Frank Sommer

Im Sturzflug nach Merkwürdistan


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zwischen mir und dem am Wochenende fest verschlossenen Einwohnermeldeamt meines Heimatortes in diesem Moment knapp 600 Kilometer lagen, was die Sache nicht einfacher machte. Da ich mehrere reiseerfahrene Freunde in meiner Not anrief und nach Rat und Ideen fragte, erhielt ich tatsächlich einen sehr viel versprechenden Hinweis. Es gäbe angeblich eine Gemeinde in der Nähe meines Flughafens, deren Rathaus auch am Samstagvormittag bis 12 Uhr geöffnet habe. Das war meine einzige Chance und so rief ich das besagte Amt in Windeseile an, zumal es bereits kurz nach elf Uhr war. Gestresst wie ich war, empfand ich es zunächst als Wohltat, tatsächlich die freundliche Stimme einer Dame vom Amt am anderen Ende der Leitung zu hören. „Kein Problem, wenn Sie bis 12 Uhr zu uns kommen, können wir Ihnen gerne einen vorübergehenden Reisepass ausstellen“, sagte die Dame und versetzte mich in einen Zustand höchsten Glücks. Das war’s, Problem gelöst! Immerhin für kurze Zeit jedenfalls: „Sie sind doch in unserer Gemeinde mit Ihrem Hauptwohnsitz gemeldet, oder?“, fragte sie dann leider noch. Nein, verdammt, war ich nicht. Ich zog sämtliche Register, um sie von der dringenden Notwendigkeit zu überzeugen, dass sie mir auch ohne solch nebensächliche Wohnsitzmeldung einen Pass ausstellen müsste. Kamele, Goldklumpen, Myrrhe und Weihrauch wollte ich ihr aus Arabien mitbringen. Nix, keine Chance. Die Dame war freundlich, blieb aber leider flexibel wie ein Stahlrohr. Die Lösung gestaltete sich aus ihrer Sicht zum Glück total einfach: Ich brauchte nur ein Fax von meinem zuständigen Einwohnermeldeamt, welches besagen sollte, dass die Dame mir den Pass ausstellen dürfe. Mein zuständiges Amt war sehr schön - baulich attraktiv, nur nette Mitarbeiter. Das kleine Problem war aber bekanntlich, dass es 600 Kilometer weit weg lag und an einem Samstag selbstverständlich geschlossen war. Die Dame gab mir dann noch den freundlichen Rat, ob ich nicht jemandem kennen würde, der wiederum im Rathaus meiner Heimatgemeinde jemanden kennen würde. Zu diesem Zeitpunkt blieben noch 45 Minuten bis zur Schließung des am Samstagvormittag geöffneten Amtes. Ich dachte, dachte und dachte. Angestrengt grübelte ich, ob mir irgendetwas einfiele und beobachtete dabei aus dem Augenwinkel, wie der Sekundenzeiger an meinem linken Handgelenk tick-tack-tick unaufhaltsam seine Runden drehte. Da ich die meiste Zeit auf Reisen verbringe, beschränken sich die Bekanntschaften in meiner Heimatgemeinde auf meine kleine Familie, den Tankstellenshop-Verkäufer aus der Nachtschicht und den pickeligen Typ aus der Videothek. Das war’s, woher sollte ich denn „zufällig“ einen Mitarbeiter des Meldeamtes kennen? Also dachte ich weiter nach, mit Schweißperlen auf der Stirn... tick-tack-tick. Ich lehnte mich zurück und versuchte mich zu erinnern, ob ich nicht doch irgendjemanden aus meinem Heimatkaff kennen könnte, der jetzt noch in der Lage wäre, den Fall zu drehen. Und tatsächlich! Hätte ich es nicht selber erlebt, würde ich es mir an dieser Stelle vielleicht selbst nicht glauben: Meine Eltern hatten doch vor einem runden Jahrzehnt mal den Kontakt zu Freunden verloren, die in meinem Heimatort lebten. Und die hatten eine Tochter namens Kristine, die etwa in meinem Alter war. Kristine hatte ich selbst schon vor fast 20 Jahren aus den Augen und aus dem Sinn verloren. Ich erinnerte mich allerdings, einmal in irgendeinem dörfischen Käseblatt gelesen zu haben, dass sie einen in unserem Dorf kommunalpolitisch aktiven Mann geheiratet haben soll. Noch 20 Minuten blieben bis zur Schließung des Amtes. Ich entschied mich auf blauen Dunst, in ein Taxi zu springen und den Fahrer zu bitten, zum Amt zu rasen. Während der Fahrt versuchte ich unter gleichzeitiger Nutzung meiner beiden Mobiltelefone, alle abzutelefonieren, die mich zu Kristines Mann verbinden konnten, von dem ich in der Dorfzeitung gelesen hatte: meine Eltern, deren Freunde, mit denen meine Eltern vor zehn Jahren gebrochen hatten. Tatsächlich hatte ich bald Kristine am Telefon, die sich auf einer Fahrradtour durch Wald und Wiesen befand. Meine in Sekundenschnelle herunter gerasselte Problembeschreibung fand sie belustigend und in der Tat saß ihr Mann auf dem Rad neben ihr. Ich hatte richtig gelesen, er war tatsächlich in der Gemeindepolitik aktiv. Kirsten sagte, sie habe keine Ahnung, ob ihr Mann die benötigten Kontakte habe, aber sie würde da etwas versuchen. Hierfür blieben Kristine bis zum Vollzug maximal noch 15 Minuten, tick-tack-tick... . Schwitzend saß ich in meinem Anzug auf dem Beifahrersitz des Taxis. Draußen zogen Familien an mir vorbei, die das herrliche Sommerwetter auf dem Fahrrad, bei einem Spaziergang oder in einem Café genossen. Ich hingegen hielt noch immer in jeder Hand verkrampft ein Handy, wusste aber zum ersten Mal seit einer guten Stunde nicht, welcher Gesprächspartner mir im Moment noch weiterhelfen könnte. Fünf Minuten vor 12 Uhr rollte mein Taxi auf den Hof des gerade noch geöffneten Amtes. Als ich meine Hand nach der Tür des Amtes ausstreckte, klingelte mein Handy, im Display die Vorwahl meines Heimatortes: „Das Einwohnermeldeamt, schönen guten Tag! Ich hörte, Sie haben ein Problem, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Unfassbar, Kristine hatte es geschafft und mit ihrem Mann tatsächlich eine Mitarbeiterin des Einwohnermeldeamtes dazu bewegen können, das Rathaus ausnahmsweise am Wochenende zu öffnen – und dies innerhalb weniger Minuten ab Eingang meines Notrufs. Dann ging alles sehr schnell und die freundlichen Damen vom Amt konnten mir meinen Ersatzpass ausstellen. Goldklumpen und Kamele hat’s dafür von mir nicht mehr gegeben, aber ein Dankeschön, wie es aufrichtiger nicht rüberzubringen war. Als kleinen Ausgleich für den ganzen Stress kam ich sogar noch in den Genuss eines sommerlichen Samstagnachmittags, bevor ich – erfrischend problemlos – mit dem Nachtflug an den Golf reiste und direkt aus dem Flugzeug ins Büro marschierte – und zwar pünktlich. Wieder einer dieser Reisetage, die mich um ein ganzes Lebensjahr altern lassen... .

      Fischhappen Nr. 2: Krawatten-Kalle und der Totengräberschlips

      Lebensabschnittsweise reiste ich derart häufig, dass ich im Monat gerade noch drei oder vier Tage zu Hause war und jeweils hälftig in Asien und Südamerika arbeitete. Um auf Reisen immer alles zu haben, was ich benötige, erfordert ein solcher Einsatzplan logistische Meisterleistungen. Man bedenke, nur die knappe Zeit daheim zum Wäschewaschen und das viele Zeug, das man für die zahlreichen geschäftlichen Anlässe in Übersee benötigt – insbesondere wenn eine Reise auch noch den Winter auf der Südhalbkugel und den Sommer auf der Nordhalbkugel einschließt. Gerade vor einiger Zeit wartete ich am Flughafen auf meinen Abflug nach Südamerika und schrieb derweil an einer der Geschichten für diese Sammlung, als plötzlich das Blitzen des polierten Anzugschuhs meines Sitznachbarn meine Aufmerksamkeit auf sich zog und ich schlagartig einen riesigen Schreck bekam, als ich merkte, dass ich bedauerlicherweise vergessen hatte, selbige meinem Reisegepäck hinzuzufügen. Verdammt, 15 Minuten vor dem Abflug am Flughafen passende Anzugschuhe der Größe 48 zu finden, ist etwa so unwahrscheinlich wie 15 Minuten vor dem Trauungstermin in der Fußgängerzone vor dem Standesamt noch die passende Frau kennen zu lernen. Habe immerhin Schuhe der Größe 46 gefunden. Es war eine schmerzhafte Reise, aber wenigstens sah ich dabei blendend aus. Während man mit solch gelegentlichen Lücken im Koffer dann und wann einmal rechnen muss, gibt es einige Reisen, bei denen das Vergessen von Teilen des Reisegepäcks ganz besonders peinlich ist. Eine solche führte mich ins nahe gelegene Köln. Ein wichtiger potenzieller Kunde hatte mich dorthin zu einem gemeinsamen Tag eingeladen, um Möglichkeiten einer vertieften Zusammenarbeit abzugleichen. Am zweiten Tag hatten wir dort außerdem einige Termine mit weiteren Geschäftspartnern, die wir gemeinsam wahrnehmen wollten. Natürlich hatte ich vor, den Kunden möglichst zu beeindrucken und eine gute Performance aufs Parkett zu legen. Am frühen Morgen machte ich mich auf den Weg zum heimischen Flughafen für den kurzen Hüpfer an den Rhein. In der Sicherheitskontrolle wollte ich nur noch schnell meine beiden Handys durchs Röntgengerät schieben und... meine Handys? Meine Handys, verdammt! Die lagen ja noch auf dem Nachtschrank neben meinem Bett! Oh nein, was für ein peinlicher Auftritt, ausgerechnet meine Telefone liegen zu lassen. Wenn ich es nicht einmal schaffe, diese zu einem Termin in Deutschland mitzubringen, was soll der Kunde dann von meiner Eignung halten, in weit entfernten Ländern Trainings in seinem Auftrag zu organisieren? Nun musste ich erstmal versuchen, meinen Kunden überhaupt zu treffen, ohne dass wir einen Treffpunkt noch telefonisch ausmachen konnten. Mit Müh und Not gelang dies und irgendwie schien er elegant über diesen Fauxpas hinwegzusehen. Der erste Tag diente zunächst noch dem ungezwungenen Kennenlernen, aber am zweiten Tag gab es ernsthafte Termine – dann selbstverständlich auch mit Dresscode und Krawatte. An jenem Morgen wachte ich auf und stellte mit Entsetzen fest, dass ich nicht nur meine Telefone, sondern auch sämtliche Krawatten zu Hause vergessen hatte. Was für ein Ärgernis und dabei war ausgerechnet ich es, der noch am Vortag mit dem Kunden über die Krawattenpflicht bei diesem Anlass sprach. Die fehlenden Handys hatte er mir verziehen, aber wann würde ich das Maß der Peinlichkeiten überschreiten? Da gab es keine Alternative, eine Krawatte musste her, sofort! Ich