Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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abwesend wenn es um wichtige Themen ging. Und ihre Tante brachte auch keinen positiven Beitrag. Sie wollte nur noch fort.

      - Ganz kurz huschte Wolfgangs fragender Blick zu ihr: Du bleibst doch zu meinem Geburtstag? Hoffe ich.

      - Ja, ich will deinen großen Geburtstag mit dir feiern. Deshalb bin ich hier.

      - Das freut mich. Ich brauche dich hier in meiner Nähe. Mehr als du ahnen kannst.

      - Ich weiß es, aber ich habe mein eigenes Leben. Du erinnerst dich: Wir haben die Gründung meines Instituts in Nicaragua gemeinsam beschlossen. Wir wollten die Tests in einem Land durchführen, in dem uns nicht so viele Behörden das Leben erschweren. Nun habe ich dort meine Heimat gefunden.

      - Deine Heimat ist hier, beharrte Wolfgang mit Nachdruck, vergiss das nicht. Hier liegen deine Wurzeln. Und hier liegt auch deine Zukunft.

      - Julia erhob sich: Lass uns nicht wieder davon anfangen. Das hatten wir doch schon mehrfach besprochen. Seid mir bitte nicht böse. Aber ich muß mich jetzt wirklich um meine Arbeit kümmern. Ich habe einige wichtige Termine in Nicaragua, die ich nicht versäumen darf, aber ich werde in jedem Fall zu deinem Geburtstag zurück sein.

      - Darauf verlasse ich mich. Und viel Erfolg.

      Julia fühlte sich bedrängt und sann auf andere Möglichkeiten, in denen sie sich und ihre Ideen verwirklichen konnte. Aber erst einmal musste sie die Zulassung des neuen Medikaments erreichen. Darauf würde sie sich konzentrieren. Sie erhob sich abrupt und verließ verärgert den Raum.

      - Du solltest nicht immer in dieser eiternden Wunde bohren, sagte Ingrid vorwurfsvoll. Du wirst sie nicht umstimmen können. Sie hat sich entschieden. Sie wird dort bleiben. Ich weiß auch nicht, was sie dort bindet. Manchmal spricht sie von einem jungen Mann. Vielleicht ist das der Grund. Offenbar findet sie bei ihm ihre innere Ruhe und auch Geborgenheit. Hier fühlt sie sich von dir ständig gegängelt, bevormundet und kontrolliert. Das mag sie nicht.

      Vielfältige Erinnerungen

      - Vielleicht fehlt Julia die Mutter mehr, als wir es ahnen, sagte er mit einer gewissen Wehmut. Sie fühlt sich hier bei uns nicht richtig wohl.

      - Ich habe versucht, ihr die Mutter zu ersetzen, soweit mir das möglich war. Offenbar konnte ich es nicht. Ich habe wohl versagt, sagte sie mit verhaltenem Wehmut.

      - Du hast bestimmt nicht versagt. Im Gegenteil, du hast ihr nach dem Tod ihrer Mutter das Leben gerettet. Das weiß sie genau, und sie ist dir dankbar dafür.

      - In jedem Fall wäre es gut, sagte Ingrid etwas versöhnlich, wenn sie noch etwas hier bei uns bliebe, um unsere hiesigen Forschungsergebnisse mit ihren Erkenntnissen abzugleichen. Ich würde gern gemeinsam mit ihr in meinem Krankenhaus an dem Forschungsprojekt arbeiten. Vielleicht kämen wir gemeinsam schneller voran. In jedem Fall brauchen wir dringend eine größere Menge an den Wirkstoffen. Die klinischen Tests zeigen noch keine eindeutigen Ergebnisse.

      - Etwas hoffnungslos blickte er sie an:

      - Aber wir können die benötigten Mengen Vexalin jetzt nicht produzieren. Eine Mischmaschine und eine Abfüllstation sind ist ausgefallen, wie du weißt.

      - Sie bekam einen bitteren Zug um den Mund, als spuckte sie etwas aus, was ihr wie Galle auf der Zunge lag: Die Produktion ist Hinrichs Job. Darum muss er sich kümmern. Warum setzt du ihn nicht stärker ein? Du schonst ihn, das ist nicht gut für ihn. Ich sagte es dir schon des Öfteren: Du musst ihn ins kalte Wasser stoßen.

      - Er würde untergehen, das kann ich nicht verantworten.

      - Der geht nicht unter. Er ist jetzt fünf Jahre in deiner Firma in leitender Position beschäftigt und hat Produktionstechnik studiert. Er muss das können, du musst ihm mehr Verantwortung übertragen, musst ihn stärker fordern. Du bist zu nachsichtig mit deinem Sohn, er braucht eine starke Hand, die ihn sicher führt und leitet.

      Er blickte etwas traurig und versonnen auf das Bild eines Flötisten, der in einem feudalen Saal vor gut gekleideten Menschen spielte. Es handelte sich um Friedrich den Großen, der im Schloss Sanssouci ein Konzert gab. Das Bild – eine Kopie des berühmten Gemäldes von Menzel – stammte aus dem Familienbesitz und weckte zwiespältige Gefühle in ihm. Gern hätte er seinen Sohn in der Rolle des großen Königs gesehen; sowohl als Musiker und gleichzeitig als erfolgreicher Feldherr. Die divergierenden Eigenschaften ließen sich also durchaus miteinander verbinden. Die Geschichte hatte es bewiesen. Warum also nicht auch bei seinem Sohn?

      - Vielleicht hast du recht nachdenklich. Aber … sagte er und erhielt den Gedanken für sich.

      - Sie erriet seine Gedanken: Hinrich ist nicht wie Friedrich der Große, er ist ein Träumer, er liebt nur seine Musik. Besonders Beethoven, Bruckner, Wagner und Brahms. In seiner gesamten freien Zeit übt er die Violinkonzerte, und in der letzten Zeit lässt er sich auch noch in Komposition und im Dirigieren ausbilden.

      - Auch das noch? Wohin soll das führen?

      - Wer weiß. Er hat großes Talent, ist feinsinnig und empfindsam, wie mir andere Musikliebhaber bestätigen. Ich bin nicht sehr musikalisch, aber ich liebe die Musik. Sein Lehrer Paulsen meint, er könne bald als Solist in einem öffentlichen Konzert auftreten, zu Beginn vielleicht im kleineren Rahmen, zum Beispiel in einem Kirchenkonzert, um erste Erfahrung zu sammeln und sich einen Namen zu machen.

      - Er nickte: Ja, ich weiß, Hinrich ist musikalisch sehr begabt, das hat er von seiner so früh verstorbenen Mutter, die aus einer angesehenen Musikerfamilie stammte, wie du weißt.

      - Ich kenne die Familiengeschichte mindestens so gut wie du.

      Er versuchte er sich etwas mühevoll an Vergangenes zu erinnern. Es strengte ihn an. Als Hinrich noch in den Windeln lag, starb seine Mutter kurz nach der Geburt von Julia an Kindbettfieber. Eine Amme hatte ihn groß gezogen. Sie diente schon bei den Eltern und hatte Musik studiert.

      - Ingrid wandte sich ab, strich sich über die Augen, als müsse sie eine hässliche Bilderserie fortwischen: Es war ein schreckliches Unglück. Ich war damals noch Oberärztin in der Klinik, die mir unser Vater ein paar Jahre später schenkte, und die ich bis heute leite.

      - Ich weiß.

      - Ich war bei Julias Geburt anwesend. Zunächst schien alles gut gegangen zu sein, aber dann bekam sie während der unvollständigen Nachgeburt ganz plötzlich hohes Fieber. Es breitete sich rasend schnell im ganzen Körper aus und führte zu heftigen Schock-Symptomen. Ihr Herz war nicht mehr in der Lage, den Kreislauf ausreichend mit frischem Blut zu versorgen. Damals konnten wir nichts mehr für sie tun, sie war zu schwach. Die sofort eingeleiteten Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg.

      Er nahm ihre Hand, als wolle er sich mit ihr versöhnen:

      - Du konntest nichts dafür. Ihr habt damals wirklich alles Menschenmögliche getan, um sie zu retten. Aber es war nicht möglich. Damit hast du der kleinen Julia das Leben gerettet. Du hast dich um sie wie eine Mutter gekümmert, hast ihr eine Amme besorgt. Letztlich hast du sie groß gezogen. Dafür ist sie dir ewig dankbar. Und ich bin es auch. Ich werde es dir nie vergessen.

      Sie ergriff etwas versöhnlich seine Hand, und doch war ein gewisser Vorwurf zu spüren:

      - Deine Frau wurde viel zu früh schwanger. Du hättest ihr mehr Zeit lassen sollen, damit sie sich von der ersten Geburt erholen konnte. Sie hatte noch nicht abgestillt. Sie meinte, die Muttermilch sei gut für das Kind. Für Hinrich hat sie alles getan, sie hat ihn abgöttisch geliebt. Letztlich hat sie für ihn ihr Leben gelassen.

      - Ziemlich abweisend sah er sie an: Machst du mir deshalb einen Vorwurf?

      - Energisch schüttelte sie ihren Kopf: Nein, ich sage nur, Marion war zu schwach für ein zweites Kind so kurz nach der ersten Geburt. Sie hatte sich von der Entbindung noch nicht richtig erholt. Das ist kein Vorwurf, nur eine Feststellung.

      - Traurig blickte er ihr in die Augen: Du magst recht haben, aber das war nicht die Ursache für ihren Tod. Im Krankenhaus habt ihr damals die strengen Hygiene-Vorschriften nicht beachtet. Man hat später, als die Gerichtsmediziner