feilbietet, empfinden wir eine Geborgenheit, die draußen fehlt.
Fast immer ist der Gang über die Promenade ein Schlängeln durchs Gewimmel. Wer angerempelt wird, tastet unwillkürlich nach seiner Brieftasche. Es herrscht ein Treiben, das nicht nur viel verheißt, sondern auch manches befürchten lässt. Gigolos halten lauernd Ausschau, Mädchen locken mit kurzen Röcken und engen, langschäftigen Stiefeln, agile Männer bieten unauffällig Geldtausch zum Schwarzmarktkurs, zwielichtige Gestalten schlendern scheinbar gleichgültig vorbei, und mehrmals begegnen wir einer jungen Stadtstreicherin, die Passanten um Geld für Palinka anbettelt. Ist Schnaps schon das allerletzte Trostmittel für sie? Helfen wird er ihr nur kurze Zeit, vielleicht aber das Einschlafen erleichtern, wenn sie sich irgendwo in ihre schäbige Decke wickelt, die sie, zweifach gefaltet, wie ein Zunftzeichen auf der rechten Schulter trägt.
Kioske, Verkaufsstände und Cafés lenken uns ab. Vieles, was angeboten wird, erscheint uns billig: Hamburger, Hotdog, gebratener Fisch, Palacsinta, Obst. Vor allem aber Eis. Zehn Forint die Kugel, nicht mal fünfundzwanzig Pfennige. Unsre Kinder erkennen die Gelegenheit und nutzen sie ausgiebig.
Am dritten Tag ändert sich das Wetter. Es wird nahezu windstill, die Sonne glüht am wolkenlosen Himmel, und der See glitzert silbrig. Wir verbringen viel Zeit am Strand. Nach und nach flanieren wir durch alle Stadtteile, bestaunen den imposanten Wasserturm, verweilen am Hafen und vor dem Rathaus, schlendern durch die Markthalle. Knoblauch, Honigmelonen und Reisigbesen lassen mich wieder an Vaskút denken. Ich spüre, dass ich der Begegnung entgegenfiebere.
Durstig geworden, kehren wir ein. Die Bedienung ist freundlich, doch wir haben den Eindruck, sie berechnet uns zu viel. Schon im Hotelrestaurant ist uns aufgefallen, dass wir für die gleichen Getränke ständig andre Preise bezahlen. So lange die Differenzen gering bleiben, tolerieren wir sie. Erst am letzten Tag greife ich ein. Nach einem Essen, das unsre Erwartungen nicht erfüllt hat, kritzelt der Kellner emsig Ziffern aufs Papier. Wie gewohnt, erscheint uns die Summe zu hoch. Ich habe nur einen Fünftausend-Forint-Schein. Der Kellner fuschelt das Wechselgeld aus seiner Brieftasche, wirft die Banknotenknäuel lässig auf den Tisch. Sein Gebaren und das rasche Entfernen lassen mich misstrauisch werden. Beim Nachzählen erhalte ich Gewissheit: Es fehlen tausend Forint! Der zurückgerufene Kellner lächelt treuherzig, entschuldigt sich wortreich und gibt mir bereitwillig das fehlende Geld. Ich habe den Eindruck, es betrübt ihn kein bisschen, erwischt worden zu sein.
Die Platanen mildern meine Verstimmung. Erneut bewundere ich ihre urwüchsige Robustheit. Abends kann ich nicht einschlafen. Liegt es am Straßenlärm? Oder bin ich unruhig, weil wir morgen nach Vaskút fahren werden? Ich sehe den Ort überdeutlich, und ich versuche, mir Teri vorzustellen. An jenem verhängnisvollen Nachmittag war sie noch ein Kleinkind und später, bei unsrer letzten Begegnung, ein junges Mädchen. Inzwischen hat sie längst Familie. Géza, ihren Mann, und Marika, die Tochter, kenne ich nur von Fotos. Siebenundzwanzig Jahre sind fast eine Ewigkeit.
Nach dem Frühstück brechen wir auf. Sobald die Stadt hinter uns liegt, können wir beinahe ungehindert fahren. Bis Szekszárd bleibt die Landschaft bergig, bei Bátaszek ist sie hüglig, und vor Baja wird sie eben. Wir passieren die Donau über eine Brücke, wenden uns südwärts.
Noch acht Kilometer, sehe ich auf dem Ortsausgangs-Schild, bis Vaskút!
Die Landstraße führt schnurgerade ins Dorf. Ich merke, wie mir das Herz klopft. Was ich sehe, erscheint mir vertraut. Gleichzeitig empfinde ich, dass es eine Veränderung gibt. Doch ich erfasse nicht, worin sie besteht.
Vor dem Gemeindeamt biege ich rechts ab. Da ist die Post, dort die Apotheke, und auf der anderen Seite hat mein erster Lehrer gewohnt. Wie oft bin ich als Kind hier entlanggegangen? Die Erinnerung wird übermächtig. Muss ich mich an der nächsten Kreuzung nach links wenden? Das Auto rollt im Schritttempo, mein Blick tastet über die Fassaden. Doch sie wirken fremd, es ist die falsche Straße. Erst an der nächsten Ecke das ersehnte Schild: Gróf-Szécheniutca.
Nur flüchtig registriere ich, dass der einst staubige, von schweren Wagenrädern zerfurchte Fahrweg asphaltiert ist. Meine Spannung wächst, dringt bis in die Fingerspitzen. Da ist das Haus. Beim Aussteigen begreife ich, was sich noch verändert hat: Die Akazien, die früher alle Gehwege gesäumt haben, sind gefällt. Ihren Platz nehmen Obstbäume ein. Ehe ich weiß, wie ich mich verhalten soll, betritt eine ältere Frau die Straße. Nach einem Blick auf unser Auto, redet sie mich deutsch an. Sie spricht, wie meine Großmutter bis zu ihrem Tod gesprochen hat. Sobald sie weiß, wer ich bin, eilt sie in das Gehöft zurück, kommt wieder und bittet uns hinein. Sie sei eine Nachbarin, sagt sie, und wolle beim Verständigen helfen.
Der Hof, das Haus, sehe ich, sind kleiner als in meiner Vorstellung. Trügt auch das andere?
Der Gendarm war unerwartet gekommen. Meine Eltern fühlten sich schuldlos, sie hatten sich loyal verhalten, nicht dem „Volksbund“ angehört, pünktlich Steuern gezahlt, bis zuletzt in der Stellmacher-Werkstatt und auf dem Feld gearbeitet. Warum sollten gerade wir fort? Der Uniformierte konnte uns keine Auskunft geben. Es interessierte ihn auch nicht. Er hatte einen Befehl: Eine Stunde Zeit zum Packen, dann würde ein LKW vorfahren und uns zur Bahn bringen.
Wir bündelten fieberhaft und kopflos, was uns in die Hände geriet. Die ganze Tragweite würden wir wesentlich später erfassen. Noch nicht auf der langen Güterzugfahrt durch die Tschechoslowakei, auch nicht im Pirnaer Auffanglager. Erst in Görlitz, wo wir zu viert ein möbelloses Zimmer beziehen durften und monatelang auf Stroh schliefen, begriffen wir, dass kein Wunder mehr geschah, die Vertreibung endgültig war, wir uns in dem neuen Umfeld behaupten mussten.
Für mich hieß es Schule. In die vierte Klasse versetzt, obwohl ich drei Jahre nur ungarisch gelernt hatte, bereitete es mir größte Mühe, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen. Die ersten Diktate waren voller Fehler, durch die ich mich schuldlos gedemütigt fühlte. Fleiß und Ehrgeiz halfen mir, die Rückstände aufzuholen, aber das erlittene Trauma blieb, am stärksten bei Großmutter und meinen Eltern, die das Entwurzeln bis zuletzt nicht verwanden.
Sie haben öfter als ich an Vaskút und unser Haus gedacht, das sie bauten, als ich ein Jahr alt war. Es wurde gerade noch fertig, ehe der Zweite Weltkrieg begann. Vorher hatte eine reetgedeckte Kate dort gestanden, errichtet von meinen Vorfahren, die um 1750 aus dem südlichen Schwarzwald Maria Theresias Ruf gefolgt waren. Das Dorf dehnte sich rasch aus, nahm als Schachbrett-Siedlung städtischen Charakter an, hatte, als wir vertrieben wurden, fast 5000 Einwohner. Über 85 Prozent waren Deutsche. Wie groß mag ihr Anteil jetzt noch sein?
Zögernd betrete ich die seitlich angebaute Küche, wo ich mir an bitterkalten Wintertagen die Hände überm Sparherd gewärmt habe. Ein altes Ehepaar begrüßt uns. Es geschieht freundlich, aber mir scheint, dass beide verunsichert sind. Fürchten sie, dass unser Auftauchen Konsequenzen für sie haben könnte? Falls es so ist, sorgen sie sich grundlos. Die ungarische Regierung hat zwar erklärt, dass unsere Vertreibung Unrecht war. Doch dabei wird es bleiben. Man hofft aufs Vergessen, die eliminierende Wirkung der Zeit. Sie tilgt viel, aber wohl nie alles.
Was in mir geschwelt hat, flackert auf. Muss ich mir nicht doppelt betrogen vorkommen? Wären wir ein Jahr vorher nach Bayern oder Hessen ausgesiedelt worden, hätten meine Eltern einen Lastenausgleich erhalten. In Görlitz durfte man kaum über seine Herkunft reden, wollte man nicht in den Verdacht geraten, ein Revanchist zu sein. Das staut Gefühle, nährt die Bitterkeit. Mein Groll richtet sich nicht gegen den alten Mann und seine Frau, die uns Kuchen anbietet. Letztlich sind sie Opfer wie ich. Durch die Benesch-Dekrete aus der Slowakei vertrieben, hatten sie allerdings mehr Glück als wir. Statt eines leeren Zimmers bekamen sie ein komplett ausgestattetes Haus. Doch mindert das ihre Redlichkeit? Sie hatten auf dem Anwesen getan, was ihnen möglich war. Nötig wäre mehr gewesen.
Die auffälligste Veränderung ist, dass es eine Wasserleitung gibt. Wo sich der Ziehbrunnen befand, wachsen jetzt Rosen. Am Tag, als der Gendarm erschien, schwamm eine Melone zum Kühlen darin. Später habe ich mich oft daran erinnert, wehmütig wie an die Weintrauben, Aprikosen, Maulbeeren und Pfirsiche, als ich auf den Feldern im Umkreis der Landeskrone mit Großmutter Ähren las oder Kartoffeln stoppelte, eine dünne Schicht Kunsthonig auf den Vesperbroten und Igelitschuhe an den Füßen.
Dass wir durch die Vertreibung