seine Rappen vors Fuhrwerk spannte, um zu den entlegenen Feldern auf dem südlichen Hotter zu fahren, Edit Kreutzer, die mit ihren Eltern rechts von uns in dem kleinen Haus wohnte, häufig mit mir auf unsrem schattigen Säulengang spielte, mit mir und andren Kindern das Dorf, das nahe Pappelwäldchen und die Umgebung bis zum schilfigen, versteckten Teich durchstreifte, Josef Schmalz, den glatzköpfigen, schmerbäuchigen Spinnereibesitzer, der die heißesten Mittagsstunden schwitzend neben seinem Tor unter einer dicht belaubten Akazie im Liegestuhl verdöste, während seine Arbeiterinnen an den von Stickluft umkreisten Maschinen ausharren mussten, die uralte, weißhaarige Pipa-Lisi, die, wenn ich auf dem Schulweg an ihrem rohrgedeckten, orangefarben getünchten Häuschen vorbeikam, gewöhnlich am niedrigen Fenster saß, durch die dicken Gläser einer Hornbrille blickte, ihre langstielige Pfeife rauchte und mir oft eine Münze, für die ich mir Süßigkeiten oder ein Eis kaufen sollte, herausreichte.“
„Erinnerst du dich auch an Sebastian?“
„Natürlich“, erwiderte ich, „wenngleich wir nie ganz eng befreundet waren. Ist er noch im Dorf?“
„Nein“, sagte sie. „Er lebt sehr weit entfernt.“ Sein Schicksal sei am stärksten durch das letzte der drei Ereignisse beeinflusst worden, die das Dorf nach unsrer Geburt verändert hätten. Mit dem ersten meine sie den Krieg, aus dem Albert, ihr Mann, nicht heimgekehrt sei, mit dem zweiten die Menschentransporte nach Deutschland, deren Folgen ich besser als sie kenne, mit dem dritten die Volkserhebung im Herbst sechsundfünfzig, als allenthalben kurzzeitig Hoffnungen geweckt und Sehnsüchte entfacht worden seien, bis die russischen Panzer sie zermalmt hätten. Sebastian habe damals in Budapest zu studieren begonnen und sich den Aufständischen angeschlossen, weil er ihre Ziele gutgeheißen habe. Sie könne nicht genau sagen, ob er, als die Niederlage schon unverkennbar gewesen sei, lediglich die Gelegenheit genutzt habe, über die durchlässige Grenze zu gelangen, oder ob er aus Furcht vor drohender Strafe mit Gottes Hilfe bis zu den fernen Blauen Bergen geflohen sei, wo er jetzt noch wohne.
„Ist er“, fragte ich und dachte daran, wie ich mit Norbert, Wolf und Manfred von Görlitz ins Land der Eukalyptuswälder hatte auswandern wollen, „dort glücklich geworden?“
„Glücklich“, sagte sie und blickte zur schmalen, wackligen Brücke, die über den seichten Kanal führte, „ist wohl ein zu großes Wort. Ich wäre schon froh, wenn’s ihm halb so gut gehen würde, wie ich’s aus seinen Briefen herauszulesen glaube. Aber ich bin nicht sicher, ob ich dem Anschein trauen darf, da sich Sebastian auch anfangs nie beklagte. Dabei hatte er’s vielleicht so schwer wie unsre Vorfahren, als sie, von Maria Theresia gerufen, in der Einöde neben den Türkenhügeln das Dorf gründeten, Felder und Weingärten anlegten, ihre Handwerke ausübten und Geschäfte tätigten. Er musste sich, von den Eingesessenen gewiss mehr oder minder beargwöhnt, als Holzfäller, Schafhirt und Steinbrucharbeiter durchschlagen, bis er Susan kennenlernte, mit ihr eine heruntergewirtschaftete Farm erwarb und Rinder zu züchten begann, was bis heute seine ganze Kraft beansprucht und ihm kaum Zeit für etwas Andres lässt.“
„Dann ist er wohl selten zu Besuch gekommen?“
„Noch nie“, entgegnete sie. Zuerst wär’s nicht möglich gewesen, und nun, da ihm keine Gefahr mehr drohe, vertröste er sie von Mal zu Mal, weil die Farm ihn festhalte.
„Aber er schreibt oft?“
Ein-, zweimal im Monat rufe er auch an. So schön es sei, ihn sprechen zu hören, lese sie jedoch lieber, was er schreibe. Wenn sie ermüde oder über etwas aus dem Brief nachdenken wolle, lehne sie sich zurück, schließe die Augen und staune, was ihr alles in den Sinn komme. Fast immer gehöre der Staub dazu.
„Was für Staub?“, fragte ich.
„Der früher von den Pferdewagen aus den zerfahrenen Wegen hochgewirbelt wurde und für kurze Zeit alles einhüllte. Erinnerst du dich nicht?“
„Doch.“
„Ich hab ihn gehasst, da er in Mund, Nase, Ohren drang und einem, mit Schweiß vermischt, auf den Lippen brannte. Außerdem schien es mir, als würden Tage, Wochen, Monate und Jahre spurlos darin versinken, bis Sebastian mir ein Bild schickte. Es zeigte ihn auf einem Pferd, unter dessen Hufen deutlich sichtbar Staubwölkchen empor stoben.“ Da habe sie schlagartig erfasst, dass es zwischen ihnen über die vielen tausend Kilometer hinweg eine unerwartete Gemeinsamkeit gebe, die Sebastian, sofern er ähnlich empfinde, über kurz oder lang ins Dorf führen werde. Nur ihr Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, und das gottesfürchtige Leben, das sie trotz aller Heimsuchungen führe, hätten sie vielleicht am Leben gehalten. „Ich denke“, fügte sie etwas gedämpfter hinzu, „dass sich meine Hoffnung nun bald erfüllen wird.“
„Weshalb?“
„Weil sich Sebastian im letzten Brief erkundigt hat, ob es den Staub, sobald Wind einsetzt, noch immer durchs Dorf treibt. Meinst du“, sie sah blinzelnd wie vorhin zu mir hoch, „dass ich seine Frage richtig deute?“
„Ja“, sagte ich. „Er wird kommen. Ganz bestimmt.“
DER KATZENDOKTOR
„Wir müssen“, sagte Feri, als ich mich bereits erheben wollte, „noch einmal anstoßen, ehe ich dich gehen lasse.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, goss er uns aus der großen, etikettlosen Flasche, die er stark neigte, Tresterbranntwein nach. Ich leerte mein Glas, kaum dass wir uns zugeprostet hatten, in einem Zug. Während ich aufstand, merkte ich, dass ich mich wacklig fühlte. Vom dunklen Hof, der zu schwanken schien, erblickte ich über dem Nachbarhaus zwei quittegelbe Monde, die, prallen Luftballons gleich, am schiefergrauen, bestirnten Himmel schwebten.
Feri begleitete mich zum Tor. Als ich von draußen hörte, wie er es verriegelte, überlegte ich, in welcher Richtung ich zu Lenharts Gasthaus gehen sollte. Ich entschloss mich, die lange, weiträumige Straße zu benutzen, auf der unser einstiges Haus stand. Sobald ich an der nächsten Ecke mit breitbeinigen, unsicheren Schritten auf sie einbog, war es mir noch immer, als kämen die Bäume auf mich zu. Im kargen Licht der wenigen Leuchten, die fast so kraftlos schwelten wie früher unsre auf Sparflamme gestellten Petroleumlampen, krümmten sich ihre Stämme, bis die Wipfel ächzten. Ich hielt mich paar Mal am Sockel des schwefelfarben gestrichenen Hauses fest, und vor der nächsten Eingangstür, durch die ich oft zum alten Klock gegangen war, um ihm dies oder jenes zu helfen, hockte ich mich auf die oberste der drei ausgetretenen Steinstufen.
Vielleicht wäre ich, meine Ellbogen durch die angewinkelten Oberschenkel gestützt, und das Gesicht mit beiden Händen umfasst, eingenickt, wenn nicht das Wimmern zu mir gedrungen wäre. Weil es danach still blieb, glaubte ich fast, mich getäuscht zu haben. Doch sobald der schrille, klagende Laut erneut ertönte, schien mir, auf dem Grundstück, dessen verfallene Gebäude schon lange unbewohnt waren, jammere ein Kind. Sofort rappelte ich mich hoch, drückte die verrostete Klinke nieder und stieß die morsche Tür mit der Schulter nach innen. Ich wankte über den staubigen, holprigen Säulengang, tastete mich die schmale, kipplige Treppe hinab und stolperte, während sich die Laute in geringen Abständen mal stärker, mal schwächer wiederholten, zwischen dichtem Unkraut, das stellenweise kniehoch wuchs, über den lang gestreckten Hof nach hinten.
Vor der Ruine, die einst Pferdestall gewesen war, verhielt ich, weil ich auf der rissigen, gezackten Mauer, die längst keinen Dachstuhl mehr trug, eine Bewegung bemerkte. Sobald ich die Lider zusammenkniff, erkannte ich im milchigen Mondschein eine schwarzweiße Katze, die, ihren Rücken stark gekrümmt, argwöhnisch zu mir spähte, während sie mit dem geplusterten Schwanz über die verwitterten Ziegelsteine wedelte, als wollte sie den Platz hinter sich blank fegen. Ehe ich mich, dadurch beruhigt, dass die Rufe, die mich hergelockt hatten, ein klägliches Maunzen gewesen waren, abwenden konnte, schwang sich von innen ein sehr alter Mann auf die Mauer. Er setzte sich nieder, ließ die kurzen, mit einer weiten, blauen Arbeitshose bekleideten Beine herabbaumeln, nahm die Katze, die keinerlei Widerstand leistete, auf den Schoß, blickte unter seinem breitkrempigen, weit in die Stirn gezogenen Schlapphut zu mir und sagte mit matter, hohler Stimme, die mir irgendwie vertraut erschien: „Ich hab dich erwartet.“
„Wieso?“