Saskia Burmeister

Die Mitternachtsuniversität


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Möglichkeit zu bremsen, war in jenem Moment nicht gegeben, da es steil bergab ging. Der Hund lief zu dieser Zeit neben dem Fahrrad her, gab aber keine Anzeichen, schlapp zu machen. So schnell hatte Spike noch nicht einmal einen Windhund im Fernsehen galoppieren sehen. Ein sehr mulmiges Gefühl machte sich in dem Jungen breit, doch da hatten die zwei schon den Fuß des Hügels erreicht. Nun führte die Straße schnurgeradeaus und der Labrador Retriever nahm wieder seine Position als »Schlittenhund« ein und zerrte das Fahrrad mit enormer Geschwindigkeit weiter.

      »Nun halt doch mal an, wo willst du überhaupt hin?«, brüllte Spike, musste dann aber abbrechen und sich aufs Festhalten konzentrieren. Nach einer kurzen geraden Strecke wetzte der Hund nach rechts und verließ den Bürgersteig. Schleppend überwand das Fahrrad die Bordsteinkannte und Spike wurde reichlich durchgeschüttelt. Von rechts nahte hupend ein Auto, Spike verfiel in lautes Geschrei, doch der Hund stoppte nicht, sondern beschleunigte sogar noch mehr. Er schnitt das Auto mit dem schimpfenden Fahrer, der die Bremsen quietschen ließ und bog in eine kleinere Straße ein, die geradewegs in eine Wendeschleifen-Sackgasse führte.

      »Jetzt halt doch mal an!«, brüllte der Junge und tatsächlich tat der Hund ihm endlich den Gefallen. Er ließ das Seil los, Spike bremste und kam in der Wendeschleife zum Stehen. Vor ihm lag die Uferpromenade, an welcher die Straße endete. Nach rechts und links erstreckte sich die geflieste Promenade bis zum Horizont. Dahinter gab es einen kurzen, mit schwarzen Steinen gespickten Uferstreifen und wiederum dahinter lag das weite, unendlich wirkende Meer. Starker salziger Wind wehte, große Wellen brandeten an die Felsen und die Gischt wirbelte umher. Weit draußen vor der Küste ragte eine kleine Felseninsel aus den Wogen und zur Linken von Spike mündete ein Flusslauf ins Meer. Eine Brücke führte ganz in der Nähe über das Fließgewässer hinweg.

      Keuchend schnappte der Junge nach Luft, zerrte das Fahrrad auf den Gehsteig und ließ es scheppernd fallen. Leises Winseln kam von dem Labrador und Spike sah ihn vorwurfsvoll an.

      »Wolltest du mich vielleicht umbringen, mein Freund?«

      Der braune Hund gab ein schnaubendes Geräusch von sich, schüttelte sich heftig und stieß den Kopf dann dem Jungen leicht in die Seite; jener stolperte einen Schritt nach hinten. Leises Brummen kam vom Labrador, dann warf er wieder den Kopf herum, als sei er innerlich angespannt und ruhelos. Einmal jagte der Hund im Kreis herum, hinter seiner Rute her, brach dann diese kreisende Bewegung ab und wetzte in Richtung der Brücke zur Linken davon. Aus dem Blickfeld des Jungen verschwand er, als er hinter eines der in der Sackgasse geparkten Autos hetzte.

      Verwirrt fasste sich Spike an den Kopf. Was war hier nur los? Von rechts nahte eine große, breitschultrige Männergestalt im Trenchcoat. Die braune Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen. Schnell entfernte sich der Mann in Richtung der Flussmündung. Vor Schreck über das plötzliche Auftauchen der düsteren Gestalt, machte der Junge einen Ausfallschritt nach hinten und stieß mit der hüfthohen Mauer zusammen, welche die Promenade vom steinigen Strand abschirmte.

      »Brrr«, der Junge schüttelte sich leicht um wieder zur Besinnung zu kommen. Hinter ihm färbte sich der Horizont schon orangerot mit der untergehenden Sonne. Ein leises Zischen holte ihn gänzlich ins Jetzt zurück. Sein Blick fiel zu seiner Rechten, wo auf der Mauer eine alte Bekannte hockte: eine in die Jahre gekommene dreifarbige Katze mit strahlend bernsteinfarbenen Augen. Spike kannte sie schon sein Leben lang.

      »Dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen«, fiel es Spike ein und er hockte sich auch auf die Mauer. Es war unterdessen ziemlich frisch durch den brausenden Wind geworden. Weit und breit ging niemand an der Promenade spazieren. Leicht legte die weiße Katze mit den schwarzen und braunen Flecken den Kopf schief und ließ sich geduldig hinter einem Ohr kraulen.

      »Was für ein verrückter Tag«, klagte Spike ihr sein Leid und ein leises Schnurren kam aus ihrer Kehle. Sie blieb auch entspannt, als er von dem scheinbar übergeschnappten Hund erzählte und von der tollkühnen Fahrt, die ihn hierher brachte. Sie blieb so gelassen wie eh und je, denn bevor der Labrador Retriever hier aufgetaucht war, hatte sie schon ein ums andere Mal als Kummerkasten hergehalten und sich stets mit einer Engelsgeduld angehört, was Spike auf der Seele lag: Waren es nun Klassenkameraden, die ihn wegen seiner Brille oder seinem leichten Übergewicht foppten oder Sportlehrer, die ihn wegen seiner zwei linken Füße verlachten. Spike hatte es nie in seinem Leben besonders leicht gehabt. Sein Vater war meistens auf Reisen und mit seiner Stiefmutter kam er auch nicht besonders gut zurecht. Meist tat er einfach, was sie in Punkto Hausarbeit von ihm verlangte und ging ihr ansonsten aus dem Wege oder schwieg sie an.

      Dass Spike ansonsten auch eher durchschnittlich war, hatte er der Katze längst anvertraut. Er war in vielen Fächern eher schlecht, vor allem was die Sprachen betraf. Nur in den Naturwissenschaften und der Mathematik brillierte er. Sein einziges Hobby waren Videospiele. Dafür schloss er sich oft stundenlang in sein Zimmer im Dachgeschoss ein - wenn er nicht gerade von falschen Freunden ans andere Ende der Kleinstadt bestellt wurde.

      Wie Spike so ins Schwafeln kam, hob die Katze ein wenig ihren Kopf. In ihrem Blick lag eine gewisse Schläfrigkeit. Schon hielt der Junge inne. Er hatte sich gefreut, an einem so turbulenten Tag wenigstens einem Lebewesen zu begegnen, das so normal war wie immer. Doch langsam schwante ihm, dass mit der Katze heute etwas nicht stimmte. Überaus schwerfällig setzte sie sich aus ihrer liegenden Position auf. Sie hob den Blick noch weiter, bis er sich mit dem des Jungen traf. Ein kalter Schauer lief ihm augenblicklich den Rücken entlang. Doch er war nicht in der Lage seinen Blick von dem der Katze zu lösen. Ja, nicht einmal die Hand, die er ihr auf den Rücken gelegt hatte, vermochte er in diesem Moment wegzuziehen.

      Das Rauschen des Meeres im Hintergrund verstummte für einen flüchtigen Augenblick. Das Rot der untergehenden Sonne flackerte noch einmal kurz am Horizont, bevor die Nacht endgültig hereinbrach. Da durchzuckte es Spike wie ein kleiner Blitzschlag. Heftiges Kribbeln spürte er in den Fingerspitzen, die das Fell der Dreifarbenkatze berührten. Wie elektrisiert stellte sich ihr Haarkleid auf und der Junge fühlte, wie auch seine rotblonden Locken sich aufrichteten. Das Kribbeln kroch ihm unterdessen weiter den Arm hinauf und die bernsteinfarbenen Augen der Katze, in die er noch immer starrte, wurden gleißend hell. Noch einmal durchzuckte es ihn, dann konnte er sich endlich rühren, drehte sich zur Seite und schloss die geblendeten Augen.

      Wild rauschte das Meer im Hintergrund. Die Nacht war da und ein Kläffen ertönte von der Brücke her. Jemand brüllte aus vollem Hals und das Bellen ging in ein Jaulen über. Entsetzt fuhr Spike zusammen. Seine rotblonden Locken hatten sich wieder gelegt. Das seltsame Kribbeln war verschwunden. Verdattert schaute er auf den leeren Platz neben sich. Leicht erschrak er und schaute sowohl vor die Mauer als auch dahinter und dann die Promenade entlang. Doch seine alte Katzenfreundin war nicht herab gestürzt oder hatte sich entfernt, sondern war wie vom Erdboden verschluckt. Ein bleiernes Gefühl verspürte Spike dennoch im Magen, eine Gewissheit, dass seine treue Zuhörerin von dieser Welt gegangen war.

      Ein Rascheln kam von hinten und Spike fuhr herum. Am Strand nahte, in Richtung der Flussmündung, ein anderthalb Kilo schweres, gedrungenes, rattenähnliches Tier: ein Bisam. Dieses hob den breiten Kopf mit der kurzen Schnauze und schaute dem Jungen frontal ins Angesicht. Die Ohren von Spike vernahmen darauf hin hohe fiepende Töne aus dem Maul der Bisamratte, die in seinem Kopf aber unnatürlicherweise die Form von Wörtern annahmen.

      »Hey, ist was?«, hallte das Quieken des Bisam in Spikes Kopf und das war noch längst nicht alles. Zu dieser akustischen Halluzination kam nun auch noch eine optische. Die gedrungene Gestalt des Bisam verzerrte sich und wurde ähnlich zu jener eines kahlen Miniatur-Gorillas, gekleidet in einen graubraunen Fell-Wams. Der Kopf blieb groß und plump, bekam aber menschliche Gesichtszüge. Aus dem Unterkiefer ragten zwei abgebrochene Hauer heraus und an Hals und Kopf trug das Wesen eine ungepflegte Mähne. Wäre es nicht so abwegig gewesen, hätte Spike geschworen, es wäre ein Brücken-Troll aus seinen Videospielen.

      »Hier riecht es nach Ärger. Schönen Tag dann noch, Lockenkopf.« Damit verschwand die Halluzination auch wieder. Zumindest hielt der Junge es für eine solche und rieb sich die Augen. Das konnte schließlich nicht wahr sein.

      Unter der Brücke erklang nun abermals ein Jaulen und Brüllen. Schon wollte Spike auf die Füße springen, doch er zögerte. Ein Flügelschlagen