Ly Fabian

Infektion


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unten standen vier Polizeiwagen. Obwohl es in den Pausen sonst ziemlich laut einherging, war es jetzt sehr ruhig. Die Schüler flüsterten nur miteinander. Nach der Klingel kam statt der Kunst- die Deutschlehrerin. Sie erwähnte den Vorfall nicht, schaute jedoch ständig auf ihre Uhr, nachdem sie Arbeitsblätter verteilt hatte. Die letzte Stunde fiel aus. Marie konnte sich kaum auf die Heimfahrt konzentrieren. Beinahe fuhr sie einen Mann um, der ihr wütend hinterherschrie, nachdem sie es gerade so geschafft hatte, ihn zu umrunden.

      Vor ihrem Haus standen die überfüllten Mülltonnen noch genauso wie am Vormittag, als sie losgefahren war.

      »Gott sei Dank, du bist da!« Irene umarmte sie. Ihr Zorn vom Morgen schien verraucht.

      »Ich habe es in den Nachrichten gehört, in eurer Schule gab es einen Anschlag. Was ist passiert? Warst du in Gefahr?«

      Marie schluckte. Ihre Tränen konnte sie kaum zurückhalten.

      »Hannah. Kevin hat sie angegriffen, dann war da überall Blut. Sie ist jetzt im Krankenhaus«

      Irene drückte sie schweigend an sich, während Marie still vor sich hin weinte.

      »Wenn deine Mutter kommt, fragen wir sie, ob sie etwas weiß.«

       Marie wischte sich über die Augen. Hoffentlich überlebte Hannah, hoffentlich waren ihre Verletzungen nicht so schwer. Gleichzeitig ärgerte sie sich über Sascha, der sie festgehalten und so verhindert hatte, dass sie helfen konnte.

      Irene ging in die Küche, um kurz darauf wieder in Maries Zimmer zu kommen. Sie hielt einen dampfenden Kakao in ihren Händen.

      »Hier, den habe ich extra mit Mandelmilch gemacht.«

      Ihre Enkelin lächelte und nahm ihr die Tasse ab. Das süße, heiße Getränk war genau das Richtige. Sie umfasste es mit beiden Händen, nahm die Wärme in sich auf und betete seit Jahren das erste Mal.

       Lieber Gott, bitte lass Hannah leben, lass sie gesund werden.

      Sie war nicht in der Lage, die Hausaufgaben zu machen, wollte das Zimmer nicht verlassen, saß einfach nur auf ihrem Bett, während ihre Tränen liefen.

      Irene sortierte in der Küche das Geschirr in die Schränke. Auf dem Herd stand ein Eintopf. Lisa müsste bald nach Hause kommen. Hoffentlich war im Krankenhaus alles in Ordnung.

      Draußen rumpelte die Müllabfuhr. Sie nahm den Müllbeutel und beeilte sich, um die Männer zu erwischen.

      »Könnt ihr das noch mitnehmen?«, bat sie und hielt ihnen den blauen Sack entgegen. Der ältere Arbeiter, sie waren diesmal nur zu zweit, nahm ihn ihr ab.

       »Ausnahmsweise. Wir sind heut eh spät. Zwei Kollegen sind krank. Wie es aussieht, wird die Abfuhr ausgesetzt, wir müssen die Nachbargemeinden mit übernehmen. In der Stadt gibt es Engpässe. Versucht so weit wie möglich Müll zu vermeiden.«

       »Aber das geht doch nicht. Dann müssen mehr Leute eingestellt werden. Zum Schluss haben wir hier überall wilde Müllkippen und eine Rattenplage!«

       »Das ist nicht unser Problem, wir können nicht mehr als arbeiten.«

      Der Mann schwang sich auf den Wagen, der sich rumpelnd entfernte. Irene zog die Tonnen auf das Grundstück. Die am Morgen im Radio erwähnte Grippepandemie, schien schlimmer zu sein als erwartet. Die Warnung vor Menschenansammlungen, der Ratschlag bei Fieber, Gliederschmerzen und ähnlichen Symptomen unverzüglich das Bett zu hüten, machte Sinn.

      Ihre Gelenke schmerzten, als sie nach oben ging. Sie war seit dem frühen Morgen auf den Beinen.

      Die Tür fiel ins Schloss. Lisa kam aus der Klinik. Diesmal sogar fast pünktlich.

      »Oh, da bist du ja. Das Essen ist fertig.«

      »Mama, ich bin total kaputt, lass mich erst mal ankommen. Ich dusche jetzt, dann lege ich mich für eine halbe Stunde hin. Essen können wir später, ich habe keinen Hunger.«

       Lisa ging ins Bad und kurz darauf hörte Irene das Wasser rauschen.

       »Ist Mama da? Vielleicht weiß sie etwas wegen Hannah.« Marie wollte die Badezimmertür öffnen.

      »Lass sie erst einmal duschen. Du kannst sie gleich fragen.«

      »Was ist los?« Lisa kam im Bademantel in die Küche. Durch die nassen Haare sah ihr Gesicht noch schmaler aus.

       »Hannah wurde angegriffen. Ihr Freund Kevin hat sie verletzt. Sie soll in die Klinik gekommen sein. Weißt du etwas?«

      »Schatz, das ist ja furchtbar! Ich habe gehört, dass es einen Zwischenfall an einer Schule gegeben hat. Das Mädchen wurde bei uns operiert. Als ich gegangen bin, ist sie auf die Intensivstation gekommen. Ich wusste ja nicht, dass es Hannah ist. Wie schrecklich.«

       »Kann ich Hannah besuchen?«

       »Auf die Intensivstation dürfen nur Verwandte. Aber ich schaue mal, was man machen kann. Meine Freundin arbeitet dort.«

      »Können wir gleich hin? Bitte.«

       »Nein, jetzt geht es nicht. Sie braucht Ruhe nach der Operation. Vielleicht morgen. Ich rufe meine Freundin an und frage, wie es Hannah geht. Dann muss ich mich erst mal hinlegen, beim Essen können wir reden.«

      Marie brachte ihrer Mutter das Telefon, die wählte die Nummer der Intensivstation. Ihre Kollegin Betty war am Apparat. Hannah schlief, die erste Operation war gut verlaufen. Es bestand Hoffnung.

      Lisa ging in ihr Schlafzimmer. Aus der halben wurden zwei Stunden.

      Im Radio wurde durchgegeben, dass alle Schulen am Freitag geschlossen wären.

      »Du kannst morgen mit, musst aber helfen. Da du im Frühjahr zwei Wochen Praktikum auf unserer Station hattest, kennst du dich ja aus.« Lisa lächelte ihre Tochter an. »Dann kannst du auch Hannah besuchen.«

      »Ich finde das jetzt nicht so gut«, mischte sich Irene ein. »Überall wird vor Ansteckung gewarnt und du willst sie mit in die Klinik nehmen?«

       »Wir haben keine infektiösen Patienten, nur wahnsinnig viel zu tun.«

       »Ist das legal? Darf sie das überhaupt?«

      »Nein. Ist es nicht. Aber in dem Chaos kontrolliert niemand und so kann sie ihre Freundin sehen und mir helfen Sachen in Sicherheit zu bringen. Ich habe gehört, dass Stationen geschlossen werden. Wir haben zu wenig Personal. Eventuell wird die Klinik aufgegeben und die Belegschaft muss zum städtischen Krankenhaus wechseln. Die haben auch Probleme wegen dem hohen Krankenstand. Das entscheidet sich alles heute bei einer Krisensitzung. Und nein, ich weiß das nicht offiziell, und ja, es ist auch gefährlich. Marie ist bei uns aber nicht in Gefahr. Sie kann Hannah besuchen, wenn sie mir geholfen hat. Sie hat schon zwei Praktika in unserem Haus gemacht, sie kennt sich aus.«

       Irene verzog das Gesicht. Schweigend räumte sie mit Marie die leeren Teller ab.

      »Keine Sorge Oma, ich passe auf, mir wird nichts passieren.«

      Die Nacht war kurz. Marie zog schnell Jeans und Sweatshirt an, als Lisa sie weckte. Das Gesicht ihrer Mutter war bleich. »Wenn dich jemand fragt, du bist Schülerin im ersten Jahr. Dann werden sie nicht allzu viel von dir erwarten. Kannst du fahren?«

       »Ich kann, aber ich darf doch noch nicht.«

       »Jetzt kontrolliert keiner und ich muss ein paar SMS versenden. Außerdem hast du den amerikanischen Führerschein, wir müssen es riskieren.«

       »Wenn du meinst.« Marie war so aufgeregt, dass sie den Wagen zweimal abwürgte, bis er stotternd anfuhr. Die Straßen waren leer. Während ihre Mutter mit dem Handy beschäftigt war, versuchte Marie sich an den Weg zu erinnern und erwischte prompt eine falsche Ausfahrt.

      »Das ist nicht schlimm, fahr einfach die Nächste links und dann gleich wieder rechts«, beruhigte ihre Mutter.

      Bei der Klinik dirigierte Lisa sie zu einem Platz hinter dem Gebäude, neben einem Wirtschaftseingang.

      »Jetzt müssen wir ganz herumlaufen!«, beschwerte sich Marie.

      »Hier geht eine Versorgungstür nach draußen. Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein paar Sachen mitnehmen muss. Bleib im Auto, ich komme gleich