Stefan von der Weide

Salvinas Träume


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über deinen Vater reden, er war mein bester Freund.«

      »Ja, weil er dein einziger war. Aber wie war das nach dem Tod deiner Frau, als du krank geworden bist und alles verloren hast? Hat dir mein Vater da geholfen?«

      Paule sah erschrocken auf. Der obere Teil seiner Wangen wurde kreidebleich. Es waren neben Augen und Stirn die einzigen Stellen seines Gesichts, die Salvina zwischen seinem üppigen Haar- und Bartwuchs hindurch sehen konnte. Hastig sagte er: »Darüber will ich nicht reden. Dein Vater hatte seine Gründe.«

      »Gründe! Mein Vater hatte immer seine Gründe«, erwiderte Salvina energisch. »Wie kannst du ihn nur verteidigen, wo er dir das Leben hätte retten können, wenn er wenigstens dieses eine Mal nicht auf seinen Prinzipien beharrt hätte!«

      Mit verschränkten Armen lehnte sich Paule zurück und schüttelte leicht den Kopf. Kraftlos entgegnete er: »Das konnte dein Vater damals noch nicht wissen.«

      Salvina richtete sich auf und beugte sich Paule entgegen. Mit angespitztem Mund sprach sie deutlich artikuliert: »Du hast ihn darum gebeten, bei ihm wohnen zu dürfen. Er wusste, dass du ohne seine Hilfe auf der Straße landen würdest.«

      Paule senkte das Gesicht und fixierte mit seinen müden Augen den Tisch. Er atmete laut und schwer. Beinahe flehend flüsterte er: »Ich will darüber nicht mehr reden.«

      Salvina beugte sich noch weiter vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Tisch. Mit leicht gerötetem Gesicht insistierte sie: »Du hattest gehofft, wieder eine Arbeit zu finden, wenn dir mein Vater wenigstens ein Zimmer gegeben hätte.«

      »Ja«, fuhr Paule, sich plötzlich aufbäumend, mit zittriger Stimme fort. Seine blassen Augen glänzten hilflos. »Wie du weißt, hatte er keinen Platz für mich.«

      Salvina wusste, dass nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu dreißig Menschen in den drei Wohnungen des Hauses gelebt hatten. In der zerstörten Stadt war Wohnraum knapp. Die Aufnahme fremder Menschen und ganzer Familien wurde von amtlicher Seite angeordnet. Das wusste sie von ihren längst verstorbenen Großeltern. Als Paule ihren Vater um eine Wohngelegenheit gebeten hatte, beherbergte das Haus gerade mal fünf Menschen.

      »Mein Vater hatte für niemanden Platz«, sagte sie. »Auch mir wollte er ein paar Jahre zuvor die Dachgeschosswohnung nicht geben, als sie frei wurde. Er hatte Angst, ich würde ihm die Miete nicht zahlen können, weil ich noch in der Ausbildung war. Verzichtet hätte er auf das Geld nie, selbst wenn er reich gewesen wäre.«

      Kaum sichtbar öffnete Paule seinen Mund und nuschelte: »Ich wäre ihm die Miete auch nicht schuldig geblieben. Aber dein altes Kinderzimmer wollte er nicht hergeben.«

      Salvina erinnerte sich, wie sich damals ihr Vater über Paules Anmaßung beschwert hatte. Ja, sie war sich sicher, ihr Vater hatte von Anmaßung gesprochen. Er wollte das Zimmer so lassen, wie es war, nichts darin verändern, was die Erinnerung an die vergangenen Jahre hätte abschwächen können. Aber die Wohnung im Dachgeschoss, in der sie zu dieser Zeit gewohnt hatte, war eine neutrale Wohnung, eine Wohnung, an die keine Erinnerungen geknüpft waren. Für sie wäre es leichter gewesen, Paule ihre Dachgeschosswohnung zu überlassen und zurück in ihr Kinderzimmer zu ziehen. Nein, sie traf keine Schuld. Wenn es für ihren Vater schon anmaßend war, dann erst recht für sie.

      »Wie lange ist das jetzt her?«, fragte sie. »Fünf, sechs Jahre? Januar war es, daran kann ich mich noch erinnern.«

      Paule nickte.

      »Nach diesem kalten Januar bekam mein Vater Schuldgefühle. Plötzlich hielt er mir vor, dass auch ich dir ein Zimmer oder die ganze Wohnung hätte geben können. Wenn es darum ging, seine Verantwortung abzuwälzen, kam mein Vater auf die abstrusesten Ideen.«

      Wieder nickte Paule.

      »Soll ich jetzt daran schuld sein?, habe ich ihm geantwortet. Paule war dein Freund, nicht meiner.«

      »Ich hätte dir nichts getan«, erwiderte Paule kurz.

      Salvina sprang auf, hetzte ziellos ein paar Schritte in der kleinen Küche umher und schleuderte ihm ein energisches »Nein!« entgegen. Dann schnaubte sie aufgebracht: »So einfach ist das nicht. Wir kannten uns kaum. Das konntest du nicht von mir erwarten. Es hätte auch andere Lösungen gegeben.«

      Als sie sich wieder umdrehte, sah sie Paule wortlos in kleinen, langsamen Schritten seinen mühevollen Weg humpeln und geknickt ihren Laden verlassen.

      Die oftmals ruhigen Vormittage nutzte Salvina, um die vielen kleinen Gegenstände des Ladens sauber zu halten. Mit Pinsel und Tuch entfernte sie die feinen Staubteilchen, die sich täglich bildeten. Antiquitäten müssen sauber, staub- und fettfrei sein, hatte ihr Vater sie als Kind ermahnt, wenn sie etwas berühren wollte. Daran musste sie jedes Mal denken, wenn sie den alten Pinsel in die Hand nahm. Als ihr Vater noch den Laden betrieb, hatten der Pinsel und das Staubtuch ihren festen Platz im Schrank unter der Registrierkasse. Mit der arbeitete Salvina noch immer, sie wusste aber nie, wohin sie Pinsel und Staubtuch am Vortag geräumt hatte. Meist fand sie beides schließlich dort, wo sie es zuletzt benutzt hatte.

      Nachdem sie eine Gruppe alter Porzellanfiguren abgestaubt hatte, begann es zu regnen. Sie legte Pinsel und Staubtuch neben den Porzellanfiguren ab und ging ans Fenster. Langsam fielen die feinen Tropfen auf die Straße. Allmählich wurde der Straßenbelag dunkler, dann begann er zu glänzen, schließlich überzog ihn ein dünner Wasserfilm, in dem die nun dicker und schwerer gewordenen Tropfen aufspritzten. Zwei Passanten eilten an Salvinas Laden vorbei und durchquerten ihr Blickfeld. Ihre Jacken zogen sie eng an sich. Danach regte sich auf der Straße nichts mehr. Salvina sah weiterhin auf den nassen Asphalt. Sie konnte stundenlang stehen und nichts tun. Im Nichtstun blieb ihre Zeit stehen, die Welt jedoch bewegte sich weiter. Je weniger sie dabei dachte, desto weniger spürte sie ihre Einsamkeit.

      Diese Fähigkeit hatte ihr in ihrer Kindheit geholfen, die Einsamkeit zu ertragen. Selbst im Kindergarten starrte sie scheinbar teilnahmslos vor sich hin. Wenn die Erzieherinnen sie fragten, weshalb sie nicht mit den anderen Kindern spielte, sagte sie nur, sie würde lieber beobachten. Irgendwann war sie für die anderen nicht mehr vorhanden. Selbst die Erzieherinnen schienen sie eines Tages nicht mehr zu bemerken. Wenn es regnete, stand Salvina vom Stuhlkreis auf und ging in den Hof, dem Regen zuzuschaun. Niemand hinderte sie daran. Doofer Stuhlkreis, hatte sie sich stets gedacht, und ihre Meinung darüber hat sie bis heute nicht grundlegend geändert. Sie fühlte sich schon als Kind nicht wohl, wenn Menschen im Kollektiv – wie gleichgeschaltet – alle dasselbe machen. Im Stuhlkreis war kein Platz für ihre Individualität. Mit viereinhalb hatte sie sich schließlich erfolgreich geweigert, auch nur einen Tag länger in den albernen Kindergarten zu gehen.

      In den noch verbliebenen zwei Jahren vor ihrer Einschulung hatte sie niemanden. Ihr Vater hatte keine Zeit, er kümmerte sich um den Laden. Ihre Großeltern hatten damals noch gelebt, aber weit außerhalb der Stadt. Nur selten war sie bei ihnen zu Besuch gewesen. Und im Block gab es außer ihr keine Kinder. In diesen Jahren stand Salvina oft den ganzen Tag in Gummistiefeln, Regenhose und Regenjacke mit Kapuze im Innenhof im Regen. Sie liebte ihre bunte Regenbekleidung aus Gummi. Und sie liebte den Regen. Mit ihrem Blick erfasste sie den gesamten Innenhof und schaute dem Regen zu, wie er alles mit seinem Glanz überzog.

      Sie schaute den Blättern der Bäume und Büsche zu, wie sie sich unter dem Gewicht des Regens immer weiter krümmten, wie sich an den Blattspitzen Tropfen bildeten, wie diese Tropfen stetig wuchsen und die Blätter schließlich wieder nach oben wippten und ihre natürliche Form annahmen, sobald die Tropfen schwer genug waren, um sich von den Blattspitzen zu lösen. Sie schaute dem Regen zu, wie er sich allmählich um Zweige und Äste schmiegte und diese mit seinem zarten und feuchten, silbrig glänzenden Film umschloss. Sie schaute den Tropfen des Regens zu, wie sie auf die großen Steine am Rand des Weges aufschlugen, dabei platt gedrückt wurden und in viele feine Tröpfchen zerstäubten. Und sie schaute und hörte dem Regen zu, wie er in unzähligen, scheinbar ungeordneten Tropfen zu Boden fiel, und doch in seiner harmonischen Vielfalt – gleich einer Symphonie – ein musikalisch anmutendes Rauschen erklingen ließ.

      Und sie beobachtete die Pfützen, wie die Regentropfen darin eindrangen, um gleich danach wieder emporzusteigen und