Stefan von der Weide

Salvinas Träume


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sofort erkennen. Dicht an die Mauern der alten Stadthäuser gedrängt, humpelte er in kleinen, langsamen Schritten seinen mühevollen, vom Fall gekennzeichneten Weg.

      Nach ein paar Schritten blieb er stehen und beugte sich noch tiefer. Nur mit Anstrengung konnte er den Boden erreichen. Dort hob er etwas auf, betrachtete es von allen Seiten und steckte es schließlich zwischen seine Lippen. Aus seiner Manteltasche holte er ein Feuerzeug und zündete den Zigarettenstummel an. Mehrmals zog er an dem Stummel, er nahm ihn nur vom Mund, um den inhalierten Rauch wieder auszuatmen.

      Plötzlich bekam er einen Hustenanfall. Der wenige Tabak war verbrannt, und die feinen Kunststofffäden des Filters begannen zu schmoren. Der ätzende Rauch raubte ihm den Atem. Nach mehreren Hustenattacken drehte er seine starre Hand, um die Glut der Zigarettenkippe sehen zu können, die er zwischen Zeigefinger und Daumen hielt. Schließlich warf er sie zu Boden und zwang seine schwachen Beine, den Weg fortzuführen.

      Salvinas Augen folgten ihm auf seinen letzten Metern. Noch einmal atmete sie kräftig durch. Sie wollte die Entschlossenheit der frischen, reinen Luft in ihren Tag hinüberretten. Dabei schaute sie dem alten Mann zu, wie er vor dem Eingang des Antiquitätenladens unterhalb ihrer Wohnung stehen blieb und sich wie jeden Tag dicht an die Tür drängte.

      Salvina schloss leise das Fenster, nahm den Schlüsselbund vom Tisch und verließ ihre Küche. Kurz inspizierte sie noch die Wohnung, ob alle Fenster geschlossen und alle Lichter gelöscht waren, dann trat sie von ihrem durch Spiegel und weiße Wände erhellten Flur ins düstere, stickige Treppenhaus. Schon als Kind hatte sie von einer Fensterfront geträumt, die sich über alle vier Etagen des Hauses erstrecken sollte, damit Licht und Leben das alte Treppenhaus durchfluten könnten.

      Die Deckenbeleuchtung stammte aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine einzige Lampe je Stockwerk, mehr wäre damals Luxus gewesen. Zu dieser Zeit war ihr Vater noch ein Kind. Für Luxus hatte seine Familie kein Geld. Das sah Salvina ein. Aber später hätte er eine weitere Lampe über der Wohnungstür anbringen und statt der schwachen Glühbirne eine mit hoher Leistung einsetzen können. Wie hatte er nur in dieser Dunkelheit das Schlüsselloch finden können?

      Einen Stock tiefer betrat Salvina den Laden. Sie schaltete das Licht im Verkaufsraum und in der kleinen Küche des Ladens ein, denn auch hier war es düster. Dann ging sie zur Eingangstür. Der alte Mann richtete sich bei ihrem Anblick auf, und seine Augen begannen zu leuchten. Lächelnd öffnete ihm Salvina die Tür und bat ihn herein. Ein morgendlicher Ritus.

      »Salvina, meine Kleine. Du wirst von Tag zu Tag noch hübscher. Aber was ist mit dir? Du lächelst und siehst trotzdem aus, als würdest du einen Trauerzug anführen.«

      »Findest du mich wirklich hübsch?«, fragte Salvina.

      »Also hör mal. Wenn ich jung wäre, dann …« Er stockte. Mit einer heftigen Armbewegung wischte er den Gedanken beiseite und trat an Salvina vorbei in den Laden.

      Paule kannte den Weg in die kleine Küche. Wie jeden Tag eilte er voraus, ohne die dicht gedrängten Möbelstücke, Vasen, Gläser etc. zu streifen. Schon oft war Salvina aufgefallen, dass er in ihrer Nähe nicht humpelte. Sie schloss die Tür und folgte ihm.

      In der Küche blieb Paule wie jeden Tag neben dem Tisch stehen. Als würde er sich erst dort bewusst werden, dass der Laden nicht sein Zuhause war, wartete er, bis Salvina ihm seinen angestammten Platz anbot. Aber Salvina trat an die Arbeitsplatte und bereitete den täglichen Kaffee. Sie vergaß es, Paule Platz anzubieten. Während die Kaffeemaschine lief, fragte sie: »Was wäre dann, wenn du noch jung wärst?«

      Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er sich noch immer unsicher an der Stuhllehne festklammerte und sich nicht zu setzen traute. Und sie beobachtete, wie bei ihrer Frage sein Gesicht sofort errötete. Zögernd antwortete er: »Dann würde ich dich fragen, ob du mich heiratest.«

      Salvina machte einen Schritt zur Seite. Einen Schritt weg von Paule und hin zum Fenster. Einen unnötigen Schritt, denn sie war zuvor schon außer Griffweite von ihm gewesen. Jetzt stand sie seitlich zur Kaffeemaschine und musste ihren Arm fast verrenken, um sie ausschalten und die Kanne entnehmen zu können. Auf ihrem Weg zum Tisch erwiderte sie: »Warum solltest du ausgerechnet mich heiraten wollen? Deine Frau war nicht nur hübscher als ich, sie war ausgesprochen schön. Und ihr habt euch geliebt. Du brauchst mir nicht zu schmeicheln. Ich weiß, wie ich aussehe. Und heiraten werde ich sowieso niemals.«

      »Red keinen Unsinn! Wer unglücklich sein will, findet immer einen Grund dafür. Wenn du ehrlich bist, dann musst du zugeben, dass es die Natur gut mit dir meint.«

      »Setz dich erst einmal hin«, sagte Salvina und rückte ihm den Stuhl etwas nach hinten, damit er mit seinem schwerfälligen Körper Platz nehmen konnte. Dann schenkte sie ihm seinen täglichen Kaffee ein und setzte sich zu ihm.

      Sie schaute auf sein langes, struppiges Haar. Klebrige, verfilzte Strähnen hingen herab. Entlang seines Haaransatzes zog sich ein fast schwarzer Schmutzrand. Wie gebannt blickte Salvina Paule an. Als er ihren Blick erwiderte, schaute sie hastig zur Seite und sprach weiter:

      »Weißt du, Paule, als ich noch ein Kind war, hat mich mein Vater oft mein hässliches Entlein genannt, wenn er nett zu mir sein wollte. Das prägt.«

      Paule nickte nachdenklich und sagte in seiner ruhigen Stimme: »Ja, all das prägt uns, von dem wir wollen, dass es uns prägt. Aber sag mal, das hässliche Entlein, war das nicht der von allen verkannte Schwan? Schwäne sind majestätisch. Dein Vater wollte damit bestimmt nur deine nicht sofort ins Auge stechende Schönheit andeuten.«

      »Siehst du, jetzt sagst du es selbst, dass ich nicht schön bin.«

      »Nein, das sage ich nicht. Deine Schönheit ist nur nicht so augenfällig. Auf den ersten Blick wirkst du eher unscheinbar, aber je länger man dich ansieht, desto mehr erkennt man, wie schön du bist. Menschen, die ihre Schönheit offen zur Schau stellen, verblassen dagegen bei genauerer Betrachtung.«

      Salvina schüttelte den Kopf. Mit zusammengekniffenen Augen entgegnete sie: »Das ist lieb von dir, aber ich weiß, dass mich mein Vater wegen meiner langen und krummen Nase so genannt hat. So lang und krumm wie der Hals eines Schwans.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Außerdem schauen mir alle fremden Leute immer zuerst auf die Nase, wenn ich mit ihnen spreche.«

      »Und deshalb meinst du, dass du hässlich bist.«

      »Nein«, antwortete Salvina. »Hässlich bin ich nicht, aber meine Nase entstellt mein Gesicht. Ich weiß, dass ich nicht hübsch bin.«

      Paule lachte. Dabei hob sich sein Oberkörper stoßweise, sodass Salvina den Eindruck hatte, er würde kollabieren. Nach ein paar Stößen beruhigte er sich wieder und sagte: »Deine Nase ist ungewöhnlich, und die Leute schauen immer auf das, was nicht ihrer Vorstellung von Norm entspricht. Ich finde sie interessant.«

      »Das behaupten alle, dass sie das Ungewöhnliche interessant finden. Aber wenn sie die Wahl haben, entscheiden sie sich für das Gewöhnliche, weil ihnen nur das wirklich gefällt.«

      Diesmal wiegte Paule nachdenklich den Kopf. Nach einer Weile sagte er: »Das glaube ich nicht, dass sich die Menschen für das Gewöhnliche entscheiden, weil es ihnen besser gefällt. Ich glaube, sie entscheiden sich dafür, weil es ihnen bekannter ist. Das Bekannte lässt sie vertrauen, und Vertrauen gibt ihnen Sicherheit. Die Menschen brauchen Sicherheit, damit sie an ihre Zukunft glauben können, deshalb wählen sie das Gewöhnliche.«

      Salvina verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Dabei sah sie zur Zimmerdecke und entgegnete: »Warum sich die Menschen für das Gewöhnliche entscheiden, ist mir egal. Ausschlaggebend ist für mich, dass ich nicht hübsch bin. Und das hat mir mein Vater schon gezeigt, als ich noch ein Kind war. Er hatte kein Gefühl für die Verletzbarkeit der Seele eines Kindes.«

      »Du willst sagen, dein Vater hatte kein Gefühl für deine Verletzbarkeit«, fiel ihr Paule ins Wort. Er fixierte Salvinas Augen, beobachtete ihre Reaktion. Da sie aber noch immer zur Decke sah, sprach er weiter: »Er wollte dich nicht verletzen. Er wollte dir zeigen, dass er dich so liebt, wie du bist.«

      »Mein Vater?«, rief Salvina mit erhobener Stimme und wandte sich