Stefan von der Weide

Salvinas Träume


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      Stefan von der Weide

      Salvinas Träume

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Sehnsüchte

       Zarina

       Dominik

       Träume

       Traumata

       Abgründe

       Impressum neobooks

      Sehnsüchte

      Es sind die Sehnsüchte, die uns beflügeln,

       die Hoffnungen, die uns geleiten,

       die Ängste, die uns hindern.

       Es gilt, die Ängste zu überwinden

       und die Träume zu leben ...

      Zarina

      Die Turmuhr der nahe gelegenen Kirche schlug dreimal. Ihre Schläge hallten lange nach. Wie sanfte Meereswellen, hob und senkte sich ihr Klang, mal lauter, mal leiser, mal höher, mal tiefer. Schließlich ebbten die Wellen ab, der Ton wurde schwächer und schwächer. Dann verstummten die Schläge und gaben der Nacht ihre Stille zurück.

      Um diese Zeit fuhr kein Wagen mehr durch die kleine Nebenstraße, die unter dem Schlafzimmerfenster vorbeiführte. Auch dem Verkehrslärm der Hauptstraßen der Großstadt gelang es nicht, durch die umliegenden hohen Häuserfluchten hindurch in das Schlafzimmer zu dringen. Das Haus lag in einer Oase der Ruhe inmitten des Stadtzentrums.

      Im Schlafzimmer war es dunkel. Lediglich ein schwacher Lichtschein drang von der Straßenlaterne durchs Fenster herein in den ersten Stock und strahlte von der weißen Zimmerdecke zurück. Bevor er sich in der Dunkelheit der Nacht verlor, zeichnete er die Konturen der Einrichtung nach. Ein Kleiderschrank, eine Kommode, ein Nachttisch und ein Bett drängten sich dicht aneinander und füllten den Raum. Das Zimmer war mehr hoch als breit, so hoch hatte man in Europa zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts gebaut.

      Das Bett stand mit dem Kopfende neben dem Fenster in der Ecke des Schlafzimmers. Die Bettdecke hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus des Atems der jungen Frau. Das schwache Licht verlieh ihrem Gesicht einen gelassenen und entspannten Ausdruck. Sie wirkte zufrieden, beinahe glücklich. Sie schlief.

      Neben ihrem Bett kniete ein älterer Mann. Still und abwartend kniete er, beinahe stoisch. Seine Hände ruhten in seinem Schoß, seine Schultern hingen leicht herab. Dann richtete er sich langsam auf. Er stützte sich vorsichtig auf die Bettkante und blickte auf die geschlossenen Lider der jungen Frau. Zögernd, fast unentschlossen streckte er seine Hand nach ihr aus.

      Jetzt begannen die Augen der jungen Frau, sich schnell hin und her zu bewegen. Ihre Augenlider zitterten. Ihr Atem wurde kürzer. Eine heftige Bewegung ihres Armes wehrte seine Berührung ab. Kaum sichtbar öffnete sie die Lippen und stöhnte Unverständliches. Im Schlaf sprach sie zu ihm. Im Schlaf spürte sie seine Nähe. Noch einmal stöhnte sie. »Hau ab!«, sagte sie, diesmal deutlicher, und schlief weiter. Unruhig jetzt, aber noch schlief sie.

      Hastig legte er seine Hände zurück in den Schoß und nahm wieder seine wachende Stellung ein. Die Worte der jungen Frau galten ihm, daran gab es keinen Zweifel. Dennoch blieb er. Dennoch wartete er, als hoffte er auf ihre Milde.

      Nach kurzer Zeit stieß sie einen tiefen Seufzer aus und drehte ihren Kopf zur Wand. Danach atmete sie wieder ruhiger. Ihre Augen bewegte sie nun nicht mehr. Noch einmal sank sie zurück in ihren tiefen Schlaf.

      Der ältere Mann fasste neuen Mut. Nochmals richtete er sich auf. Er beugte sich über sie und nahm vorsichtig ihre Hand. Zweimal küsste er ihre Hand, dann legte er sie behutsam zurück auf die Bettdecke. Danach rutschte er langsam auf den Knien entlang der Bettkante. Wieder beugte er sich vor. Mit seinem Mund an ihrem Ohr verweilte er einen Moment. Schließlich flüsterte er:

      »Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht!«

      Salvinas Augen begannen, sich wieder heftiger zu bewegen. Bald wurde auch ihr Atem wieder schneller und gepresster. Sie bewegte die Arme und drehte ihren Kopf dem Mann zu. Nach ein paar heftigen Atemzügen öffnete sie langsam die Augen. Zuerst lächelte sie, als sie ihren Vater erkannte, doch in ihrer Schlaftrunkenheit wusste sie nicht, was seine Anwesenheit bedeutete. Erst als sie mehr und mehr erwachte, begann sie, die Situation zu begreifen.

      Vor Entsetzen riss sie die Augen noch weiter auf. Sie wollte zurückweichen, versuchte sich aufzurichten. Mit beiden Füßen drückte sie sich von der Matratze weg, verlor den Halt, setzte ihre Füße erneut an und verlor abermals den Halt. Nur Stück für Stück gelang es ihr, vor ihrem Vater zurückzuweichen. Doch schon bald versperrte ihr die Wand den Weg zurück. Sie presste ihren Rücken in die Ecke und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen und möglichst viel Abstand zu ihrem Vater zu gewinnen. Schließlich begann sie, am ganzen Körper zu zittern.

      Für einen kurzen Moment kribbelte es in ihren Beinen. Dann erschlafften ihre Schenkel und Waden und wurden taub. Plötzlich konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen. Als wären sie von ihrem Körper abgetrennt, so lagen sie nun ausgestreckt vor ihr. Verzweifelt versuchte sie, ihre Beine anzuwinkeln, um sich mit ihren Füßen weiterhin von der Matratze wegdrücken zu können, aber sie gehorchten ihr nicht mehr. Salvina verlor den Halt und sank mit ihrem Oberkörper zurück auf die Matratze.

      Bebend öffnete sich ihr Mund. Sie wollte schreien, laut ihre Angst in die Dunkelheit der Nacht hinausschreien. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Wie gelähmt lag sie in ihrem Bett und konnte sich nicht wehren. Hilflos und verletzbar.

      Ihr Vater rührte sich nicht. Er sah sie nur an. Die Verzweiflung seiner Tochter nahm er ohne Regung hin. Er nahm sie hin, als wäre es die Verzweiflung einer geistig Verwirrten. So, als wartete er auf den Pfleger mit der Spritze oder der täglichen Dosis eines Neuroleptikums. Dann wiederholte er seine Worte:

      »Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht!«

      Jetzt löste sich in Salvinas Brust der erste Ton. Zuerst leise und verhalten, doch von Atemzug zu Atemzug wurde er lauter und tiefer. Bald dröhnte eine alles erschütternde Stimme aus ihrer Brust, einer Brust, die viel zu schmal und viel zu zart schien, um solch eine tiefe und kräftige Stimme zu erzeugen.

      Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Trotzdem kniete ihr Vater neben ihr. Als wäre nichts geschehen, als wäre das Leben weiter verlaufen wie zuvor. Aber das war es nicht.

      Vor drei Jahren hatte sie ihn gefunden, am Abend seines Todes. Sie hatte seinen viel zu kalten Körper berührt, vergeblich versucht, seinen offenen Kiefer zu schließen. Dennoch hatte sie in ihrer Verzweiflung gehofft, sie könnte ihn ins Leben zurückholen. Sie hatte sein Herz massiert, ihn beatmet und gleichzeitig gewusst, dass es zu spät war. Sie kannte die sicheren Zeichen des Todes, die Starre, die Flecken. Trotzdem hatte sie auf ein Wunder gehofft, als sie den Notarzt verständigte. Erst als dieser den Tod bestätigte und den Totenschein ausstellte, gab sie ihr Hoffen auf eine Wiederbelebung auf. Es gibt kein Zurück, hatte der Arzt gesagt, ihr Vater war schon seit Stunden tot, wahrscheinlich seit dem frühen Vormittag, vielleicht sogar schon seit dem Morgengrauen.