Stefan von der Weide

Salvinas Träume


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war es still. Wie grauer Nebel machte sich die Stille im Raum breit und verdrängte alles Lebendige. Die Anwesenheit des Todes lässt alles Leben verstummen. Salvina saß noch lange neben dem leblosen Körper, der noch vor wenigen Stunden ihr Vater gewesen war. Sie spürte einen tiefen Schmerz in ihrem Leib, ihr Bauch schnürte sich zusammen, ihre Atmung wurde flach, ihr Geist leer, ihr Gemüt taub. Erst jetzt hatten sich die ersten Tränen gelöst. Es war der Schock, der sie – wie eine Wand aus dickem, milchigem Glas – von der Realität getrennt hatte. Es war auch der Schock, der sie die vergangenen ein, zwei Stunden wie in Trance hatte handeln lassen. Doch jetzt löste sich der Schmerz und überflutete ihre Seele mit einem Sturzbach aus Trauer, Verzweiflung und auch Wut. Lange saß sie am Bett ihres toten Vaters, halb auf ihm liegend, ihr Leib bebte, ihre Haut im Gesicht und am Hals weichte auf von der Flut ihrer Tränen und wurde rot und wund. Salvina konnte die Tränen nicht stoppen. Gegen diesen Schmerz und diese Trauer war sie machtlos.

      Später rief sie ein Bestattungsinstitut an, und nach wenigen Stunden musste sie zusehen, wie zwei Männer den Körper ihres Vaters in einen Sarg legten, den Sarg verschlossen, und ihren Vater darin wie eine Ware abtransportierten. Plötzlich war sein Leben nicht mehr. Seine Wohnung war leer und stumm, zu einer Kulisse erstarrt.

      Doch jetzt kniete er neben ihr, in ihrem Schlafzimmer, das damals das seine gewesen war. Hier hatte er gelegen, in seinem Bett, als sie ihn gefunden hatte. Salvina hatte sein Bett nach seinem Tod verkauft. Damals lag er im Bett und bewegte sich nicht mehr, und Salvina kniete neben ihm und versuchte, ihn ins Leben zurückzuholen, zurück zu ihr, sie hatte nur ihn. Jetzt lag sie in ihrem neuen Bett, und er kniete neben ihr.

      Salvina schrie aus voller Brust. Sie hatte Angst. Der Mann an ihrem Bett konnte unmöglich ihr Vater sein. Ihr Vater war tot, sie selbst hatte doch seinen Tod festgestellt, sie selbst hatte ihn begraben. Und trotzdem war er es, der neben ihr kniete. Entgegen jeglicher Vernunft wusste sie, spürte sie, dass er es war.

      Wie oft hatte sie in den vergangenen Jahren glauben wollen, er hätte lediglich eine Reise unternommen. Wie oft hatte sie glauben wollen, er stünde plötzlich vor der Tür, zurückgekehrt von dieser Reise. Immer wieder versuchte sie zu begreifen, dass seine Reise eine Reise ohne Wiederkehr war. Aber sie konnte es nicht begreifen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wohin ihr Vater so plötzlich verschwunden war. Sie wollte es nicht glauben, dass sich das Leben auflöst und nichts davon übrig bleibt.

      Plötzlich wurde sie von einem lauten Donnerschlag aufgeschreckt. Der Donner befreite sie aus der Umklammerung ihrer lähmenden Angst. Noch im Aufwachen schrie sie mit ihrer tiefen Stimme. Doch ihr Schrei war nicht so kräftig und frei, wie sie ihn geträumt hatte, er war verhalten, mehr ein tiefes Stöhnen. Sie saß aufrecht in ihrem Bett, nur ihre Füße steckten unter der Bettdecke. Wieder durchzuckte ein gleißend heller Blitz die dunkle Nacht. Sofort zischte und polterte der Donner, als wollte er die ganze Stadt in Schutt und Asche legen. Dann prasselte der Regen.

      Im Schein des Blitzes konnte Salvina sehen, dass sie alleine war. Wo war ihr Vater? Noch eben hatte er seine Bitte ausgesprochen, er konnte nicht plötzlich verschwunden sein. Panisch griff sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Mehrmals musste sie nachfassen, bis ihre Finger den Kippschalter greifen konnten. Als sie ihn drückte, und die kleine Lampe ihr Schlafzimmer in ein mildes Licht tauchte, erkannte sie die Wirklichkeit. Sie hatte geträumt. Sie hatte die Rückkehr ihres Vaters nur geträumt.

      Allmählich schlug ihr Herz ruhiger, und ihre Anspannung legte sich. Erschöpft sank sie zurück in ihr Bett. Sie zog die Decke bis unters Kinn und atmete tief durch. Manchmal durchlebte sie ihre Träume so realistisch, dass sie nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Es waren die Details, die es ihr schwer machten, ihre Erlebnisse einzuordnen.

      Sie starrte auf die Zimmerdecke und klammerte sich mit beiden Händen an die Bettdecke, so, als wollte sie sich darunter verstecken. Sie fragte sich, weshalb sie im Traum diese panische Angst vor ihrem Vater hatte. Niemals zuvor hatte sie Angst vor ihm gehabt. Weder zu seinen Lebzeiten noch in ihren Träumen nach seinem Tod. Es konnte also nicht sein, dass sie vor ihm Angst hatte. Ihr Vater musste in diesem Traum für etwas stehen; in Form eines Gleichnisses etwas repräsentieren. Doch was?

      Sie wusste, dass Träume mit Symbolen arbeiten. Schon oft hatte sie versucht, die Symbolsprache ihrer Träume zu entschlüsseln. Schon oft war sie daran gescheitert. Und diesmal drohte sie wieder zu scheitern, denn das Einzige, was ihr zu ihrem Vater einfiel, war, dass er tot war.

      Das ist es, dachte sie augenblicklich. Mein Vater symbolisiert in diesem Traum den Tod!

      Und davor hatte sie Angst. Sie hatte Angst vor der Unabänderlichkeit des Todes. Sie hatte Angst, sterben zu müssen.

      Aber es gab keinen Grund, keinen aktuellen Anlass. Sie war jung, sie war gesund. Sie hatte ihr Leben noch vor sich. Aber das Leben raste an ihr vorbei. Sie lief Gefahr, ihr Leben zu versäumen. Sie lief Gefahr, sich im Alltag zu verlieren.

      Als Kind hatte sie davon geträumt, in Weiß zu heiraten. Sie hatte davon geträumt, nicht mehr allein zu sein. Gemeinsam mit ihrem Mann wollte sie ihre Einsamkeit überwinden. Und Kinder wollte sie haben, mindestens einen Jungen und ein Mädchen. Damals hatte sie sich oft Geschwister gewünscht; ihre eigenen Kinder sollten es besser haben als sie. Doch Kinder ahnen nichts davon, dass viele ihrer Träume Stück für Stück zerbröckeln, sobald sie erwachsen werden. Das mit der Hochzeit hatte bis jetzt nicht geklappt. Das mit den eigenen Kindern auch nicht. Jetzt war sie achtundzwanzig und hatte immer noch keinen Mann gefunden, mit dem sie Kinder haben wollte. Es gibt keine Männer mehr, die Verantwortung übernehmen wollen, dachte sie. Zumindest lernte sie solche Männer nicht kennen. Aber das war kein Wunder, denn die Männer, die sie kennenlernte, waren ausschließlich Kunden ihres Ladens, und die waren meist wesentlich älter als sie, etabliert und uninteressant. Sie sehnte sich sehr nach Liebe, nach Zweisamkeit, nach Vertrauen und nach einer eigenen Familie.

      Salvina löschte das Licht und schlief weiter.

      Am Morgen stand sie mit weißen Socken in ihren weißen Sandalen am offenen Fenster ihrer Küche. Kühle Morgenluft umwehte ihr Gesicht. Sie liebte das befreiende Gefühl der frischen Luft an Hals und Nacken. Meist flocht sie ihr Haar zu einem dicken Zopf, mit dem sie auch die Stirn- und Schläfenhaare bändigte, damit kein Haar ihren Hals bedeckte.

      Sie schloss die Augen und atmete dreimal tief durch. Danach beugte sie sich weit nach vorne, stützte sich auf die Ellbogen und sah an der Außenmauer des Hauses hinab auf die Straße.

      Der heiße Sommer war nun endgültig vorbei. Die Luft war klar und rein an diesem Montagmorgen. Die Gewitterfront der Nacht hatte alles abgekühlt und die Schwüle vertrieben. Das Grün der Bäume in dem kleinen, nahe gelegenen Park war schon seit vielen Tagen mit braunen Flecken durchsetzt. Viele Blätter waren während der nun vergangenen Hundstage vertrocknet und schrumpelig geworden, für eine herbstliche Färbung war es noch viel zu früh. Aber der nächtliche Regen würde den Bäumen das Grün nicht wieder zurückgeben können. In zwei Monaten würde sich die Natur dann ihrem Winterschlaf mit einem letzten Feuerwerk ergeben.

      Die Natur und auch wir Menschen streben gerne auf Höhepunkte zu. Im Höhepunkt liegt die Fülle des Lebens. Die Quellen der Freuden und des Glücks scheinen unversiegbar zu sein, solange es – dem Höhepunkt entgegen – bergauf geht. Doch jeder Höhepunkt ist auch der Beginn des Abstiegs. Der Höhepunkt ist gleichzeitig der Wendepunkt in der Natur, im Leben – und auch bei uns Menschen. Dort, wo das Leben am üppigsten ist, zeigt sich schon dessen Ende. Am Höhepunkt des Sommers sind die ersten Früchte gereift, und es fallen die ersten Blätter von den Bäumen. Am Höhepunkt des Sommers wird die Erde trocken und das Gras braun. Was dann noch kommt, trägt nicht mehr die Hoffnung auf eine Steigerung in sich. Was dann noch kommt, sind letzte Feuerwerke, sind die Funken des erlöschenden Feuers. Was dann noch kommt, ist die Erinnerung an die Blütezeit des Lebens. Es ist der Abstieg, der schneller geht als der Aufstieg. Die Knochen schmerzen, die Muskeln sind müde, die Kraft lässt nach. Im Abstieg freuen wir uns auf die Ruhe. Doch im Abstieg lauert eine große Gefahr, denn nicht selten kommt mit dem Abstieg auch der Fall.

      Salvina kannte diese Gefahr sehr gut. Sie hatte sie schon bei sich selbst gespürt, bei anderen erlebt. Und nun sah sie am Ende der schmalen Straße einen alten