Arnulf Meyer-Piening

Ein rabenschwarzer Tag


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einen Schwächeanfall, vielleicht sogar einen leichten Schlaganfall. In jedem Fall müsse sie sofort mit Sauerstoff behandelt werden. Er deutete sogar die Notwendigkeit einer Operation an, die aber nicht vor den nächsten Tag durchgeführt werden könne. Bis dahin müsse sie auf der Intensivstation bleiben.

      Degenhardt konnte hier nichts für sie tun. Sie hatte das Bewusstsein noch nicht wiederlangt. Er verließ das Krankenhaus und fuhr nach Hause. Auf dem Weg dorthin schaute er kurz im Hotel vorbei, um im Empfang Bescheid zu geben, dass Frau Wohlgemuth heute Nacht nicht ins Hotel kommen würde. Sie sollten nicht unnötig die Polizei alarmieren. Er würde sich persönlich um die Regulierung der Rechnung kümmern.

      Bei der Gelegenheit sagte ihm die Telefonistin, dass Frau Wohlgemuth eine ganze Reihe von Telefongesprächen mit ein- und derselben Nummer geführt hätte. Sie zeigte ihm den Ausdruck. Er ließ sich eine Kopie geben, damit die Telefonrechnung bezahlt werden könne. In der kommenden Woche würde er die Gesprächsteilnehmer überprüfen lassen, um den Grund für die vielen Anrufe zu erfahren.

      Am nächsten Tag fuhr er als erstes ins Krankenhaus. Aber er konnte sie weder sehen noch mit ihr sprechen, denn sie befand sich in der Vorbereitung auf die Operation. Er hinterließ seine Telefonnummer und fuhr ins Büro. Er suchte Zerstreuung in der Arbeit, denn in seiner Wohnung hätte er nicht gewusst, was er tun sollte. Aber auch in der Arbeit fand er keine innere Ruhe.

      Es war Samstag, eigentlich sein freier Tag. Was sollte er mit dem regnerischen Tag anfangen? Vor dem späteren Abend würde er Silke nicht besuchen können. Also sichtete er noch einmal seine Aufzeichnungen über den Fall Schwarzer, ob er nicht unter dem Druck der Ereignisse irgendein Detail übersehen hatte. Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren, denn seine Gedanken weilten bei Silke, die jetzt wohl operiert würde oder schon operiert worden war.

      Am liebsten wäre er wieder ins Krankenhaus gefahren, aber das machte zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn, das wusste er genau. Er würde sie nicht zu sehen bekommen. Außerdem hatten sie ja seine Telefonnummer von seinem Handy. Sie würden ihn anrufen, sobald sie sie ein erstes Ergebnis vorliegen hatten. Also musste er warten. Das war nicht gerade seine Stärke. Im Gegenteil, es machte ihn nervös und reizbar.

      Daher rief er den Arzt von dem Radisson-Blue-Hotel an. Er sagte ihm, dass seine Patientin Frau Wohlgemuth bei ihrem gestrigen Konzert in der Glocke zusammengebrochen sei und im großen Krankenhaus liege und wahrscheinlich in diesem Augenblick operiert würde. Gerne möchte er mit ihm sprechen und seine Diagnose vom Vortag erfahren. Der Arzt gab ihm einen Termin am frühen Nachmittag.

      Schon kurz nach zwei Uhr betrat er voller Ungeduld die Arztpraxis und wies sich am Empfang als Polizeikommissar aus, denn die junge Frau kannte ihn nicht. Schon nach kurzer Wartezeit wurde er ins Besprechungszimmer gebeten.

      - Haben Sie schon etwas erfahren, wie ist die Operation verlaufen?, erkundigte sich der Arzt.

      - Leider habe ich noch nichts gehört. Die Ärzte wollten mich anrufen, sobald sie eine genaue Diagnose stellen können. Ich weiß nicht, ob das lange Schweigen ein positives oder negatives Zeichen ist.

      - Und, was kann ich für Sie tun?

      - Ich hätte gerne Ihre Diagnose über den Gesundheitszustand von Frau Wohlgemuth erfahren. Dazu entbinde ich Sie ausdrücklich von Ihrer ärztlichen Schweigepflicht, denn es geht hier um das Leben einer mir sehr am Herzen liegenden Frau, die ich auch als Künstlerin sehr bewundere. Außerdem könnte hier ein Verbrechen vorliegen.

      - Also, wenn Sie darauf bestehen: Ich habe ziemlich schlechte Nachricht für Sie. Was ich gestern noch nicht wusste und erst jetzt weiß, nachdem ich die Ergebnisse der Blutprobe erhalten habe, ist, dass sie drogenabhängig war. Wahrscheinlich hat sie regelmäßig Crystal Meth genommen, und zwar in größeren Mengen.

      - Degenhardt reagierte entsetzt: Das ist doch nicht möglich! Wir hatten den Abend vorher gemeinsam verbracht, da schien sie vollkommen normal zu sein. Nichts, auch gar nichts, deutete auf eine Drogenabhängigkeit hin.

      - Oft merkt man das den Menschen nicht an, wenn sie gerade high sind. Der euphorische Zustand kann durchaus ein paar Stunden anhalten, dann aber folgt der Katzenjammer unweigerlich.

      - Wirklich schlimm sind die Entzugserscheinungen am nächsten Tag, wenn sie keinen Stoff mehr haben. Es kann zu Weinkrämpfen und sogar zum Zusammenbruch des Kreislaufs kommen.

      - Das könnte bei ihr der Fall gewesen sein, denn offenbar hat sie verzweifelt versucht, an etwas von dem Teufelszeug heranzukommen, aber sie hatte kein Geld, um es regulär bei den üblichen Dealern zu kaufen. Jedenfalls hat sie tagsüber des Öfteren mit jemandem telefoniert, sagte mir die Telefonistin im Hotel. Ich weiß noch nicht, wer der Angerufene ist. Wir werden das so schnell wie möglich herausfinden.

      - Und was nun?, fragte der Arzt.

      - Zunächst möchte ich Sie bitten, mir die Ergebnisse der Blutanalyse auszuhändigen. Wenn Sie Bedenken haben, dann kann ich Sie dazu auch gerichtlich auffordern lassen. Wie Sie wollen.

      - Ist schon gut. Ich beuge mich der Staatsgewalt. Der Arzt bat den Kommissar um eine Empfangsbestätigung und gab ihm das gewünschte Ergebnis.

      - Danke. Ich werde es zu den Akten nehmen. Vielleicht führt es uns auf die Spur der Dealer.

      - Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?

      - Nein, vielen Dank, im Augenblick wüsste ich nichts. Jetzt bleibt uns nur noch auf Besserung zu hoffen und zu warten.

      Damit verabschiedete er sich. Er wusste wirklich nicht, was er in dieser Sache sonst noch hätte tun können. So beschloss er, einen Gang über den Marktplatz zu machen. Um etwas anderes anzufangen, fehlte ihm die Konzentration. Weshalb hatte er gestern nicht ihren labilen Zustand erkannt? War er von ihrer Schönheit, Anmut und Lebhaftigkeit geblendet worden, oder wollte er die Realität nicht sehen? Er begann an sich selbst und seinem Urteilsvermögen zu zweifeln.

      Die paar Schritte ging er zum Roland, der mit unbewegter Miene vor sich hinstarrte, und suchte Entspannung im Ratskeller. Sein Blick wanderte über die Fresken von Max Slevogt, die ziemlich drastisch waren: Fast unbekleidete Frauen in aufreizender Pose. Ja, so liebreich konnten Frauen sein. Begehrenswert. Doch danach stand ihm jetzt nicht der Sinn. Er bestellte eine Flasche Graacher Himmelreich, und dachte dabei an den vergangenen Abend mit ihr. Wie gern hätte er sie jetzt bei sich gehabt, allerdings ohne Drogen und mit natürlicher Fröhlichkeit. Wer weiß? Vielleicht ein Andermal. Wie es ihr wohl gehen mochte? Sorgenvoll starrte er auf sein Handy, aber nichts regte sich. Keine SMS, kein Anruf. Nichts.

      Er starrte auf das düstere Bild in der Ecke: „Das Schwarze Loch“. Gehörnte Teufel mit Schwänzen und Bocksbeinen stritten sich mit Mistgabeln um die Seele eines Menschen. Wem gehörte sie? Was wäre, wenn es seine Seele wäre oder die von Herrn Schwarzer? Er verdrängte die bange Frage, auf die er keine Antwort erhalten würde. Ihm blieb nur Hoffen oder Bangen. Dazu blieb ihm noch viel Zeit. Lieber nicht daran denken.

      Schwarzers Loch? Ja richtig. Da wartete noch ein anderer Fall auf die Lösung. Er müsste möglichst bald einen Termin mit Frau Schwarzer vereinbaren. Am besten wohl bei ihr in Worpswede. Und auch mit dem Sohn Werner Schwarzer müsste er sprechen, den er von Ferne im Konzertsaal gesehen hatte. Wie war es möglich, dass Frau Reinhold neben ihm gesessen hatte? Viele Fragen. Es gab noch viel zu tun. Er genehmigte sich noch ein Glas Wein. Es half ihm, sich dem Gedanken an das Himmelreich zu nähern. Der Gedanke gefiel ihm besser als der an die Hölle.

      In diesem Augenblick läutete das Handy. Eine SMS forderte ihn auf, sofort ins Krankenhaus zu kommen. Was konnte geschehen sein? War es eine gute oder eine schlechte Nachricht? Bald würde er es wissen.

      Vorsichtshalber nahm er ein Taxi, das gleich in der Nähe am Liebfrauenkirchhof parkte. Er warf im Vorbeigehen noch eine Münze in das Brunnenbecken, denn es versprach Glück. Er konnte es gebrauchen.

      Nicht lange brauchte der Fahrer und sie hielten vor dem Eingang zum Großen Krankenhaus an der Sankt-Jürgenstraße. Er erkundigte sich nach Frau Wohlgemuth und wurde zur Intensivstation geleitet. Ein schlechtes Zeichen? Vielleicht auch nicht. Schließlich war es ein schwerwiegender