Kollektion war nicht das zentrale Problem: Ihr Vetter hatte damals die Verantwortung für die Firma, und er war – wenn ich das so sagen darf – nicht eben sehr entscheidungsfreudig. Er scheute das Risiko und vertraute nur seinen Statistiken. Er benutzte ein Rechenprogramm, in das er die aktuellen Verkäufe eintrug und sie dann auf das Saisonende hochrechnete. Das führte dazu, dass wir mit allen Dispositionen immer hinten in der Warteschlange rangierten. Wir bestellten die Stoffe zu spät, so dass die Webereien schon ausgebucht waren, wir orderten die Zwischenmeister zu spät, so dass auch sie schon ihre Kapazitäten verplant hatten, wir bestellten die Spediteure zu spät, so dass die Waren schließlich zu unseren Kunden gelangten, wenn die Saison schon gelaufen war. Das war das Kernproblem.
Herr Pauli griff ein und wandte sich direkt an den Berater:
- Ich war nach langer Krankheit gerade von einem Kuraufenthalt zurückgekehrt und wollte mich wieder in das Tagesgeschäft einarbeiten. Ich erinnere mich noch genau an diese Situation. Ich hatte Sie um Ihren Bericht in mein Büro gebeten. Ich fragte Sie, was Sie an meiner Stelle tun würden. Sie antworteten ganz frei: An Ihrer Stelle würde ich mir die Verantwortung für Ihre Firma übertragen.
- Herr Pauli lächelte: Und das habe ich tatsächlich getan. Es bedeutete für mich ein großes Risiko, aber so wie es bisher gelaufen war, konnte es nicht weitergehen. Ich war dabei, meine Firma zu verlieren. Sie waren für mich die einzige Rettungschance.
Konselmann rückte sich seine Fliege zurecht:
- Ich habe Sie damals für Ihre Entscheidung aufrichtig bewundert. Schließlich hatte ich von dem Geschäft der Modebranche nur wenig Ahnung. Aber ich dachte mir, wenn Frau Röttgens mir hilft, dann werden wir es gemeinsam schaffen.
Ingrid Sämann griff in das Gespräch ein:
- Ich wüsste gern, was Sie damals gemacht haben, als sie so unerwartet die Verantwortung hatten, falls diese Frage nicht zu indiskret ist. Sie konnten sich auf Ihre neue Aufgabe nicht vorbereiten. Und dabei blickte sie Herrn Pauli fragend in die Augen, als wolle sie sich für ihre Neugier entschuldigen.
Herr Pauli hatte sie verstanden und lächelte:
- Herr Konselmann, Sie können ruhig erzählen, was damals geschah. Sie werden ja keine unpassenden Details nennen.
Konselmann war froh über die Chance, die sich ihm unerwartet bot, sich ins rechte Licht zu stellen, richtete sich auf und atmete tief durch:
- Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Doktor Pauli, will ich das gern tun, denn es war eine schöne und erfolgreiche Zeit für mich. Sie dürfen nicht vergessen, dass ich damals noch ein ganz junger Berater war, und ich war heiß, in die Verantwortung zu kommen.
- Pauli nickte: Sie hatten damals noch kein graues Haar auf dem Kopf. Sie hatten den Vorzug der Jugend. Sie waren noch nicht von dem Ballast der negativen Erfahrungen erdrückt, die wir alle irgendwann einmal in unserem Leben machen mussten.
Konselmann nahm den Gesprächsfaden wieder auf und blickte dabei Frau Pauli an:
- Das Wesentliche war, dass wir Vertrauen zu unserer eigenen Meinung bekamen. Mit der Entscheidung, dass wir eine neue Kollektion von Jeans Hosen, Jacken und Röcken erstellten, lösten wir uns von dem etwas verstaubten Image des Herstellers hochwertiger Damen-Kostüme. Wir stellten junge Modedesignerinnen ein, erstellten eine ganz neue Kollektion jugendlicher Mode mit halblangen Mänteln, Röcken und Hosen.
- Das war noch nicht alles, schwärmte Frau Pauli, und erinnerte sich lebhaft an die vergangenen Zeiten, als sie noch jung und voller Elan war.
- Und wir orderten frühzeitig die Waren, fuhr der Berater fort, wir reservierten bei den Zwischenmeistern in Griechenland und in der Türkei die notwendigen Kapazitäten, und wir bestellten die Spediteure.
- Mit anderen Worten: Sie sind das Risiko eingegangen, dass die Bestellungen nicht so kamen, wie Sie es erwartet hatten?, fragte Julia Sämann.
- Nicht nur das: Wir bauten ein neues Lager, kauften ein paar Lastwagen und brachten unsere Datenverarbeitung auf den neuesten Stand. Wir verkürzten die Kommunikationszeiten und nutzten das Internet zum Datenaustausch mit unseren Lieferanten und Kunden. Es tat sich für uns ein neues Zeitalter der elektronischen Kommunikation auf. Wir mussten auch unsere Geschäftspartner von unseren Ideen überzeugen.
- Ingrid Sämann ergänzte: Nebenbei haben Sie auch auf Berufskleidung umgestellt. Denn wir beziehen seit einigen Jahren unsere gesamte Kleidung für Ärzte, Schwestern und Helferinnen aus Ihrem Haus.
- Frau Pauli korrigierte behutsam: Das war dann später, als Herr Konselmann unser Unternehmen schon verlassen hatte. Zunächst mussten wir erst einmal wieder Geld verdienen. Schließlich hatten wir umfangreiche Investitionen getätigt. Wir besannen uns auf unsere Stärken und hatten eine erfolgreiche Saison. Wir starteten mit vollen Auftragsbüchern und waren zu jeder Zeit lieferbereit. Das war nicht zuletzt Ihr Verdienst gewesen.
Konselmann nippte etwas verlegen an seinem Glas, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte:
- Ich darf sagen, dass ich damals manche schlaflose Nacht gehabt habe. Denn ich handelte als Berater ohne schriftliche Vollmacht. Wenn die Sache schief gegangen wäre und wir Verluste gemacht hätten, dann weiß ich nicht, was passiert wäre. Im schlimmsten Fall wäre mein Beratungsunternehmen in die Haftung genommen worden.
Herr Pauli griff in die Unterhaltung ein, die er mit Wohlwollen verfolgt hatte. Sie erinnerten ihn an eine schwierige aber letztlich erfolgreiche Zeit:
- Dazu ist es Gott sei Dank nicht gekommen. Letztlich trug ich das Risiko. Ich hatte Vertrauen zu Ihnen gefasst und mich entschlossen, Ihnen die Verantwortung für die Firma zu übertragen, obwohl ich wusste, dass Sie kein Fachmann waren. Sie hatten eine positive Ausstrahlung und konnten unsere Mitarbeiter motivieren. Das hat uns geholfen, den Turnaround zu schaffen.
Der Berater fühlte sich geschmeichelt.
Die Zeit seiner damals noch am Anfang stehende Karriere stand in klaren Bildern vor seinem Auge, obwohl inzwischen schon mehr als zehn Jahre vergangen waren.
- Es war für mich eine positive Erfahrung. Ich hatte bis dahin immer als Einzelkämpfer gearbeitet, aber ich erkannte, dass ich meine Aufgaben besser schaffen könne, wenn ich im Team mit anderen Menschen zusammenarbeitete.
Julia griff den Gesprächsfaden auf:
- In der Forschung und Entwicklung kann man überhaupt nur als Team erfolgreich sein. Die Zeit der einsamen Erfinder und Tüftler ist schon lange vorbei. Ich möchte nur im Team arbeiten. Die Zusammenarbeit mit Menschen ist mir sehr wichtig.
Isabelle gesellte sich zu der Gruppe:
- In so ernsten Gesprächen? Dies soll doch ein Tag zur Entspannung und zur Erholung sein. Sie tun gerade so, als sei dies ein normaler Arbeitstag.
- Wolfgang Sämann antwortete: Frau von Stephano, wo immer wir Unternehmer beieinander sind, tauschen wir Erfahrungen und Meinungen aus. Dies war für mich ein wichtiges Gespräch, denn ich habe einige positive Anregungen bekommen. Nicht dass ich mit dem Gedanken spiele, meine mir vom Vater übertragenen Führungsaufgaben auf einen externen Manager zu delegieren, aber es ist doch interessant zu hören, was man in kritischen Situationen tun kann. Man kann nie wissen, was einem so passieren kann.
- Voller Verständnis lächelte Isabelle: Ich drücke Ihnen die Daumen. Aber morgen ist auch noch ein Tag, und wir wollen schon früh den Tag beginnen.
- Was steht denn noch auf dem Programm?, erkundigte sich Julia. Ich dachte, wir hätten schon den Höhepunkt des Festes erreicht. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei Ihnen ganz besonders für den gelungenen Abend bedanken. Es hat alles vorzüglich geschmeckt, und die Weine waren ausgezeichnet. Es hat alles sehr gut geklappt. Das ist sicher auch Ihr Verdienst.
- Haben Sie Dank für Ihre Anerkennung. Die kann man immer gebrauchen. Es hat mir viel Freude bereitet, Sie heute bei uns als Gast zu haben.
Ihr Vater schloss sich der kurzen Rede seiner Tochter an:
- Frau von Stephano, ich kann der Bemerkung meiner Tochter nur in vollem Umfang zustimmen. Ich hoffe, Sie demnächst