Arnulf Meyer-Piening

Ein rabenschwarzer Tag


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erfolgreich über die Bühne gehen. Aber er machte sich großen Sorgen. Zwar war er nicht für sie verantwortlich, aber er fühlte sich so. Er konnte es sich auch nicht erklären, warum er sich so sehr um sie bemühte. Das hätte er für andere Frauen nicht getan.

      - Bevor er ging besuchte er noch einmal den Hoteldirektor: Herr Diekmann, ich muss Sie noch einmal stören.

      - Nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?

      - Sie sagten vorhin, dass ein Arzt bei ihr gewesen sei. Können Sie mir bitte seinen Namen und seine Adresse geben?

      - Diekmann suchte in seinem Notizbuch: Doktor Neumann, Wachtstraße 11. Und er fügte noch die Telefonnummer hinzu.

      - Danke, sagte der Kommissar und verabschiedete sich. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Und was die Rechnung von Frau Wohlgemuth betrifft, so werden wir dafür eine Lösung finden.

      - Kein Problem, sagte Diekmann. Die Versicherung übernimmt die Kosten.

      Degenhardt verließ das Hotel in trüben Gedanken. Würde Silke wirklich diesen Abend die Solopartie erfolgreich singen können?

      Nun musste er nach vorne blicken. Es gab Dringenderes für ihn zu tun. Der Mordfall wartete auf seine Klärung. Und das war nicht das Einzige, was es für ihn zu tun gab.

      Auf kürzestem Weg ging er in sein Büro, um Anzeige zu erstatten. Seine Assistentin erledigte den notwendigen Schriftkram.

      Anschließend diktierte er einen Bericht über seinen Besuch im Hause Schwarzer. In Gedanken ging er noch mal die wesentlichen Einzelheiten des Gesprächs mit Frau Reinhold durch und überlegte die wahrscheinlichsten Szenarien. War es Selbstmord, was war dann sein Motiv? War es Mord, wer käme dann als Mörder in Betracht? Noch hatte er keine heiße Spur. In jedem Fall müsste er Frau Schwarzer sprechen. So schnell wie möglich.

      Kurz vor sieben verließ er das Büro und ging nach Hause. Er musste sich noch für den Konzertabend zurechtmachen.

      Zuvor aber ließ es sich in seinen Sessel fallen, legte die Beine auf den Tisch genehmigte sich gewohnheitsmäßig einen Cognac, um den ganzen Dreck des Tages hinunterzuspülen. Jedenfalls bildete er es sich ein. Seine Katze sprang auf seinen Schoß, wie sie es immer zu tun pflegte.

      Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es höchste Zeit zum Duschen sei und sich für den Abend umzuziehen. Wenn er es nicht versprochen hätte, wäre er sicher nicht ins Konzert gegangen. Und schon gar nicht in dieses elegische Werk. Besser wäre es gewesen, wenn es die Fledermaus gewesen wäre. Da wäre er auf angenehmere Gedanken gekommen. Aber es war nun mal so wie es war. Mitgegangen und mitgefangen, dachte er. Bist ja selber schuld, wenn du dich in so eine schwierige Lage bringst. Hättest ja auch einen anständigen Beruf wählen können, wenn du etwas Gescheites gelernt hättest..., pflegte er zu sich zu sagen.

      Der unheilvolle Konzertabend

      Noch gerade rechtzeitig erreichte er die Glocke, um seinen Patz ganz vorne auf der seitlichen Empore einzunehmen. Auf dem Programmzettel stand Silke Wohlgemuth, Sopran. Also würde sie singen, jedenfalls war im Foyer keine Notiz ausgehängt worden, dass sie krankheitsbedingt durch eine andere Sängerin ersetzt worden sei. Degenhardt war gespannt und beunruhigt.

      Von oben konnte er sehen, dass der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war. Auch die Herren der Skatrunde konnte er ausmachen. Der Platz direkt am Gang, der gewöhnlich für Herrn Schwarzer reserviert war, war von einem jüngeren Mann so um die dreißig besetzt. Vielleicht sein Sohn, dachte er. Zu seiner Überraschung erblickte er Frau Reinhold auf dem Platz neben ihm. Sicher kein Zufall. Ob sie wohl mit Herrn Schwarzer des Öfteren ins Konzert gegangen war? Möglich, wer weiß. Jedenfalls war sie da, beide in Schwarz gekleidet.

      Tatsächlich erschien die Sopranistin begleitet vom Bariton-Sänger mit dem Dirigenten, Rudolf Kempe auf dem Podium, vom begeisterten Applaus des Publikums empfangen. Erneut trug sie das schwarze Kleid vom Vorabend. Und - das fiel ihm besonders auf - sie trug weißgoldene Ohrringe mit Brillanten besetzt und eine doppelte Perlenkette, die ihren Ausschnitt dezent verdeckte. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Silke hatte ihn mit den Augen auf dem Rang gesucht, gefunden und ihm zugelächelt. Er nickte ihr aufmunternd zu.

      Der Dirigent blickte auf das Orchester, vergewisserte sich, ob alle Musiker bereit waren, und er beginnen konnte. Auf sein Zeichen erhob sich der Chor. Sämtliche Mitglieder schwarz gekleidet. Gespannte Ruhe kehrte im Sal ein. Der Dirigent hob den Taktstock: „Selig sind, die da Leid tragen“, begann der Chor. An was dachte Silke in diesem Augenblick? Er hätte es gerne gewusst. Er selbst empfand es als vermessen, denn er verabscheute das viele Leid in der Welt, vor allem, wenn er die schrecklichen Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Wenn es denn wirklich einen Gott gibt, der in das Geschehen in der Welt eingreift, warum sorgte er nicht dafür, dass kein Leid in der Welt geschieht?

      Es folgte der Bariton nach einem düsteren Vorspiel: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras. Es wird verdorren“. Ob das auch für Herrn Schwarzer gilt, dachte er, oder wird sein Geist irgendwo anwesend sein? Degenhardt fehlte der rechte Glaube. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, musste er zugeben, dass er überhaupt an nichts glaubte, was er nicht sehen und anfassen konnte oder was irgendwie von klugen Menschen wissenschaftlich bewiesen war. Aber auch hier hatte er durchaus Schwierigkeiten, denn Manches entzog sich tatsächlich einer wissenschaftlichen Erklärung.

      Die folgende Sequenz: „Herr lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und ich davon muss und ich ein Ziel habe“ hatte für Degenhardt eine ganz reale Bedeutung, denn er kannte sein persönliches Ziel nicht und wusste doch nur allzu genau, dass er nicht ewig leben würde. Der Gedanke schmerzte ihn und er vermied ihn, wo und wie es auch immer möglich war. Nun war wieder jemand aus seinem Bekanntenkreis gestorben, und er wusste nicht wie und warum. Er würde versuchen, es herauszufinden und seine Arbeit so gut es ihm möglich war, erledigen, sich für die herrschende Ordnung einsetzen und das Verbrechen bekämpfen. Aber er wusste, dass auch er irgendwann davon musste, weil keinem Irdischen das ewige Leben beschieden war. Der Gedanke belastete ihn aber nicht sonderlich. Er lebte gern im Hier und im Jetzt und war im Grunde mit sich zufrieden, wenn er sich zuweilen auch etwas einsam fühlte. Aber das könnte sich vielleicht ja irgendwann ändern.

      Dann kam das Versprechen auf das Jenseits: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth“. Unter diesen himmlischen Wohnungen konnte Degenhardt sich nicht viel vorstellen. Er lebte hier im Diesseits in einer ansprechenden Wohnung und wollte nur seine Ruhe und Frieden. Möglichst nicht nur für sich sondern auch für seine Mitmenschen. Aber dieser Traum würde wohl nie in Erfüllung gehen. Merkwürdig, dachte er, alle Menschen in der Welt sehnen sich seit Menschengedenken nach Frieden und führen doch immer wieder Kriege. Habgier und Herrschsucht waren doch stärker als alle frommen Wünsche.

      Und dann kam das Unglück: Die Sopranistin erhob sich und sang mit wunderbarer Inbrunst und Hingabe: „ Ihr habt nun Traurigkeit, aber Ich will euch wiedersehen, und will euch trösten.“ Woran sie jetzt wohl dachte, hätte er gerne gewusst. Ob sie dabei an sich selbst dachte oder an jemand anderes? Er würde sie vielleicht eines Tages danach fragen, wenn sie sich besser kennengelernt hatten, was er sich durchaus wünschte. Aber dann geschah das Unfassbare: Sie begann zu weinen, Tränen flossen ich über das Gesicht, die Schminke lief ihr über die Backen, sie versuchte am Dirigenten-Pult Halt zu finden, brach zusammen und fiel der Länge nach auf den Boden.

      Voller Entsetzen starrten die Menschen auf die bewegungslose Frau. Einige Musiker der vordersten Reihe waren aufgesprungen und bemühten sich um sie, versuchten sie wieder aufzurichten, aber es war vergeblich. Ein paar Sanitäter traten aus dem Hintergrund hervor und legten sie sanft auf eine Tragbahre und entfernten sich durch die Seitentür.

      Der Dirigent brach das Konzert ab. Er sah keine Möglichkeit, das Konzert fortzusetzen. Er wandte sich an das Publikum und bat um Verständnis für den unerwarteten Abbruch.

      Das Publikum war wie gelähmt und ging schweigend zum Ausgang. Der Kommissar ging auf das Podium und brachte etwas Ordnung in das Chaos, denn er war allseits bekannt, und man achtete seine Autorität. Er rief den Notarzt. Banges Warten. Als der Krankenwagen endlich vorgefahren