die zweite begann, menschliche Nähe. So ein verwaistes Tier brauchte nicht nur Nahrung, sondern auch Zuwendung, die wir ihm, darüber waren wir uns sofort einig, gern geben wollten. Ein bisschen hegten wir bloß Sorge, dass er, wie es seiner Natur entsprach, unsre Macska Schneewittchen erbarmungslos bekriegen würde. Doch zu unsrem Erstaunen vertrug er sich mit ihr, als ahnte er, dass es in so schlimmen Zeiten nicht günstig wäre, durch Angriffslust unangenehm aufzufallen. Da er nicht nur die Katze in Ruhe ließ, sondern auch sonst ein gutmütiges Verhalten zeigte, wurde er rasch mein Freund und Spielgefährte, der mit mir im Garten tollte, sich das weiche Fell zausen ließ und jeden Gegenstand, den ich wegwarf, willig apportierte.
Wenn ich auf meinen Dorfgängen, zu denen ich Betyár meist mitnahm, feindselige Blicke der ungarischen Jungen spürte, die an den Straßenecken herumlungerten, gab mir seine Anwesenheit Rückhalt, und ich glaube ganz fest, dass er mir im Notfall beigestanden hätte, ohne mich freilich gegen eine Übermacht schützen zu können. Als dann im nächsten Sommer jener Nachmittag kam, der unser Leben grundlegend verändern sollte, ließ ich, während meine Eltern und Großmutter, von einem Gendarmen bewacht, die Bündel zusammenschnürten, den Hund auf die Straße, weil ich hoffte, dass er so vielleicht am ehesten ein neues Zuhause fände. Vom Lastwagen, der uns mit unsren Habseligkeiten zum Bahnhof fuhr, sah ich Betyár reglos neben dem Torpfosten kauern. Obwohl er rasch kleiner wurde, konnte ich ihn noch eine Weile erkennen, dann verwischten ihn meine Tränen.
Das alles fiel mir ein, während ich weiter Wäsche aufhängte und die schwarze Katze mit den weißen Sprenkeln ihre Wurst verzehrte. Als sie, schließlich gesättigt, erneut zu mir hochsah, wusste ich, sie würde am nächsten Tag wiederkommen, und ich begriff, dass ich mich darauf freute.
WORTE
Manchmal fallen mir aus jener fernen Zeit Worte ein, die Mutter noch lange danach und Großmutter bis zuletzt gesprochen hat. Es sind Worte, die ich erstmals im heimischen Dorf hörte, geformt in schwäbischer Mundart, mitgebracht drei Menschenleben vorher auf der großen, abenteuerlichen Reise vom Schwarzwald in die ungarische Ebene, durch meine Vorfahren bewahrt, weiterentwickelt, mit magyarischen und slawischen Begriffen vermischt, umgestaltet, abgeschliffen und im Klang verändert, weil kein Einfluss wirkungslos bleibt.
Mein Verhältnis zu den Worten hat sich mehrfach gewandelt. Zunächst waren es für mich gewichtige, lebensnotwendige Ausdrücke der Sprache, die im Dorf zählte, neben dem Ungarischen natürlich, das im Kindergarten und in der Schule verlangt wurde. Erst später, nach der langen, aufgezwungenen Güterzugfahrt, die uns bis Sachsen führte, nahe an die Grenze zu Schlesien, wurde mir bewusst, dass es nicht nur die eine deutsche Sprache gab. Ich erlernte eine andre, die härter klingt und bis heute meinen Tonfall färbt, von den neuen Kameraden, hörte sie verfeinert auch von den Lehrern in der Schule, wo mir die frühere nur schadete, da sie keiner verstand und sie mich in der Orthografie behinderte. Die Sprache, die nun bestimmend wurde, entfernte mich von meinen Eltern, meiner Großmutter, anfangs nur verbal, danach wohl auch menschlich; denn es störte mich, dass sie sich das Vokabular, das sie im veränderten Umfeld unauffällig gemacht hätte, nicht wie ich anzueignen vermochten.
Trotzdem vergaß ich jene frühe Mundart nicht. Ich kann sie, wenn ich nach Vaskút komme und jemand finde, der sie noch spricht, was immer seltener zu werden scheint, mühelos anwenden. Dabei fallen mir vermeintlich verloren gegangene Ausdrücke wieder ein, erfasse ich überraschende Zusammenhänge und bestaune das Vermögen meiner Vorfahren, Dinge und Erscheinungen so einfach wie treffend zu benennen: Maulmacher für Schwätzer, Gummiflinte für Katapult, Erdhase für Wildkaninchen. Den Sinn andrer Begriffe hingegen kann ich bis heute nur vermuten: Ist Mujo ein Synonym für einen mürrischen Menschen, Pusserant für Quälgeist, nisseln für verhalten weinen?
Es belastet mich nicht, dass ich keine Gewissheit habe. Steckt in dem Vagen, Unergründlichen nicht auch ein beträchtlicher Reiz? Außerdem bleibt mir die Hoffnung, eines Tages doch hinter das Geheimnis zu kommen, genau wie bei Okrosel zu wissen, dass das Wort Stachelbeere heißt und von dem ungarischen egres abgeleitet ist, sicher wie bei Hotter zu sein, dass der Aus-druck, der die Gemeindegrenze bezeichnet, österreichischen Ursprungs ist.
Weit mehr als meine Wissenslücken beschäftigt mich, woher mein Sinneswandel rührt, wieso ich zur Sprache meiner frühen Kindheit ein neues Verhältnis gefunden habe, ich selbst die simple Floskel „Wu kommscht’n her, wu gehscht ’n noa?“, die gedankenlos geäußert wurde, wenn sich Bekannte im Dorf begegneten, nicht mehr abschätzig betrachte, weil sie mir den vertrauten Tonfall ins Gedächtnis ruft.
Liegt es daran, dass ich mich mehr und mehr auf früher besinne, die Worte mir helfen, das Erlebte wach zu halten. Oder geschieht es, weil mir bewusst ist, dass ich aus unsrer Familie als Letzter die Sprache beherrsche?
Ich fürchte, die Mundart, die immer weniger im Dorf benutzen, wird irgendwann ganz aussterben. Es wäre schlimm, wenn es so weit käme, mit all den trefflichen Ausdrücken auch Maulmacher verloren ginge. Ist es nicht wirklich ein großartiges Wort?
BEGEGNUNG IM GASTHAUS
Als ich von den Werkstattgesprächen mit ungarndeutschen Autoren, die in Szekszárd stattgefunden hatten, für einige Tage nach Vaskút fuhr, lenkte ich das Auto wie gewöhnlich erst mal zu unsrem einstigen Haus, um zu sehen, ob der uralte Maulbeerbaum noch auf dem Hof stand. Kaum war ich ausgestiegen, näherte sich von nebenan die alte Nachbarsfrau, die uns Jahre vorher nach unsrer Ankunft aus Siófok empfangen und beim Verständigen mit den neuen ungarischen Besitzern geholfen hatte.
Sie könne mir, sagte sie in der mir noch vertrauten Mundart, etwas mitteilen, das mich vielleicht interessiere. Das Haus, vor dem ich stehe, sei inzwischen verkäuflich, weil es grundlegende Veränderungen gegeben habe: Der Mann sei schon vor längerer Zeit unerwartet gestorben, und seine Frau, die nicht allein bleiben wollte, zu einer Tochter gezogen. Es gebe im Dorf zwar viele Angebote, wie auch ich sicher wisse, aber für dieses, das sie mir im Auftrag unterbreiten dürfe, spreche nicht nur die Lage – sie meine, das Gehöft befinde sich in der schönsten Straße des Dorfes -, sondern auch der günstige Preis: fünfzehntausend D-Mark, keinesfalls mehr, unter Umständen sogar weniger. Ihr wäre ich durchaus als neuer Nachbar willkommen, und falls ich wie andere Deutsche, die schon Häuser erworben hätten, nur den Sommer hier verbringen möchte, würde sie, so lange ihr der Herrgott die Gnade gewähre, in der übrigen Zeit gern nach dem Rechten sehen.
Natürlich müsse ich mich nicht gleich entscheiden, hörte ich die Frau noch sagen, lasse sie mir Bedenkzeit. Ich solle es mir in aller Ruhe überlegen, ehe ich meine Wahl treffe.
Ich versprach, ihr Bescheid zu geben, stieg benommen ins Auto und erkannte im Rückspiegel, dass sie am Tor stand und mir nachschaute.
Noch beeindruckt vom Erlebten, fuhr ich auf die Parkfläche vor Lenharts Gasthaus, das ich, obwohl es jetzt anders heißt, insgeheim weiter so nenne. Ich hatte dort Quartier genommen, weil Teri und Géza gerade von Angehörigen aus Siebenbürgen besucht wurden. Die Wirtin, eine ansehnliche, mit einem Ungarn verheiratete Frau in den mittleren Jahren, sprach als Nachkommin der ersten Ansiedler recht gut deutsch. Ich bekomme ihr bestes Zimmer, sagte sie, und essen könne ich auch gleich etwas. Es gab Hühnerpaprikasch mit Nockerln. Vom Wein, einem aus heimischen Trauben gekelterten Kadarka, trank ich schneller, als ich es gewöhnt war. Ehe ich das dritte Glas geleert hatte, trat ein neuer Gast durch die Tür. Der Mann, den ich, obwohl er rüstig wirkte, auf über fünfundsiebzig schätzte, blickte flüchtig zum Tisch, an dem sich drei Ungarn unterhielten. Dann steuerte er auf mich zu und fragte deutsch, ob er bei mir Platz nehmen dürfe.
Ich erwiderte, dass ich nichts dagegen hätte.
Es heiße, ich wolle vielleicht ein Haus kaufen, sagte er. Dass er es bereits wisse, müsse mich nicht wundern. Hier geschehe halt wenig, da verbreite sich jede Nichtigkeit in Windeseile. Das sei schon früher so gewesen. Er habe nämlich seine Kindheit und Jugend im Dorf verlebt. Mit siebzehn sei er zur SS gepresst worden, habe sich kurz vorm bitteren Ende aber mit einem Kameraden absetzen und nach Deutschland fliehen können.
Wenn ich seine Sprachfärbung richtig