brandt wissen.

      »Darüber wurde viel spekuliert. Nach Ansicht einiger Fachleute lag es an seiner eingeschränkten Wirkung auf die Zytokine, also unsere Zellwachstumsregulatoren. Zytokine haben unter anderem die Aufgabe, das Immunsystem über eine feindliche Invasion zu informieren. Dabei kann es zu einer Überreaktion des Körpers kommen, einer abnormen, sogar lebensgefährlichen Entgleisung unseres Abwehrnetzes. In der Regel sind Grippemedikamente Kombiimpfstoffe, bestehend aus einem antiviralen Mittel gegen den Erreger und einem Hemmer gegen eben diese Abnormität, den sogenannten Zytokinsturm, der unter Umständen verheerendsten Folge einer Grippe-Infektion. Der zytokinhemmende Effekt wurde bei Eutamidin deutlich abgedämpft, um für abwehrschwache Patienten eine bessere antivirale Wirkung zu erzielen. Für die Probanden, die allesamt jung und kräftig waren, offenbar zu deutlich. Ein älterer Mensch oder ein Kind hätten wahrscheinlich gute Überlebenschancen gehabt, für die Jugendlichen aber bedeutete es das Todesurteil. Sie waren von den Auswirkungen des Zytokinsturms ungleich schwerer betroffen. Ihre Immunreaktion verlief signifikant heftiger als erwartet, ihr Abwehrsystem lief Amok. Das Unglück nahm seinen Lauf. Tom Unterberger, einer der infizierten Studenten, war das erste Opfer der Holländischen Variante der Influenza A/H5N1, die später als die sogenannte Große Grippe in die Geschichte einging. Vier Tage, nachdem ihm der Virus