bestätigte ich. „Eine Hiobsbotschaft.“
Man teilte mir mit, dass mein Buch, das bereits vom Börsenverein für den November 1991 angekündigt war, nicht mehr erscheinen könne, da der Verlag insolvent sei und abgewickelt werde.
Ich verbrachte eine von Albträumen durchwobene Nacht, erwachte mit Kopfschmerzen und Existenzängsten, die sich in den nächsten Wochen noch steigerten, weil ich erfuhr, dass auch zwei weitere Manuskripte, für die ich bereits Verträge mit anderen Verlagen besaß, nicht mehr erscheinen würden, da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend gewandelt und dadurch die gestalteten Konflikte ihre frühere Brisanz verloren hätten, so dass trotz der zweifellos vorliegenden literarischen Qualität auf dem gesamtdeutschen Buchmarkt kaum noch Verkaufschancen bestünden.
Ich brauchte geraume Zeit, um mein Dilemma, das ich mit anderen Ost-Autoren teilte, in voller Tragweite zu erfassen. Wie einst durch die Vertreibung von Vaskút nach Görlitz, fühlte ich mich nun auf andere Weise erneut betrogen. Die aufwändigen Recherchen sowie meine jahrelange Arbeit an den Manuskripten könnten, fürchtete ich, umsonst gewesen sein. In der Rückschau wundere ich mich, woher ich die Kraft nahm, mich nach und nach in einer total veränderten Ordnung zu behaupten. Ich gebe zu, dass es sehr schwer für mich war, und ich vieles versuchte, um einen Neuanfang zu schaffen, ohne mich zu verbiegen. Da ich nicht erwähnen möchte, was bei der Vereinigung bezüglich der begangenen Fehler inzwischen allgemein bekannt ist, werde ich mich kurzfassen und nur Dinge benennen, die mir selbst, meinen Freunden oder Bekannten nach der Wende widerfahren sind. Zwar war der Umbruch, äußerlich betrachtet, friedlich verlaufen, doch über das, was sich im Innern der Menschen abspielte, wurde längst nicht alles bekannt, finde ich. So habe ich nirgendwo genaue glaubwürdige Zahlen gefunden, wie viele mit den unerwartet harten Anforderungen nicht zurechtkamen und sich, wenn sie keinen Ausweg mehr sahen, das Leben nahmen. Auch Tom, mit dem ich seit der neunten Klasse eng befreundet war, ist ein Opfer arglistiger, heuchlerischer Kollegen geworden, und sein Freitod beschäftigt mich bis heute. Es wurden seinerzeit leichtfertig zahlreiche Hoffnungen geweckt, die sich nicht erfüllten. Selbst auf die blühenden Landschaften, die uns verheißen wurden, wartet man in entlegenen Gebieten immer noch.
Ich merke, dass ich abschweife. Deshalb will ich mich fortan strikt auf das beschränken, was mich betrifft. Wichtig schien mir, dass ich Carola, die damals als diplomierte Hörgeschädigten-Pädagogin ganz brauchbar verdiente, nicht die gesamte finanzielle Last für unsere Familie aufbürden durfte. Weil mehrere Versuche, eine feste Tätigkeit anzunehmen, die meinen Fähigkeiten entsprach, aus verschiedenen Gründen scheiterten, entschloss ich mich, weiter als freiberuflicher Autor zu arbeiten. Ich schrieb zunächst Texte, die im Feuilleton einiger ostdeutscher Zeitungen gedruckt wurden. Da die Honorare nicht reichten, um genügend für unsren Lebensunterhalt beizutragen, erinnerte ich mich an die deutschsprachige „Neue Zeitung“, die wöchentlich in Budapest erscheint. Ich hatte während unsres Besuchs bei Teri und Géza ein Exemplar im Vaskúter Postamt entdeckt und schickte dem Chefredakteur zwei Geschichten, die meine Vertreibung thematisierten. Er nahm sie bereitwillig an und ermunterte mich zu weiteren Texten für das Blatt. So schrieb ich, da ich nun die volle Wahrheit über das nach dem Zweiten Weltkrieg Geschehene äußern durfte, wie im Rausch während der folgenden Jahre zahlreiche Geschichten, von denen man eine Auswahl 1996 beim Verband ungarndeutscher Autoren und Künstler als Band 4 der VUdAK-Bücher unter dem Titel „Dachträume“ veröffentlichte. Zur Premiere wurde ich nach Sopron eingeladen und durfte dort den Erzählungsband innerhalb der Werkstattgespräche gemeinsam mit Johann Schuth, dem Herausgeber und VUdAK-Vorsitzenden, einem interessierten Publikum vorstellen. Lesungen aus dem Buch fanden außerdem in Pécs, Baja und Vaskút statt.
Als ich gefragt wurde, ob ich nicht weiter an den Werkstattgesprächen teilnehmen möchte, um junge Autoren zu betreuen, sagte ich sofort zu und reiste jedes Jahr einmal nach Ungarn, wo ich viele Städte, Gemeinden und Gegenden kennenlernte, weil die Veranstaltungen immer woanders stattfanden. Ich übte die Lektoren-Tätigkeit bis zum Herbst 2011 aus und gewann durch Erlebnisse vor Ort sowie den sehr offen geführten Gedankenaustausch stets neue Eindrücke und Erkenntnisse. Sie regten mich zu vielen weiteren Geschichten an, die bis heute in der „Neuen Zeitung“ veröffentlicht werden und den Stoff für meinen Roman „Von Vaskút nach Görlitz oder Sehnsucht nach Schneewittchen“ lieferten, der im April 2018 im Göttinger HeRaS-Verlag er-schienen ist.
Obwohl 1995 mein Roman über die Eroberung Mexikos in einem Stuttgarter Verlag herausgekommen war, und ich oft zu Lesungen eingeladen wurde, konnte ich finanzielle Engpässe, die es wiederholt gab, nur durch mehrere Stipendien, Ausschüttungen der VG Wort, geförderte Studienreisen nach Ungarn und Israel sowie drei Literatur-Preise des Thüringer Bundes der Vertriebenen, die ich für meine zwischendurch entstandenen Bücher erhielt, überbrücken. 2007 erschien unter dem Titel „Ich war bei Cortés Capitán“ ein zweiter Roman über die Conquista, in dem man von einem fiktiven Erzähler, der zum Vertrauten des Generalkapitäns aufsteigt, aus spanischer Sicht erfährt, wie sich die dramatischen Kämpfe während der Eroberung Mexikos abgespielt haben.
Materiell abgesichert, seit ich Rente bezog, konnte ich es mir leisten, über das ungewöhnliche, mich faszinierende Leben der 1894 in Jena geborenen Johanna Bleschke, die sich als Künstlerin Rahel Sanzara nannte, ausführlich zu recherchieren, um über ihren tragischen Werdegang einen Roman zu schreiben, der im Frühjahr 2016 unter dem Titel „Alles oder nicht“ publiziert wurde.
Vor allem durch die Arbeit an diesem Buch, in dem ich versuchte, die Hintergründe für ihre jeweils spektakulären Anfangserfolge als Tänzerin, Schauspielerin und Schriftstellerin sowie ihr letztliches Scheitern und den frühen Tod – sie starb vereinsamt am 8. Februar 1936, einen Tag vor ihrem 42. Geburtstag, in einer Berliner Klinik an Gebärmutterhalskrebs – nachvollziehbar zu erfassen, ist es mir, glaube ich, auch gelungen, die Figuren meiner Geschichten, die zum vorliegenden Band gefügt worden sind, tiefer als früher auszuloten. Deshalb betrachte ich das Buch in Bezug auf die Folgen unserer einstigen Vertreibung aus Ungarn als mein literarisches Vermächtnis.
STREUNENDE KATZE
Wie aus dem Boden gewachsen stand die Katze plötzlich neben mir, als ich im Frühjahr 1991 hinter dem Haus Wäsche aufhängte. Ich vermutete, dass sie zu den Streunern gehörte, die mir seit geraumer Zeit immer häufiger in den Gärten der Siedlung auffielen. Von ihren Besitzern, denen die neue D-Mark so viel bedeutete, dass sie dafür kein Futter, sondern lieber Dinge kaufen wollten, die es für die Ost-Währung nicht gegeben hatte, Tag für Tag aus der Wohnung gescheucht, waren die halb verwilderten Tiere gezwungen, sich selbst Nahrung zu suchen. Dabei verloren nicht nur Mäuse, sondern auch zahlreiche Singvögel ihr Leben. Trotzdem reichte die Beute nicht, so dass noch mitleidige Nachbarn zum Unterhalt beitragen mussten.
Wartete die Katze, die unablässig zu mir hochsah, ebenfalls darauf, dass ich ihr etwas vorsetzte? Sie war fast völlig schwarz, nur auf der Stirn leuchteten einige weiße Sprenkel. Erinnerte sie mich deshalb an unsere Macska Schneewittchen, an die ich nach der Vertreibung aus meinem ungarischen Heimatdorf Vaskút oft sehnsüchtig in Görlitz gedacht hatte? Oder gab es noch einen Grund, weil mir gleichzeitig auch unser Hund Betyár, der nur ein knappes Jahr bei uns gewesen war, in Erinnerung gerufen wurde?
Als die Katze anfing, um meine Beine zu schmeicheln, entschloss ich mich, ihr etwas anzubieten. Von der Milch, die ich in ein Schälchen goss, schlabberte sie bloß ein bisschen, aber den Wurstzipfel, den ich ihr hinwarf, verzehrte sie mit großem Appetit.
Noch hungriger war Betyár bei seinem Auftauchen gewesen. Wir hatten das klägliche Jaulen, das von der Straße bis in unsre Küche drang, am Abendbrottisch vernommen. Großmutter erhob sich zuerst und ging zum Hoftor. Als sie zurückkam, brachte sie einen Hund mit, der misstrauisch an der Tür stehen blieb und mit dem Schwanz wedelte. Doch als Großmutter ihm die Essenreste in einen Napf füllte, begann Betyár, wie ich ihn später wegen seiner oft drolligen Art nannte, alles gierig zu verschlingen.
Er hatte ein glattes, braunweiß geschecktes Fell, reichte mir fast bis zur Brust und gehörte zu jener Art von Mischlingen, deren Vorfahren sich nicht mehr eindeutig bestimmen lassen. Wir nahmen an, dass ihn eine der Schwabenfamilien, die am Vortag aus dem Dorf vertrieben worden