Jasmin Schneider

Sag mal, Lara


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eigenen Kind reden ohne sich dermaßen aufzuregen? Ihre Familie würde sich ihrer schämen.

      Lara seufzte und nahm ein paar Mal tief Luft. »Na ja, es wäre schön gewesen, wenn du mir vorher Bescheid gegeben hättest, das ist alles.«

      Jetzt ärgerte sie sich noch mehr. »Es ist auch mein Geld, Lara! Erinnerst du dich? Der Typ, der damals den Unfall hatte… du warst, glaube ich, dabei« - eine bittere Pause, »Rudolf Morgenstern, das war mein Mann! Alles klar?«

      »Ja, ich habe überlebt, schon klar«, Laras Stimme versagte.

      Carla spürte einen Stich im Herzen. Eigentlich war das einer der Sätze, den sie endgültig aus ihrem Repertoire streichen wollte. Aber in Situationen wie dieser, konnte sie meist nicht anders. Sie brauchte ihre ganze Kraft, Lara nicht offen die Schuld an seinem Unfall zu geben. Hätte die dumme Kuh nicht dringend Eislaufen müssen, dann wäre das alles niemals passiert. Aber wie sagte ihr Therapeut so schön? Das Kind kann nichts dafür, der Vater ist einem Tier ausgewichen und mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Brückenpfeiler gedonnert. Er war sofort tot. Das Kind hatten sie retten können.

      Carla schluckte schwer. Ihr Herz brannte noch immer, wenn sie daran dachte, es tat weh – auch jetzt noch, nach neunundzwanzig Jahren.

      Aus dem Telefonhörer in ihrer Hand tönte das Besetztzeichen, neben ihrem Herzen das einzige Geräusch, das sie in diesem Moment wahrnahm. Die Frage war nicht, wie lange sie das noch aushielt, die Frage war, wozu sie es tat. Nicht, dass Lara sich selbst und ihre Bedürfnisse jemals vor die eines anderen Menschen gestellt hätte – bestimmt nicht – aber sie merkte ganz tief drinnen, dass etwas nicht stimmte. Ganz kurz nach dem letzten Mal, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte, fand sie sich in einer Klinik wieder. Man hatte sie ruhig gestellt und an ein Bett gebunden. Ihre Freundin Renate erzählte ihr später, sie habe wild um sich geschlagen, und nicht mehr aufgehört zu weinen. Renate und Lotte Morgenstern seien deshalb zu dem Entschluss gekommen, es sei besser den Notarzt zu verständigen. Die damals zehnjährige Lara durfte ganze vier Monate nicht mehr nach Hause.

      Es war nicht auszudenken, was geschah, wenn ihr das heutzutage passierte! Mit dem Gewicht in der Öffentlichkeit zusammenzubrechen und weinend um sich zu schlagen, machte vielleicht eine Ruhigstellung, aber sicher keinen Abtransport möglich.

      Es hatte geklingelt. Schon dreimal. Ganz mechanisch drückte Lara den Türöffner. Sie wartete in der offenen Tür, aber es kam niemand. Sie wollte schon nach unten laufen und nachsehen, wer es war, als jemand unverschämt gegen eine Tür im hinteren Bereich der Loft hämmerte.

      Das Klopfen kam vom Lieferanteneingang, der den Lagerteil ihres Ateliers mit dem zweiten Aufgang verband. Der zweite Aufgang besaß einen Lastenaufzug. Es gab nur einen einzigen Menschen, der sie immer wieder zwan,g ihn dort einzulassen, wahrscheinlich weil er zu faul war die letzten fünf Meter in den dritten Hof zu laufen: Der Postbote.

      Sie rannte hinüber. »Wie oft muss ich Ihnen eigentlich noch sagen, sie sollen den dritten Hinterhof benutzen?« brüllte sie außer sich vor Abneigung. Sie hasste diesen Briefträger wirklich. Er war ein ungehobeltes Stück Dreck.

      »Bost!«, schallte die Antwort hinter der verschlossenen und dreifach gestärkten Tür. »Einschreibe.«

      Gott, was für ein Blödmann! Wie lange lebte er denn nun schon in Deutschland, dass er die einfachsten Begriffe nicht richtig aussprach… Bost… so ein Unsinn!

      Wenn sie niemanden beim zweiten Eingang erwartete – also ungefähr 360 Tage im Jahr – war er aufgrund des immer geringer werdenden Lagerplatzes im Atelier auch nicht so einfach zugänglich. Lara hatte Mühe, die großen Leinwände aus dem Weg zu räumen, die meisten davon musste sie hinüber in den Werkstattteil schleppen. Sie hätte den Postboten am liebsten erschlagen.

      Fünf Minuten später hatte sie endlich genug Platz geschaffen, die schwere Tür zu öffnen. Der ungehobelte Klotz war inzwischen schon wieder verschwunden. Seine Schritte klangen von ganz unten.

      »Hallo!?«, brüllte Lara. Sie war außer sich. Ganz sicher würde sie ihm nicht nachrennen.

      »Bost!«, rief der Idiot wieder.

      »Sie haben doch gehört, dass ich die Tür aufmache, oder?«

      Lara schaute vorn bei der Treppe die Flucht hinunter. »Was ist nun?«

      »Einschreibe«, rief seine raue Stimme.

      Lara hörte einen gehässigen Unterton. Dieses Arschloch erwartete doch tatsächlich, dass sie zu ihm hinunter lief!

      »Okay, ich gebe bei Post ab, Frau Lara.«, schallte es jetzt und er lief weiter.

      »Sie werden mir jetzt auf der Stelle die Post hier herauf bringen!«

      »Eine schäne Tag noch, Frau Lara!«. Unten fiel das Tor ins Schloss.

      Lara nahm all ihre Beherrschung zusammen und schritt aufrecht die Treppen hinunter. Im zweiten Hof stellte sie den viel zu klein geratenen, in gelb gekleideten Schwarzen. Er grinste blöd und legte dabei weiße, makellose Zähne frei.

      »Diesmal kommen Sie nicht so einfach davon«, schnaubte sie wütend. »Ich werde meinem Freund von Ihren Unverschämtheiten erzählen. Machen sie sich auf etwas gefasst!« Wütend riss sie ihm Stift und Block aus der Hand und quittierte für das Einschreiben. Es war vom Jugendamt Pankow. Ihr Herz setzte für eine Millisekunde aus.

      Der Postbote lächelte jetzt nicht mehr. Er verrenkte sich und blickte hinter Laras massige Gestalt. Als er dort niemanden erblickte, sah er erst Lara, dann den Umschlag an. Nun grinste er wieder. »Schäner Tag noch, Frau Lara.« Dann tänzelte er leichtfüßig davon.

      Lara fasste sich nach einigen Minuten tiefen Atmens. Der Brief in ihrer Hand war scheinbar schwerer geworden. Ganz langsam öffnete sie ihn auf dem Rückweg zum Lasteneingang. Wie Sabine Kaiser es ihr vor einigen Tagen voraus gesagt hatte, enthielt das Schreiben den positiven Bescheid ihres Adoptionsantrages.

      Der Weg zu Fuß von der Hufelandstraße über die Danziger hinüber zur Scher-Straße dauerte etwa eine Viertelstunde. Wenn man schnell ging oder gar lief, zehn Minuten. Nur zehn Minuten für die Reise zwischen zwei Welten. Die eine reich an Farben, blühenden Pflanzen, die üppig von neu angebauten Balkons herunterwucherten. Die andere – jenseits der dicht befahrenen Danziger Straße – das Grau in Grau größtenteils frustrierter Existenzen.

      Jackie machte sich gerne vor, das Überqueren der Danziger als eine Art Erlösung zu erleben. Schließlich hatte sie drüben ihre halbe Kindheit verbracht. Zumindest bis zu dem Tag, an dem ihr Säufervater Jackie und ihre Mutter halb tot geschlagen hatte. Es war so schlimm, dass er dafür sogar verurteilt worden war und für fünf Jahre in den Bau wanderte. Als sie wieder auf den Beinen war, kündigte ihre Mutter die Wohnung in der Scher-Straße, die nur wenige Häuserblocks von Jackies jetziger Unterkunft entfernt lag. Die Tussi von der Fürsorge hatte ihnen was in Mitte organisiert. Nach sechs Monaten ist die Alte abgehauen. Jackie hat sie da gelassen.

      Eins wusste Jackie genau, ihre Sache würde sie besser machen, auch wenn es manchmal schwer fiel. Gerade heute, wo Jonnie wieder einmal ganz besonders trödelte. Er hüpfte wie ein hirnamputierter Hase hinter ihr her, in den Händen irgendwelches Mädchenzeug, das er – wo auch sonst – bei der Dicken gebastelt oder gemalt, ausgeschnitten oder sonstwie zusammengefriemelt hatte.

      »Sag mal, kannst du auch mal Sachen machen, die Jungs in deinem Alter machen?«, Jackies kleine Stimme überschlug sich gleich zu Anfang.

      »Was machen denn Jungs in meinem Alter, Mama?«, fragte er debil.

      Sie hatten endlich die Danziger Straße erreicht und Jackie stapfte viel zu schnell für Jonas über die breite Straße. Auf dem Mittelstreifen wartete sie ungeduldig. Als er endlich an ihrer Seite war, war die Ampel zur anderen Straßenseite wieder auf rot gesprungen. »Nenn mich nicht Mama!«, blaffte sie, »wie oft soll ich dir das noch sagen?«

      Jonas antwortete nicht. Er sah nur bockig zu Boden.

      Das regte Jackie so auf, dass sie hinzufügte: »Die Dicke wird erst Ruhe geben, wenn du schwul geworden bist.«

      Jonas