Stefan Raile

Im Bannkreis er Erinnerung


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entgegnete er. „Ich weiß, dass du in Lenharts Gasthaus wohnst, mit wem du alles gesprochen hast, wo du bereits gewesen bist. Und nun hast du dich auch an mich erinnert.“

      Wieder kam mir seine Stimme vertraut vor, aber das Gesicht, das großenteils von der Hutkrempe verdeckt wurde, konnte ich, so sehr ich mich auch anstrengte, in dem ungewissen Licht nicht erkennen.

      „Oder ist’s etwa Zufall?“, fragte er, da er wohl meine Unsicherheit spürte. „Weißt du vielleicht gar nicht, wer ich bin?“

      „Doch, doch“, erwiderte ich. „Ihr seid...“

      „Du“, unterbrach er mich. „Sag du, da wir uns schließlich schon seit Urzeiten kennen.“

      „Du bist“, begann ich erneut und zögerte einige Augenblicke, ehe ich fortfuhr, „unser einstiger Nachbar.“

      „So ist es“, rief er erfreut. „Hättest mich getrost auch den alten Klock nennen können, wie es früher im Dorf üblich war. Selbst über meinen Spitznamen wäre ich nicht böse gewesen. Weißt du ihn eigentlich noch?“

      „Katzendoktor“, sagte ich.

      „Richtig“, bestätigte er. „So werde ich seit einer Ewigkeit genannt. Ursprünglich war es, glaube ich, fast nur spöttisch gemeint. Aber später schwang immer deutlicher auch ein Quäntchen Neid mit, weil die Leute begriffen, dass ich eine Gabe hatte, die ihnen fehlte. Du verstehst doch, was ich meine?“

      „Teils, teils.“

      „Glaubst also nicht daran, dass manche über besondere Kräfte verfügen? Sie, wie man früher sagte, mehr können als Brot essen?“

      „Nicht so ganz.“

      „Dabei hast du seinerzeit gesehen, dass ich eurer Katze helfen konnte, als sie nicht mehr fressen wollte, weil der alte Djuka Toncsi, wie deine Großmutter glaubte, versucht hatte, sie zu verhexen. Oder bringe ich, da es schon so weit zurückliegt, vielleicht was durcheinander?“

      „Nein, es stimmt.“

      „Sie war, wenn ich mich auch da richtig entsinne, eine außergewöhnlich schöne Katze. Hieß sie nicht Schneewittchen?“

      „Ja.“

      „Ich hab sie, als ihr bereits weg wart, noch oft bei Edit Kreutzer gesehen, bis man auch uns, weil Telepes sich ins gemachte Nest setzen wollten, aus dem Haus drängte. Hast sicher davon gehört.“

      „Hab ich.“

      „Während wir in den baufälligen Baracken am Stadtrand jämmerlich wie nie zuvor unser Leben fristen mussten, wäre ich vielleicht verzagt, wenn ich nicht mehr und mehr gemerkt hätte, dass ich noch gebraucht wurde. Weißt sicher, von wem.“

      „Kann’s mir denken.“

      „Im Nachhinein scheint’s mir, als hätte es in jener verworrenen, trostlosen Zeit besonders viele kranke Katzen gegeben. Zumindest kamen, sobald sich meine Fähigkeiten im neuen Umfeld herumgesprochen hatten, immer öfter Leute zu mir und baten mich, ihren maroden, lustlosen Tieren zu helfen. Selbst Ungarn, denen ich trotz allem, was uns widerfahren war, meinen Beistand nicht verweigerte, weil ich merkte, dass die Ereignisse sie ebenfalls aus dem Gleichgewicht gebracht hatten, befanden sich zunehmend unter ihnen. Spätestens da begann ich zu ahnen, dass auch Katzen eine Seele haben, weil der Kummer, unter dem ihre Besitzer litten, sie offenbar gleichermaßen verstörte.“ Als würde er plötzlich vom weiterhin doppelten Mondschein geblendet, zog er seine Hutkrempe noch tiefer, während er fragte: „Zweifelst wohl sogar daran?“

      „Nein“, erwiderte ich, „daran nicht.“

      „Sie ist schon ganz ruhig“, sagte er, derweil er seinen Kopf der Katze zuneigte, als wollte er deutlicher hören, wie sie schnurrte. „Ich weiß bis heute nicht genau“, fuhr er, nachdem er den Oberkörper wieder aufgerichtet hatte, leiser als bisher fort, „worin meine Gabe wirklich besteht. Ist’s einfach die unverkennbare Fürsorge, die alle Tiere sofort spüren? Wirkt mein Körpergeruch heilsam auf sie? Überträgt sich, wenn ich sie berühre, eine wundersame Energie, die mir unser Herrgott geschenkt hat, damit ich sie segensreich nutze? Oder gibt es vielleicht“, fragte er, während er mich erwartungsvoll ansah, „noch eine Möglichkeit?“

      „Keine Ahnung.“

      „Zuspruch und Anteilnahme sind ganz sicher von Belang“, redete er weiter. „Doch wenn’s Menschen betrifft, genügen sie nicht immer, um helfen zu können, wie ich bei deinem Großvater gesehen habe.“

      „Was meinst du?“, fragte ich, und mir war, als sähe ich den grauhaarigen, im trüben Werkstattlicht stets verschwommenen Mann mit seinem gezwirbelten Schnurrbart, der mir von einem Foto vertraut war, an der hinteren, ungenutzten Hobelbank hantieren.

      „Nach vier Jahren gefahrvollem Krieg, die er körperlich unversehrt an vorderster Front durchgestanden hatte, war er nicht mehr der Gleiche“, hörte ich den alten Klock sagen. „Sein Blick erinnerte mich wiederholt an den mancher Katzen, die zu mir gebracht wurden. Wenn wir an heißen Sonntagen, sobald die größte Glut vorbei war, auf meinem Hof unterm Kirschbaum saßen und mit andren Männern Karten spielten, schien er mit den Gedanken weit weg zu sein, und seine Augen, die früher so lebenslustig gefunkelt hatten, wirkten stumpf wie Asche.“

      „Warum?“

      „Er hatte zwar noch seine heilen Glieder, aber eine verwundete Seele wie die Katzen, die meinen Beistand brauchten. Ich glaube, er wurde nicht fertig damit, dass die Salven aus seinem Maschinengewehr zahlreiche Gegner, die so schuldlos am Krieg waren wie er, getötet, verstümmelt oder schwer verwundet hatten, seine zwei Gehilfen, mit denen er, um den Rückzug ihrer Truppe zu decken, einen Frontabschnitt halten musste, bei einem überraschenden Gasangriff umkamen, weil sie die Masken nicht schnell genug aufsetzten. Du hast sicher mal davon gehört.“

      „Öfter.“

      „So gern ich auch ihm geholfen hätte, reichten meine Fähigkeiten, die bei Tieren wirken, nicht aus, sein krankes Gemüt zu besänftigen, weil unser Herrgott die Macht der Sterblichen begrenzt, damit sie keine Entscheidungen fällen können, die seinem unergründlichen Willen vorbehalten bleiben. Dennoch hätte deine Großmutter es vielleicht geschafft, seinen Zustand zu bessern, wenn sie noch geduldiger und einfühlsamer gewesen wäre. Vielleicht sogar du, falls du etliche Jahre früher zur Welt gekommen wärst. Dann hätte dein Großvater nämlich eine neue Aufgabe gehabt, durch die er möglicherweise erfolgreich abgelenkt worden wäre. Oder hältst du’s für abwegig?“

      „Keineswegs.“

      „Andrerseits gibt’s in diesem empfindsamen Bereich, der mir bei vielen Menschen unergründlich erscheint, keinerlei Gewähr, wie die Mauer erzählen könnte, auf der ich sitze.“

      Ich sah ihn, da er eine Pause einlegte und die Katze auf seinem Schoß zärtlicher als bisher streichelte, erwartungsvoll an.

      „Manche“, sagte er, „kommen selbst dann nicht zurecht, wenn sie scheinbar das große Los gezogen haben. So erging’s den Telepes, die uns aus dem Haus trieben. Sie wähnten sich, glaube ich, zunächst wie im Schlaraffenland und meinten, die Vorräte in Speisekammer, Keller und Gori würden sich nie aufbrauchen. Doch da sie viel aßen, noch mehr tranken und wenig arbeiteten, geschah es verhältnismäßig schnell. Statt Garten und Felder zu bestellen, um später etwas fechsen zu können, das sie, wie vorher uns, mühelos ernährt hätte, verkauften sie nun alles, was nicht niet- und nagelfest war. Selbst die Dachziegel wurden von den Ställen gerissen und verscherbelt. Natürlich half ihnen auch das nicht lange, und so verschwanden sie eines Tages spurlos aus dem Dorf. In das ausgeplünderte, verwahrloste Gehöft, das sie zurückließen, wollte niemand mehr einziehen. Selbst ich lehnte ab, als es mir Jahre später gegen ein erkleckliches Sümmchen angeboten wurde. Doch in manchen Nächten kehre ich zurück, um den Tieren beizustehen, die, vom Leid ihrer Besitzer angesteckt, kläglich wie früher nach mir rufen.“

      Er flüsterte der Katze noch etwas ins Ohr, bevor er sie vom Schoß ließ. Während sie wenig später lautlos ins Dunkel sprang, verschwand er so unerwartet, wie er aufgetaucht