gelangte, redete der Mann bereits weiter. „Anfangs habe ich mich denen gegenüber, die daheim noch Haus, Hof und Feld besaßen, betrogen gefühlt“, erzählte er. „Aber schon zwei Jahre später, als die Ersten in meine Gegend vertrieben wurden, sah ich mich deutlich im Vorteil. Am ärgsten traf es diejenigen, die man zuletzt in den Osten abschob. Wenn sie dort ausharrten, gehören sie zu den vollends Gelackmeierten. Man hat sie jetzt für das Verlorene mit einem Betrag abgespeist, der zu den im Westen gezahlten Summen fast schäbig erscheint. Andrerseits, wer den Roten dauerhaft auf ‘n Leim gekrochen ist, verdient’s vielleicht nicht anders.“
Spätestens da war ich mir sicher, nicht zu sagen, dass ich ebenfalls aus Vaskút stammte, und es verpasst hatte, Görlitz rechtzeitig zu verlassen, weil die Stadt, wo ich in Norbert, Wolf und Manfred neue Freunde gefunden hatte, mir heilsamer Ersatz für das ferne Dorf geworden war.
Der Mann, der inzwischen Kadarka trank wie ich, schien auch nicht darauf zu warten, dass ich etwas über mich äußerte. „Eigentlich“, fuhr er fort, „sind sogar die Nicht-Vertriebenen die größten Verlierer. Ich sehe mich ihnen gegenüber jedenfalls vielfach bessergestellt. Das Haus, das ich vor fünf Jahren gekauft habe, hebt sich deutlich von der Nachbarschaft ab. Es enthält Bad, Dusche, Gäste-WC und Sauna. Dazu besitze ich ein großes Grundstück. Die Hälfte ist Weingarten, so dass ich meinen eigenen Schiller keltern kann. Trotzdem hat das Ganze kein Zehntel von dem gekostet, was am Neckar hinzublättern gewesen wäre. Die Ruhe kommt gratis dazu, und die Luft ist von einer Reinheit, wie man sie nicht mehr oft findet auf unsrem geschundenen Planeten. Bloß die Sommer haben’s in sich, so dass man mittags ein paar Stunden im Schatten verdösen muss. Früher sprach man von Pusztatagen: trocken, heiß, windstill. Und wenn sich doch mal ein Lüftchen regt, schürt es, scheint mir, eher die Glut, als dass es sie mildern würde.“ Er trank das Glas aus, und ich sah in seinen Augen, dass der Alkohol zu wirken begann. „Das ist aber das Einzige, was es zu bedenken gibt“, fügte er mit schwerer Zunge hinzu. „Deshalb würde ich nicht zögern, wenn ich wirklich die Absicht hätte, Dorfbewohner zu werden. Glaub mir, Landsmann, mit einer Rente, die zwischen Alpen und Nordsee keinerlei Sprünge zulässt, lebst du hier wie Gott in Frankreich.“
Während ich ihm zuhörte, wechselten meine Gefühle, und ich wusste nicht, welche Regung am stärksten war.
Bevor der Mann bezahlte, schwerfällig aufstand und mit unsicheren Schritten ging, bot er mir an, ihn zu besuchen.
Ich sagte nicht zu und lehnte nicht ab.
Im Zimmer, wo es bereits dämmrig war, legte ich mich aufs Bett und schloss die Augen, ohne einschlafen zu können. Ich richtete mich auf und spritzte aus der Flasche, die neben dem Nachtschränkchen stand, Sodawasser in ein Glas. Sobald ich getrunken hatte, trat ich ans Fenster, weil ich von draußen ein schwaches Plätschern zu hören glaubte. Auf dem Hof, umgeben von einigen Tischen, an denen niemand saß, entdeckte ich eine hohe Fontäne, die, angestrahlt von mehreren Lampen, gelblich schimmerte. Ihr Anblick ließ mich ruhiger werden. Ich muss, dachte ich, nicht jetzt schon wissen, ob ich den Mann in seinem noblen Haus aufsuchen werde, nicht die Antwort kennen, die ich der Frau schulde. Es bleibt Zeit, alles zu bedenken.
IM STAUB DER JAHRE
Als ich den Weg zur braun gestrichenen Bank, die schräg gegenüber unserem früheren Gehöft im Schatten des schmalgiebligen, verwitterten Hauses stand und mich während meines zweiten Besuchs bei Teri und Géza zum Ausruhen verlockte, schon halb zurückgelegt hatte, trat eine kleine, schlanke, sehr alte Frau durch den niedrigen Eingang, zog die Tür langsam zu, trippelte, während sich ihre linke Hand am Sockelrand festhielt, mit stark gebeugtem Oberkörper nahe der Mauer übers bucklige Pflaster und setzte sich schwerfällig. Fast geneigt, vor der wackligen Holzbrücke, die den Kanal überspannte, wieder umzukehren, schritt ich doch weiter und hielt noch ein Stück auf die Frau zu, die, als ich gerade meine Richtung ändern wollte, zwinkernd den Kopf hob, so dass ich ihr ins tief gebräunte, runzlige Gesicht blicken konnte. Obwohl mir ihre Züge bekannt vorkamen, nickte ich nur kurz und grüßte sie, ehe ich mich nach rechts wandte, ungarisch.
„Guten Tag“, erwiderte sie in jener fast vergessenen Mundart, die Großmutter noch in Görlitz gesprochen hatte.
Als ich mich überrascht umdrehte, bemerkte ich, dass sie, ohne die welken Lippen zu verziehen, lächelte, und ihre grauen, von hutzliger Haut umgebenen Augen begannen zu glänzen.
„Woann Ihr oa kloa wenig Zeit hett“, fuhr sie in der einst höflichen Redeweise mit ihrer rauen, leicht brüchigen Stimme fort, „on Eich oa uralt’s, tappig’s Weibsbild net v’rschreckt, kennt’r Eich gern oa Weili zu m’r setza.“
Derweil ich noch zögerte, rückte sie bereits ein Stück zur Seite, um mir Platz zu bieten. Ich sah, dass ihre bloßen Füße in Patschkern steckten, ihr weiter, dunkler Rock fast bis zu den Knöcheln reichte, das schwarze Kopftuch nicht nur die Haare, sondern auch einen Teil des Gesichts verbarg. Ihre weiße, kurzärmlige Barchentbluse roch nach frischer Stärke, als ich mich neben ihr niederließ.
„Eigentlich“, meinte sie nach einer Weile und bemühte sich, hochdeutsch zu reden, als fürchtete sie, dass ich sie sonst nicht verstünde, „hab ich das Recht, du zu sagen, weil ich dich seit deinem ersten Lebenstag kenne.“
Wieder erschienen mir, während ich sie erwartungsvoll anschaute, ihre Züge vertraut, aber so sehr ich mich auch anstrengte, fand ich nicht heraus, wer sie war.
„Du bist“, sprach sie leise weiter, „wenige Tage, nachdem ich meinen Sebastian zur Welt gebracht hatte, dort drüben in dem schwefelgelben Haus geboren worden, das, solange ihr darin gewohnt habt, lindgrün gestrichen war. Ich kam mehrmals täglich zu euch, hob dich aus der Wiege, die dein Vater gebaut hatte, und legte dich an meine Brust, weil deine Mutter fast eine Woche lang keine Milch hatte. Bei mir aber floss sie so reichlich, dass ich nicht nur meinen Sebastian, sondern auch dich satt bekam. Weißt du nun“, fragte sie und blickte, durch die Helle geblendet, blinzelnd zu mir hoch, „wer ich bin?“
„Dann müsst Ihr“, erwiderte ich, „Julia Dobler sein.“
„Richtig“, bestätigte sie erfreut. „Und darum brauchst du mich nicht länger in altväterischer Art wie eine hochnäsige Fremde anzusprechen.“
Sie nestelte mit ihren abgearbeiteten, blau geäderten, knotigen Händen auf dem Schoß, als bewegte sie einen Rosenkranz zwischen den Fingern. Sicher wundere ich mich, sagte sie, ohne inne zu halten, woher sie gewusst habe, wer ich sei. Ich müsse nicht fürchten, dass sie mehr könne als Brot essen, wie man es früher etlichen Greisinnen im Dorf zugetraut habe. Obwohl man nun oft im Haus vor dem Fernseher sitze, spreche sich weiter in Windeseile herum, wer irgendwen besuche oder in Lenharts Gasthaus eins der noblen Zimmer beziehe. Ihr sei auch zu Ohren gekommen, was ich arbeite, und sie staune, dass ich mich noch genau erinnern könne, wie es einst im Ort gewesen sei. Sie würde mich, wenn es mir recht wäre, gern auf die Probe stellen.
Ich erwiderte, dass ich einverstanden sei.
„Erzähl“, bat sie, „was es auf unsrer Straße Besonderes gab.“
„Da waren zwei Läden“, sagte ich, „die sich von hier etwa gleich weit entfernt an den nächsten Straßenecken befanden. Das obere Geschäft gehörte Armin, einem Juden, der sich, da er umsichtig, leutselig und verlässlich war, auf seinen Beruf verstand wie kein andrer, das untere bewirtschaftete ein kleiner, dicklicher, ein wenig huscheliger Ungar, bei dem man selten alles erhielt, was man haben wollte. Auf halbem Weg zu ihm wurden vor der Schmiede oft Pferdehufe beschlagen, genau gegenüber surrten in einem flachen, lang gestreckten Seitengebäude mehrere Spinnmaschinen, drei Dutzend Meter aufwärts stand Metzger Oswald in seiner gefliesten, auch sommers kühlen Schlachterei am hohen, wuchtigen Hackklotz, etliche Häuser weiter zog Morath, der schmächtige, bucklige Schuster, abwechselnd Stiefel, Sandalen und Schuhe über seinen Leisten, fast am Straßenende wurden in einem Hinterhaus große Mengen Sodawasser abgefüllt, und schließlich boten durchziehende Scherenschleifer, Kesselflicker, Lumpensammler oder Besenbinder mit gleichförmigen, leiernden Rufen ihre Dienste an.“
„Nicht schlecht“, meinte Julia Dobler. „Für jemand,