Michael Schwingenschlögl

Märchenstunde


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Sie gelten als Chaot, stilistische Richtlinien und literarische Regeln halten Sie nicht immer ein, oder?

      M: Nein, warum denn auch? Im ganzen Leben muss man sich an Regeln halten, das hier ist Kunst, das kann ich nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten. Wenn jemand ein perfektes literarisches Werk aus dem Lehrbuch will, dann soll er sich doch ein Reclam Büchlein von Schiller oder Brecht kaufen. Bei mir ist vieles anders, und das ist auch gut so. Das wird wahrscheinlich nicht jedem gefallen, aber ich will auch nicht jedem gefallen. Ich habe meinen eigenen Stil, das ist mir äußerst wichtig und dazu stehe ich voll und ganz.

      I: Ich bedanke mich für das Interview.

      M: Auf Wiedersehen.

      Ein klassischer Einstieg

      Meine lieben Freunde, sollen wir tatsächlich so beginnen? Natürlich, immerhin ist das ja eine Fantasygeschichte. Pardon, diese Geschichte ist natürlich wirklich passiert, irgendwo in weit entfernten Landen, in einem längst vergessenen Zeitalter. Wie beginnen diese monumentalen und mittelalterlichen Erzählungen immer? Richtig! Dunkel, erdrückend, tragisch, die Welt steht am Abgrund, nichts ist mehr so, wie es vorher war. Wollen wir uns das wirklich antun? Haben wir das nicht schon hundert Mal davor gelesen, gesehen oder gehört? Klar doch, aber weil es eben so schön und ein Dauerbrenner ist, steigen wir auch so ein. Alte Traditionen und Klassiker müssen eben erhalten bleiben. Beim Fußball erfreuen wir uns doch auch, wenn zum 5821 Mal Real Madrid gegen den FC Barcelona spielt und im Restaurant bestellt man sich, obwohl man die Speisekarte fast auswendig studiert hat, dann doch immer dasselbe Gericht. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Also lassen wir alles beim Alten und ersparen uns einen neumodischen Einstieg. Es ist aber keine billige und schnulzige Seifenoper wie „Game of Thrones“, also ein verruchtes „Reich und Schön“ im Mittelalter und es ist auch keine Geschichte über einen metrosexuellen Vampir. Nein, mit solch einem Unfug geben wir uns gar nicht erst ab, wir sind für Größeres bestimmt! Das hier wird ein knallhartes Epos, das kann ich euch garantieren.

      Natürlich kommen auch all unsere geliebten Freunde vor: Elfen, Zwerge, Kobolde, andere lustige und geheimnisvolle Völker, furchteinflößende Kreaturen und wenn ihr ganz brav seid, dann baut der nette und betrunkene Märchenonkel noch ein paar Drachen ein. Toll, oder? Das klingt ja jetzt schon alles extrem spannend! Aber wir wollen nicht zu viel vorwegnehmen, beginnen wir ganz am Anfang, ganz klassisch eben. Entwertet eure Fahrkarten, steigt ein und begebt euch auf eine atemberaubende Reise in eine Zeit, von der kaum noch etwas bekannt ist.

      Halt! Stopp! Damit das Ganze noch wirklich authentisch rüberkommt, heizt sich der liebe Onkel noch eine Pfeife an und schenkt sich ein riesengroßes Glas Cognac ein. Schneit es eigentlich? Schade, das hätte uns die perfekte Atmosphäre beschert. Das macht aber nichts, kannst du bitte trotzdem den Kamin anheizen?

      Ja, mit dir rede ich. Sei doch so freundlich, ich möchte mich jetzt nicht mehr aus meinem gemütlichen Lehnstuhl erheben. Ein Lehnstuhl, eine Pfeife und ein Glas Cognac, jetzt muss ich nur noch ein Album von Dean Martin auf den Plattenspieler legen und wir hätten es verdammt gemütlich. Die Lieder von Dean Martin sind grandios, euer Märchenonkel ist ein großer Fan von ihm, aber seine Musik passt irgendwie nicht zu einer Fantasygeschichte. Da würden wir irgendetwas Dramatisches brauchen, Gustav Holst, Carl Orff oder Richard Wagner. Nein, lassen wir die Musik lieber weg, so könnt ihr euch besser auf mich und meine Geschichte konzentrieren. Ach ja, bitte dreht euer cooles Smartphone ab. Wenn ich euch schon etwas erzähle, dann will ich gefälligst nicht von eurem Robin Schulz-Klingelton gestört werden. Außerdem gibt es hier auch keine Pokémon, aber Pokémon GO ist doch ohnehin schon wieder out.

      Noch eine Info für alle Instagramer: Wer ein Selfie mit dem Märchenonkel haben will, soll sich in die Liste eintragen, die ich gleich durchgeben werde. Da die Liste höchstwahrscheinlich im Nu voll sein wird, habe ich noch eine zweite, also macht euch keine Sorgen.

      Nun kann unsere Reise aber auch wirklich beginnen.

      Erster Halt: Ithrien, das mächtigste Land der Welt. Wir befinden uns im Jahre eins nach Hieronymus. Eine alte und bodenständige Zeit, die man zirka mit unserem späten Mittelalter vergleichen kann. Strom gab es keinen, Internet und Facebook daher auch nicht. Und auch all die anderen Luxusgüter nicht, ohne die ihr verwöhnten Rotzlöffel nicht einmal eine Stunde überleben könntet.

      Dunkelheit umhüllte die Gefilde, die Schatten der Berge waren länger als je zuvor, der Nebel wich kaum noch aus den Tälern und dichten Wäldern, der Schnee wollte nicht schmelzen, die Sonne war vom Himmel gefallen.

      Nicht etwa, weil ein Landesfürst aus Nordslowenien einen alkoholbedingten Unfall mit seiner Kutsche hatte und dabei verstarb, nein, viel schlimmer, aber gestorben ist auch jemand! Nämlich Großkaiser Hieronymus, Alleinherrscher von Ithrien. 952 Jahre lang saß er auf seinem Ebenholzthron in der Kaiserfeste.

      Moment, jetzt fragt ihr euch sicher, wie ein Mensch so lange Leben konnte, oder? Habe ich überhaupt gesagt, dass er ein Mensch war? Nein, er könnte doch auch ein Elf gewesen sein.

      Aber er war eben doch ein Mensch, und zwar ein spezieller. Hieronymus stammte aus der Linie des weißen Bluts, eine uralte Adelsfamilie. Galdrar, ein Zauberer der Hochelfen, lud die Familie vor langer, langer Zeit zu sich ins ferne Land Gahan ein. Dort durften sie in den ewigen Seen baden und erhielten dadurch ein unnatürlich langes Leben.

      Na bitte, unser Intro ist noch nicht einmal bei der Hälfte und es kommt schon fast alles vor, was das Fantasyherz höherschlagen lässt: Weißes Blut, ein Elfenmagier, hui, na wenn das nicht spannend ist!

      Fahren wir nun fort, liebe Freunde! Was war dieses Ithrien überhaupt und wer zum Teufel war Hieronymus?

      Nun ja, Ithrien war wie gesagt das mächtigste Land der Welt, ein Vielvölkerreich. Menschen, Zwerge, Elfen, alle fanden darin ihren Platz und alle waren von gleichem Rang. Es war ein Miteinander und kein Gegeneinander, eine Besonderheit, denn in anderen Ländern war das nicht der Fall. Dort standen Unterdrückung und Rassismus an der Tagesordnung. In einigen Landen der Elfen wurden die Menschen als Sklaven gehalten, weil sie niedere Lebewesen waren und in den Königreichen der Menschen waren die Elfen der Abschaum der Gesellschaft. Niemand mochte die hochnäsigen Spitzohren und es wurde alles unternommen, um ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Die waren dort verdammt in heruntergekommenen Gettos zu hausen, ähnlich den Favelas in Brasilien. Schäbige kleine Hütten, Armut und schmutziges Wasser, mehr Luxus gab es nicht.

      Super, Wahnsinn! Die Diskriminierung der Anderlinge, das darf in keiner guten Geschichte fehlen! Macht das euer Märchenonkel nicht wunderbar? Ein Zug vom Pfeifchen, damit ich mich besser an die alten Tage erinnern kann, vielleicht kommt ja dann bald einmal ein Krieg ins Spiel.

      Bitte? Natürlich rauche ich Marihuana in meiner Pfeife, schwarzer Afghane, what else?

      Machen wir aber weiter, meine lieben Freunde: Die Zwerge waren sowieso die Punker dieser Zeit, die waren immer gegen alles und jeden und duldeten keine anderen Lebewesen in ihren steinernen Festungen. Außer den Kobolden, das lag vermutlich daran, dass sie eine ähnliche Körpergröße hatten und genauso alkoholsüchtig wie die grimmigen Zwerglein waren.

      Doch auch in Ithrien existierte diese Einigkeit der verschiedenen Völker nicht seit Anbeginn der Tage. Wir werden gleich darauf zurückkommen, aber vorher machen wir noch einen kleinen Exkurs.

      Es gab nämlich noch viele andere Lebewesen, die aber nicht als höhere Lebewesen wie Menschen, Elfen und Zwerge eingestuft waren, sondern nur als niedere und somit denselben Status wie Tiere hatten. Obwohl einige von ihnen alles andere als Tiere und durchaus intelligent waren. Die Kobolde zum Beispiel, die haben wir ja gerade erwähnt. Ein lustiges und geselliges Volk, das die meiste Zeit mit Trinken und Feiern verbrachte. Menschen und Elfen bekamen die lieben Kobolde allerdings nur äußerst selten zu Gesicht. Sie lebten sehr abgeschieden und versteckten sich unter der Erde, in Baumstümpfen und manche sogar in den Baumkronen. Ihre Siedlungen lagen häufig in der Nähe eines Zwergenreichs. Die Zwerge verstanden sich äußerst gut mit den Kobolden und boten ihnen Schutz. Die kleinen Kerlchen waren aber durchaus hinterlistig und spielten verirrten Wanderern und Wanderinnen