Peter H. Brendt

Eisen und Magie: Auf der Flucht


Скачать книгу

kletterte auf die Mauer, verjagte die Krähen und holte die Schädel herunter. Besonders liebevoll trug er den Kopf des Abts, Echzel. Der Abt war all die Zeit sein väterlicher Freund und Lehrer gewesen. Ein Hieb hatte sein Gesicht entstellt, die Schädeldecke war geöffnet und Sheen konnte bis auf das Gehirn seines Mentors sehen.

      „Mein Jahr der Steine ist vorbei, Echzel“, weinte er. „Du hast mir versprochen, jetzt kommt das Jahr des Lebens, des Heilens. Alle Wunder wolltest du mir zeigen. Du sprachst davon, mir beizubringen, wie das Leben funktioniert. Welche Aufgabe Herz, Muskeln haben. Und den Ort, wo der Geist wohnt, der Gedanke, die Vernunft und das Fühlen.“

      In seiner Trauer meinte er, die Stimme des Abts zu hören. Leicht spöttisch, wie immer: „Schau mich an, dummer Junge!“ Doch Sheen sah nur einen abgetrennten Schädel und die mäandernden Linien des Gehirns unter einer blutigen Haut.

      Er trug alle drei Köpfe in die Küche des leeren Klosters, noch unschlüssig, was er tun sollte. Und so versunken in seine Trauer, dass er die leisen Schritte hinter sich nicht vernahm.

      Plötzlich flog ein Gegenstand gegen die Wand, Sheen erschrak, und erkannte einen kleinen Kasten. „Das Schatzkästchen!“ entfuhr es ihm.

      „Richtig! So hat er es genannt.“ Der Novize kannte den Krieger, der sich in die Küche geschlichen hatte. Lord Sagenbredt war mehrmals Gast im Kloster gewesen.

      „Und weißt du, was drin war, Junge?“

      „Backpflaumen. In Honig eingelegt und getrocknet.“

      „Nennst du das einen Schatz?“

      „Für Bruder Vuchs war es sein Schatz. Der Abt wollte nicht, dass er nascht. Sein Körper vertrug den Zucker nicht. Nur ab und an erlaubte Echzel es ihm. In dem Kasten verwahrte er die Pflaumen und versteckte ihn. Denn Bruder Vuchs war wie wild hinter den Früchten her.“

      „Glaubst du, er hat gewusst, wo sie verborgen waren.“

      „In der Küche, das war allen klar. Aber nur der Abt wusste, wo genau.“

      „Sehr erfinderisch, dein Abt.“

      „Er war Vater und Lehrer. Was ist hier passiert. Wer hat das getan?“

      Der Lord grinste.

      „Ich fürchte, ich bin dafür verantwortlich. Der Abt besaß etwas, was ich suche. Und er wollte es mir nicht geben.“

      „Warum so viel töten. Warum .?“

      „Unwichtig für einen Novizen. Ich habe es nicht gefunden. Das Schatzkästchen war eine falsche Spur. Du bist noch am Leben und wirst mir weiterhelfen!“

      „Aber, ich weiß kein bisschen!“

      „Wir werden sehen. Vonhagen ist unterwegs, doch für einen Jungen sollten meine Kenntnisse der Folter wohl ausreichen.“

      Für einen gerüsteten Mann war der Lord erstaunlich beweglich. Bevor Sheen flüchten konnte, wurde er gepackt und gegen die Mauer gedrückt. Der Novize war trotz aller Anstrengung nicht in der Lage, sich aus dem harten Griff des Kriegers zu winden. Hilflos blieb er dem Mörder seiner Freunde ausgeliefert.

      „Wo ist das Pergament! Und glaube mir, Junge. Ich habe diese Frage heute so häufig gestellt, dass ich keine Lust habe, sie zu wiederholen.“

      Sheen überlegte. Welches Pergament? Was war im Kloster so wertvoll, dass es dieses Töten, diese Zerstörung rechtfertigen könnte.

      Sagenbredt zog ein Messer und setzte es ihm an die Kehle.

      „Finde ich es nicht, steche ich dich ab und brenne das ganze Gebäude nieder. Es reicht, wenn ich sicher sein kann, dass es vernichtet worden ist und niemand den Inhalt kennt. Mit anderen Worten, Novize Sheen, gibst du es mir, lasse ich dich laufen. Anderenfalls töte ich dich, und du verbrennst zusammen mit diesem ärmlichen Kloster.“

      Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, schnitt er leicht in den Hals seines Gefangenen. Der Junge spürte Blut in einem dünnen Rinnsal fließen. Er beobachtete, wie es über die Messerklinge langsam um den Griff herum auf den Handschuh des Lords floss.

      Er schaute auf den abgetrennten Kopf seines Lehrers. Er folgte den Maserungen des offen gelegten Gehirns und vermisste Echzels Stimme, die ihm erklärte, was diese Adern und Furchen bedeuteten.

      Sheen blickte Sagenbredt an. Direkt ins Gesicht, dann stellte er sich hinter den Augen, das Schädelinnere seines Gegners vor. In Gedanken zog er die feinen Linien, die er jetzt kannte, nach und dachte an Feuer.

      Abt Echzel hatte ihm erklärt, dass das Hirn im Kopf wie in einer Schale schwimme. Wie alle anderen Organe bestehe es zu einem großen Teil aus Wasser. Die Wucht der Flamme verdampfte Flüssigkeit und Gehirn mit solcher Gewalt, das es den Hinterkopf des Lords wegsprengte.

      Für Sheen blieb nicht viel zu tun. Er steckte den Kasten zu seinem Buch in die Tasche und nahm Abschied. In Gedanken zeichnete er die feinen Linien der Holzbalken im Dach nach und dachte an das Feuer.

      Er wartete und beobachtete, wie sein Zuhause verbannte. Sein Vorsprung vor den Soldaten war nicht groß, aber er brauchte die Zeit, um loszulassen.

      Der Weg führte jetzt nach Thowerg, wo ein anderes Kloster ihn aufnehmen könnte. Mit Glück fände der dort Antworten auf viele Fragen. Er war entschlossen, seine Studien zu beenden und seine Mitbrüder zu rächen.

      Am Fluß

      Er saß in der Falle.

      Bisher war es ihm gelungen, sich vor seinen Verfolgern zu verbergen. Doch seine Zeit lief ab. Nur noch Minuten, bis die Kette der Soldaten sein Versteck finden würde. Der einzige Ausweg, der Sheen blieb, bot der zugefrorene Fluss, in dessen Richtung ihn seine Häscher trieben.

      Dazu musste er allerdings sein Lager verlassen und ohne Deckung über das schon brüchige Eis laufen. Sein Tritt schüttelte einen kleinen Baum, unter dem er sich verkrochen hatte. Eine Ladung feuchten Schnees fiel auf seine graue Kutte. So hob er sich weniger gegen die aschfahle Eisfläche ab. Diese Tarnung sollte ihm etwas Vorsprung verschaffen.

      Er würde jede Sekunde brauchen.

      Die Reiter hetzen ihn bereits einen halben Tag. Er hatte den Fehler gemacht, sich allzu lange beim brennenden Kloster aufzuhalten. Doch er konnte von der Stätte, die so viele Jahre seine Heimat war, nicht ohne Abschied weglaufen. Im Feuer verbrannten auch die Körper seiner toten Freunde. Mit seinem Tod schlossen seine Verfolger ihren Mordauftrag ab. Danach gab es für ihr Verbrechen keinen Zeugen mehr.

      Der Tritt gegen den Baumstamm stellte sich als Fehler heraus.

      Das kurzes Zittern des Baums erregte die Aufmerksamkeit eines Soldaten. Ein kurzer Zuruf und die Disziplin und Ausbildung der Reiter zahlten sich aus. Der Kreis um Sheen zog sich zusammen.

      Dann also über den Fluss.

      Die ersten Meter waren einfach. Doch je mehr er sich der Flussmitte näherte, desto dünner und brüchiger wurde das Eis. Leises Knirschen begleitete jeden seiner Schritte. Er würde schneller laufen müssen.

       Tschok!

      Er kannte dieses Geräusch. Einer der Reiter besaß eine Armbrust und hatte sie abgeschossen. Die Distanz zwang den Schützen, sein Geschoss in einem Bogen abzuschießen. Es sollte nach 1-2 Sekunden nach dem Schussgeräusch einschlagen.

      Sheen warf sich nach rechts. Der Bolzen traf neben ihm das Eis, prallte ab und schlitterte wenige Meter über die Fläche.

      Die Eisdecke wurde immer dünner. Feine Risse bildeten sich bei jedem Tritt und der Novize beschleunigte seine Schritte.

       Tschok!

      Ein kurzer Sprung nach links.