Saskia Burmeister

Die Mitternachtsuniversität


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der Vogel, dessen eben noch gewöhnlich aussehender Kopf in Spikes Augen zu jenem einer jungen, schwarzhaarigen Frau wurde. Auch als er kurz die Augen schloss und sie dann wieder auftat, blieb die mutmaßliche Sinnestäuschung bestehen.

      »Andauernd hockst du hier herum und bläst Trübsal! Was bist du nur für eine trübe Tasse? Heul nicht rum, sondern tu was!« Dabei plusterte sich der Vogel auf und dem Jungen wurde angst und bange.

      »Haben dich wieder irgendwelche Spatzenhirne aufgemischt?«, quakte die Krähe mit dem Frauenkopf in einem fort. »Dann geh doch endlich zum Kampfsporttraining und mach sie selber platt, statt dich bei streunenden Katzen auszuheulen!«

      Die Märchengestalt reckte dabei den Hals und sperrte den Mund auf, um erneut loszuwettern. Zutiefst schockiert sprang Spike von der Mauer, da erklang schon wieder Geschrei, von der Brücke her. Nun standen der frauenköpfigen Krähe augenblicklich alle Federn zu Berge.

      »Der Jäger!«, kreischte sie in hohem Ton, spannte die Flügel auseinander und startete in den Nachthimmel. »Rette sich wer kann!«

      »Sind denn alle verrückt geworden?«, beschwerte sich Spike halblaut, während er zur Brücke eilte. »Die Menschen haben ja eh alle irgendwo einen Sockenschuss, aber nun ist der Wahnsinn auch noch auf die Tiere übergegangen!« Ein wenig verzweifelt raufte er sich die Haare, als erneut wildes Geschrei zu hören war. Die ohrenbetäubende tiefe Stimme eines Mannes wetterte etwas von Ungeheuern, Ausmerzen und Pflöcken.

      Endlich kam der Junge bei der Brücke an. Unter dieser, am Ufer des Flusses, stand der Kerl in dem Trenchcoat, den er vorhin gesehen hatte. Doch dieser Typ war nicht allein. Er beugte sich zu einem jungen Mann herab, der in die Knie gegangen war. Gerade rang der grobe Kerl mit diesem noch, den er bei den Handgelenken gefasst hielt, nun aber packte er den hageren Jungen beim Hals und begann ihn zu würgen - unaufhörlich dabei Flüche ausstoßend.

      Wie ein Blitz durchfuhr der Schreck Spikes Glieder und er hielt inne. Es war dunkel, und kaum etwas zu erkennen. Nur eine einzelne Laterne in der Nähe spendete diffuses Licht. Für einen Moment wusste Spike nicht, was er tun sollte, die Furcht drohte ihn zu lähmen. Sollte er eingreifen oder doch besser abhauen? Wie er noch zauderte, trat er auf einen trockenen Ast, der geräuschvoll unter seinem Schuh zerbrach.

      »Wer da?«, wie von der Hornisse gestochen fuhr der Kerl im Mantel herum. Seine Schiebermütze war noch immer tief ins Gesicht gezogen.

      »Ein Feind?«, fluchte der Typ mit den breiten Schultern und der junge Mann, den er würgte, keuchte in einem fort. Hinter Spike raschelte es, als die dicke Bisamratte vorbeihuschte. Abermals veränderte sich ihre Gestalt zu der eines Trolls, dann verschwand sie auch schon in einem nahen Gebüsch. Ihr unerwartetes Auftauchen hatte aber dazu geführt, dass Spike noch ein paar Schritte näher zur Brücke gestolpert war.

      »Nicht weiter!«, fauchte ihn der hoch gewachsene Kerl an und augenblicklich erstarrte Spike zu einer Salzsäule. Er stand nun fast unter der Laterne und war für den Fremden gut sichtbar. »Was, nur ein Knabe?« Der Mann schien enttäuscht und Spike ging die Muffe wie nie zuvor in seinem Leben.

      Ein Keuchen von dem Geschundenen lenkte Spikes Aufmerksamkeit auf jenen. Der Gewürgte bekam offenkundig immer weniger Luft. Verzweifelt versuchte er sich frei zu winden, doch erfolglos. Der Trenchcoatträger war einfach zu stark. Jener gab ein widerwilliges Murmeln von sich und wandte sich dann an Spike: »Hör gut zu Junge: Hau ab, solange du noch kannst!«

      Sofort verspürte Spike den unwiderstehlichen Drang danach, sich zu verkrümeln. Doch seine Füße waren wie Blei. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er glaubte ohnmächtig zu werden. Da flackerte mit einem Mal ein ganz eigenartiges Gefühl in ihm auf. Warm und beruhigend breitete sich dieses in seinem Bauch aus. So recht wusste er es nicht zu deuten, da er Derartiges nie verspürte. Doch das Gefühl wurde immer stärker und Spike beschlich ein Verdacht: Das musste der Mut sein, von dem all seine Helden in den Videospielen beschwingt wurden, der sie über sich hinaus wachsen ließ und ihnen gar Flügel verlieh.

      Offenbar verwirrte es den großen Kerl mit der Mütze sehr, dass Spike nicht davon lief wie ein Hase. Hektisch sah er sich um und lockerte dabei ein wenig seinen Griff. Der Gefangene wand sich mit aller Kraft, kam aber immer noch nicht los. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte er nun seinerseits seinen Peiniger beim Hals zu packen, bekam aber nur dessen große Nase zu fassen. Ein wildes Ringen entstand und für einen Augenblick drehten sich die beiden Kontrahenten aus dem Schatten der Brücke in das helle Mondlicht. Nun erst wurde Spike auf die dunkle Haut des Geplagten aufmerksam. Noch stärker loderte das warme Gefühl in ihm auf und er machte einen Schritt nach vorne.

      »Sie rassistischer Schweinehund! Lassen sie den Mann in Frieden!«, von einem unglaublichen Anfall von Mut gestärkt, rannte Spike los und stieß mit dem Kerl zusammen. Der Trenchcoatträger brüllte Verwünschungen aus, nahm die rechte Hand von der Kehle des Gefangenen und bohrte Spike seinen Ellenbogen in die Rippen. Für einen Augenblick bekam der Junge keine Luft, wurde zudem von den Füßen gerissen und landete sehr hart am Boden. Ein drohendes Grollen kam von dem Hünen. Dieser fasste noch immer mit der Linken den Schwarzen am Hals und hielt ihn in Schach.

      »Ein schwerer Fehler, sich einzumischen!«, wetterte der Kerl mit dem Trenchcoat. Doch dem galt in dieser Sekunde nicht Spikes Aufmerksamkeit, sondern dem Opfer. Der Schwarze fauchte gerade wie eine Katze und riss dabei den Mund auf, wobei sich lange weiße Fangzähne entblößten.

      »Siehst du das?«, der Mann mit der Schiebermütze verstärkte seinen Würgegriff und wehrte die Attacken des Gegners ab, der mit den Händen nach ihm schlug. Er fand dabei sogar Gelegenheit in seine Jackentasche zu greifen und ein Holzstück herauszuziehen, das an dem oberen Ende zugespitzt war.

      »Der ist das Monster!«, brüllte der Fremde mit der Jacke und hob bedrohlich den Arm mit dem Pflock. Fauchen kam erneut von dem Gewürgten und dieser hatte nun alle Hände voll damit zu tun, den bewaffneten Arm des Mannes von sich wegzudrücken.

      Zu diesem Zeitpunkt wusste Spike längst nicht mehr, was er noch glauben oder denken sollte. Alles kam ihm surreal vor. Vielleicht hatte er sich irgendwann den Kopf angeschlagen und halluzinierte gerade. Oder er war eingeschlafen und es hatte ihn in ein Traumland verschlagen, in dem seine Videospiele real waren. Irgendwas stimmte hier jedenfalls ganz und gar nicht. Im Moment war er sich nicht einmal mehr schlüssig darüber, wer der Angreifer und wer das Opfer war.

      Hilfe suchend sah Spike erst zu dem Kerl mit dem Pflock. Bei all dem Ringen war dessen Schiebermütze verrutscht. Für einen Moment kreuzte sich dessen eiskalter Blick mit dem von Spike. Leichter Schüttelfrost erfasste den Jungen dabei. Dann wandte er den Kopf und sah sich nun im Blickkontakt mit dem dunkelhäutigen jungen Mann. In dessen grauen Augen lag Anstrengung und Furcht. So bang wie gerade eben wurde Spike bei dessen Anblick aber nicht dabei. Im Gegenteil, das warme Gefühl in seinem Magen loderte wieder auf.

      »Lassen Sie ihn los, Sie Verrückter!«, Spike sprang endlich auf die Beine, kam heran, bekam den rechten Arm des bewaffneten Mannes zu fassen und zerrte daran.

      »Lass du los!«, wetterte der Mantelträger. »Ich bin hier der Gute! Dieses Biest wird heute Nacht erlegt, der Pflock muss in sein Herz!«

      »Was?«, Spike ließ den offenkundig Verrückten los und endlich kam ihm ein vernünftiger Gedanke. »Ich habe ein Mobiltelefon! Ich rufe die Polizei!« Kaum hatte er damit gedroht, ließ der Mann den Pflock fallen und packte statt dessen Spike mit der nun freien rechten Hand am Kragen. Den Schwarzen hielt er dabei noch immer gleichzeitig in Schach.

      »Das wirst du schön lassen und ... ähm ... ja, du wirst brav nach Hause gehen und keinem davon erzählen!«

      »Das denken Sie sich! Aber ich werde trotzdem die Polizei rufen!«, brüllte Spike dagegen und brachte den Gegner damit kurzzeitig aus dem Konzept. Dessen Griff lockerte sich ein wenig und der Dunkelhäutige kam frei. Keuchend rang er nach Luft, robbte zur Seite und fletschte die langen Zähne. Der breitschultrige Mann fuhr zusammen und ließ Spike zu Boden fallen. Hektisch wühlte er in einer seiner vielen Taschen und zog ein Fläschchen hervor. Unterdessen schnaufte Spike