Frank Sommer

Im Sturzflug nach Merkwürdistan


Скачать книгу

sich die ersten Beteiligten langsam größere Sorgen um meinen seelischen Gesundheitszustand. Ich hingegen war glücklich. Die großen Düsendinger interessierten mich viel mehr als Vereinsvorsteher Kalles Sportflugzeuggurken und über die reine Fliegerei hinaus ließ sich am Flughafenzaun sitzend mit dem Kerosin auch ein wenig der Duft der großen weiten Welt schnuppern. Da rollte zum Beispiel mal ein Jumbo der Iran Air an mir vorbei. Wahnsinn, Iran – wer sitzt da bloß drin? Wo genau ist der Iran und wie ist es da bloß? Ob es da anders riecht? Ist es da gefährlich? Dies jemals herauszufinden, lag jenseits meiner Vorstellungskraft. Mich plagten damals anstehende Mathearbeiten und auch Mädchen nicht ganz so sehr wie meine Altersgenossen, da ich eher auf das Anstarren von Flugzeugen abgefahren bin, dieser Umstand wurde mir ganz langsam klar.

      Einmal irrte ich ziellos durchs Flughafenterminal und traf durch Zufall meine alte Klassenlehrerin aus der Grundschule. Gemeinsam blickten wir auf einen großen Ferienflieger und sie erzählte mir, dass sie damit vor ein paar Monaten nach Kanada geflogen sei, um sich das bunte Laub des Indian Summer anzusehen. In diesem Moment mutierte sie vom Erzfeind zur Göttin. Ein Langstreckenflug, so etwas durfte ich noch nie genießen. Kanada – das klang für mich weiter weg als der Mond und der Gedanke, die Fliegerei und fremde Länder zu kombinieren, hörte nicht auf, an Attraktivität zu gewinnen. Irgendwann im fortgeschrittenen Teenageralter war es dann tatsächlich soweit. Die Eltern zogen die Spendierhosen an und der erste Langstreckenflug stand auf dem Programm: im Jumbo in die USA. Ja, meine ersten Freundinnen hatte ich damals zwar trotz meines Fetischs auch schon gehabt, aber, hey, das war doch alles nicht so wichtig – jetzt rief die große weite Welt! Und es kam so, wie es kommen musste – die erste Reise wirkte auf mich wie eine ungeahnt große Dosis von der süßen Frucht, ohne die ich nicht ich gewesen wäre. Langsam kam nun auch die Zeit, in der man sich Gedanken über seine Wünsche zum beruflichen Werdegang machen musste. Ein wenig Bedenkzeit hatte ich noch während meines einjährigen Zvildienstes am Flughafen, aber dann wurde es ernst. Als Pilot zu fliegen hatte ich ja bereits dankend abgelehnt und dies sollte mich auch später nicht mehr interessieren. Was blieb also? Klare Antwort: keine Ahnung! Während dieser Orientierungslosigkeit brachte mich ein Tipp der Berufsberatung der Arbeitsagentur auf die fatale Idee, Geschichte zu studieren. Der Anfang vom Ende meiner Selbstverwirklichung in Sachen Fliegerei und weiter Welt? Würde ich nun mein Leben damit verbringen, im staubigen Kellerarchiv eines Museums Aktenschränke zu bewachen? Das Studium für sich war soweit ganz interessant und nett, aber seinen eigentlichen Wert fand ich erst im fünften Semester heraus. Das Geschichtsstudium war nämlich – anders als etwa BWL oder Jura – so aufgebaut, dass man als Student viele zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten hatte. Da ich begann, die Fliegerei zu vermissen, bewarb ich mich nebenher auf einen Job im Flughafenmanagement und siehe da, ich hatte Glück und bekam ihn. Nun hatte ich zwar das Problem, einen Vollzeitjob und ein Vollzeitstudium, welches ich nicht abbrechen wollte, zeitlich miteinander in Einklang zu bringen. Dafür konnte ich mich nun aber unerwartet beruflich voll der Fliegerei widmen und – besser noch – fand mich plötzlich auf der einen oder anderen Dienstreise per Flugzeug wieder. Wie nett, ein bezahltes Hobby neben dem Studieren! Das Studium dauerte aufgrund dieser Umstände bis zu seinem Examen zwar ein paar Semesterchen länger, aber dafür hatte ich das Privileg, etwas tun zu dürfen, was ich liebte.

      Nach dem Studium arbeitete ich noch ein paar Jahre am Flughafen, bis sich die einmalige Chance auftat, dass ich mich als Trainer selbständig machen konnte, um Flughäfen in Sachen Flugsicherheit zu trainieren und zu beraten. Ein Job ausschließlich basierend auf Reisetätigkeit stand mir bevor. Ich würde ständig bequem um die Welt fliegen und mein Geld damit verdienen, neue Kulturen kennenzulernen und die süßen Seiten des Reisens kennenzulernen. Das musste das Paradies sein! War es aber nicht. Hatte ein paar Dinge übersehen. War mir leider erst später aufgefallen. Können Sie hier nachlesen. Aber lassen sich mich vorab versuchen, meine in den folgenden Jahren gewonnenen Erkenntnisse über das Leben des dauerhaft Berufsreisenden kurz und metaphorisch zu skizzieren. Es ist in etwa wie Ihr liebstes Fischgericht. Mit großem Appetit beginnen Sie, davon zu naschen, bis sie auf die erste Gräte beißen. Es schmerzt Sie sehr und für einen Moment fragen Sie sich, ob der Genuss die Schmerzen wert ist. Doch der Appetit überwiegt, Sie essen weiter und beißen bald in die nächste Gräte – diese schmerzt noch mehr und Sie hören kurz auf zu essen. Aber, verdammt, es duftet so verführerisch und Sie sind noch immer hungrig und so essen Sie weiter und immer weiter und die großen und kleinen Gräten bereiten Ihnen Schmerzen, können Sie am Ende aber nicht stoppen. Willkommen in meinem Leben! Von so mancher meiner großen und kleinen Gräten können Sie auf den folgenden Seiten lesen, aber auch von dem großen Appetit auf die duftenden Genüsse. All dies betreibe ich nicht ohne Angst, dass ich mich vielleicht doch auch mal so richtig fies an einer bösen Gräte verschlucken und daran ersticken könnte. Ein guter Kollege von mir, ein alter amerikanischer Pilotenhaudegen, staunte vor einiger Zeit nicht schlecht, als ich ihm von meinen ständigen Dienstreisen, Jetlags und Reisekatastrophen berichtete. „Es macht Spaß, aber es macht mich auch fertig. Bis ans Ende meiner Tage kann ich das so kaum durchhalten“, sagte ich ihm. „Och, das ist doch kein Problem.“, antwortete er. „Mach einfach noch zwei, drei Jahre genauso weiter, wie Du es jetzt machst und dann müsstest Du das Ende Deines Lebens auch als Enddreißiger eigentlich schon erreicht haben.“ Da war sie wieder, die gefürchtete letzte Gräte im falschen Hals.

      Sie mögen sich jetzt fragen, was denn eigentlich mein Problem ist. Es scheint, als würde ich auf Kosten anderer an jedem zweiten Wochenende die Welt umrunden und dies vermutlich noch nicht einmal in der Touristenklasse. Ich würde an Orte gelangen, die in einigen Fällen kaum ein anderer aus meiner Heimat jemals bereist hat und dann beklage ich mich über ein Haar in der Suppe? Lassen Sie mich Ihnen vorab zwei kleine Fischhappen servieren und Ihnen an diesen beiden kleinen Beispielen verdeutlichen, dass wir hier tatsächlich nicht von Haaren, sondern von kapitalen Gräten im Essen sprechen:

      Fischhappen Nr. 1: Ohne Pass kein Spass

      Eine meiner Dienstreisen sollte mich in die Vereinigten Arabischen Emirate führen, nach Abu Dhabi, um genau zu sein. Am Morgen des Reisetages, bemerkenswerterweise ein Samstag, kitzelte mich die Sonne aus dem Bett. Eingecheckt hatte ich schon am Vortag übers Internet, so dass mir meine Ankunft am Flughafen eine Stunde vor Abflug zeitlich absolut ausreichend erschien. Ich stellte mich beim Gepäckannahmeschalter brav in die Schlange und griff in die Tasche, in der sich stets mein Reisepass befindet. VERDAMMT, leer! Es war dieses „Das-kann-doch-nicht-sein-und-der-Boden-unter-meinen-Füßen-wird-soeben-weggezogen“- Gefühl und ich wusste im selben Moment, dass etwas nicht stimmte und ich meinen Reisepass nie wieder sehen würde. Da ich ständig durch die Gegend fliege, hat mein Pass einen festen und sicheren Platz in einer kleinen Tasche meines Koffers, der mich auf jeder Reise als Handgepäck begleitet. Den Pass aus anderen Gründen als zum Zweck einer kurzen Passkontrolle von diesem Ort zu entfernen, war stets tabu, was anders herum das lästige Suchen des Passes vor jeder Reise überflüssig machte. Jedenfalls kniete ich nun dort im Terminal des Flughafens vor meinem offenen Koffer, 60 Minuten bis zum Abflug. Was tun? In diesem Moment kamen zwei Bundespolizisten an mir vorbeigestreift. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch der naiven Vermutung aufgesessen, dass es an einem Weltflughafen selbst an einem Samstagvormittag vielleicht irgendeinen Beamten geben müsste, der in der Lage sein könnte, einen Ersatzpass auszustellen. Ein Irrglaube. Während ein Kollege von mir so nett war, sofort in mein Büro zu eilen und dort radikal, aber erfolglos alle Schubladen und Schränke durchwühlte, tat meine Frau zu Hause unseren privaten Schubladen und Schränken dasselbe an. 30 Minuten vor Abflug war klar: Der Pass war weg und mein Flug war es auch. Für einen Moment stoppte ich meinen Aktionismus und kam zur Ruhe, um über einen Plan B nachzudenken. Ich fand heraus, dass es am Abend noch einen zweiten und letzten Flug nach Abu Dhabi geben würde. Damit hatte ich von diesem Zeitpunkt an knapp zehn Stunden zum Suchen. Mit dieser Notlösung würde ich wenigstens noch genau eine Stunde vor Beginn meines Einsatzes am Einsatzort in Abu Dhabi sein. Da ich nun aber quasi seit der ersten Sekunde wusste, dass der Pass auf alle Zeiten verschwunden ist – ich habe ihn bis heute tatsächlich nie wieder gesehen – hatte ich ein großes Problem. Es war ja Wochenende und damit waren alle Behörden geschlossen. Das Fazit meiner schnellen Recherche war, dass es genau zwei mögliche Ergebnisse geben konnte: Entweder würde ich nicht reisen können und hätte meine Firma damit in ein finanzielles Fiasko gestürzt oder ich hätte es schaffen