Melissa Jäger

Raetia


Скачать книгу

Geburtshilfe unterhalten, den seidenen Faden zwischen Glück und Unglück bei einer Geburt, aber dieser Vertrauensbeweis machte Alpina stolz. Sie tastete im Dunkeln nach ihrer Tunika, schlüpfte hinein und griff sich dann auch noch das dickere, wollene Überkleid und die Schuhe. Der August ging langsam zu Ende und die Nächte waren bereits frisch. Vorsichtig tastete sie sich aus dem Zimmer in den Wohnraum. Hier erhellte das Feuer auf dem Herd den Raum ein wenig. Pertha hatte einen Korb in einer Ecke des Raumes stehen, in dem die wichtigsten Utensilien zur Geburtshilfe bereits vorbereitet waren. Neben Tüchern und verschiedenen Döschen mit Kräutern enthielt der Korb auch noch ein Instrumentenbündel. Darin waren eine Schere, eine Sonde, Nadel und Faden und zwei Messer untergebracht. Die Großmutter nickte Alpina aufmunternd zu. Dann verließen sie gemeinsam das Haus.

      Der Weg zum kleinen Holzhaus der Hirtenfamilie war im Dunkeln nicht leicht zu finden. Zunächst ließen sie auf der Straße, die den Fluss Wirmina begleitete, die letzten Häuser von Bratananium hinter sich. Dann mussten die Zwei Acht geben, den richtigen Pfad über die Wiesen zu nehmen, die sich rund um die Ansiedlung ausbreiteten. Pertha war bereits einmal zu einer Entbindung in der Hütte des Hirtenpaares gewesen. Der Sohn der beiden war nun etwa zwei Jahre alt. Phrima, die Frau des Hirten, war noch sehr jung gewesen, als sich das erste Baby ankündigte – erst 15 Jahre alt. Pertha erinnerte sich noch gut an die Geburt des kleinen Klevie. Sie hatte ihn seither einige Male gesehen und er hatte sich zu einem kräftigen Jungen mit gesunden roten Bäckchen entwickelt. Dieses Mal würde Pertha ohne die Hilfe von Phrimas Schwester auskommen müssen und war froh, dass Alpina sie begleitete. Auch wenn sie bislang keine Erfahrung in der Geburtshilfe hatte, war sich Pertha sicher, dass ihre Enkelin die Gabe ihrer Mutter und Großmutter geerbt hatte. Sie würde eine ebenso versierte und geschickte Hebamme werden wie sie und die Familientradition fortsetzten. Alpina hatte ein ruhiges und besonnenes Wesen. Sie war für ein Mädchen von zwölf Jahren erstaunlich reif. Ihre wachen Augen begleiteten jeden Handgriff der Großmutter, und sie hatte schon viele Kenntnisse über die Wirkung der Heilpflanzen erworben, die Pertha in den Sommermonaten mit ihr sammelte und verarbeitete.

      Pithamne erwartete die beiden bereits. Er hatte Fackeln um das Haus verteilt. Das war eine Maßnahme, um böse Geister und Dämonen von der schutzbedürftigen Gebärenden und dem erwarteten Kind fernzuhalten. Der Bund mit Dost, den die Familie über der Tür angebracht hatte, diente demselben Zweck. Den beiden Geburtshelferinnen war das Licht der Fackeln ein guter Wegweiser im Dunkel der Nacht. Pithamne öffnete ihnen die Tür der Hütte. Es roch streng nach den Schafen, deren Blöken und unruhiges Fußgetrappel sie begrüßte. Der Stall grenzte direkt an den kleinen Wohnraum. Der Wohnraum der Hütte wurde nur durch den Schein des Feuers auf dem gemauerten Herd erhellt. Alpina konnte die Kreißende in der Dunkelheit zunächst gar nicht erkennen. Es gab keinen eigenen Schlafraum, wie in Perthas Haus. Phrima lag auf einem Lager an der Wand zum Stall. In der Mitte des Raumes war der niedrige Herd. Ein kupferner Kessel hing an einem Galgen über dem Feuer. In ihm dampfte heißes Wasser.

      Schon kurze Zeit nachdem sie eingetreten waren, erschütterte ein gellender Schrei die Hütte. Mit wenigen Schritten war Pertha bei der jungen Frau. Alpina folgte ihr, blieb aber respektvoll ein wenig im Hintergrund, um die Großmutter nicht zu stören.

      „Mehr Licht, ich brauche mehr Licht!“ kommandierte Pertha. Sie blickte Pithamne erbost an. „Wie soll ich denn bei dieser Grabbeleuchtung arbeiten!“

      Zerknirscht nickte der Hirte und brachte zwei Kienspanlampen. Pertha guckte ihn entgeistert an.

      „Hast du keine Öllampen?“

      Pithamne schüttelte den Kopf. „Nein, so etwas haben wir nicht! Ich könnte aber noch Fackeln holen“, bot er sich an. Pertha nickte resigniert und wandte sich der jungen Frau auf dem Lager zu.

      „Phrima, wie geht es? Wie regelmäßig sind denn die Wehen jetzt?“

      Phrima versuchte zu lächeln, man konnte deutlich sehen, dass sie dankbar war, die erfahrene Hebamme an ihrer Seite zu haben.

      „Es ist ganz anders diesmal, Pertha, die Wehen waren gleich ganz stark und ich finde, sie sind auch schon sehr regelmäßig. Ich habe aber noch kein Wasser verloren! Das macht mich unruhig! Ist das normal?“

      Sie blickte fragend zu Pertha. Die Hebamme nickte und schlug die Decke zurück, mit der Phrima sich bedeckt hielt.

      „Lass mich mal testen, wie weit der Muttermund schon geöffnet ist!“

      Pertha zog das Nachtkleid der jungen Mutter bis zur Brust hoch und schob die Schenkel sanft auseinander, um einen Blick auf den Unterleib zu bekommen.

      „Es gibt nichts, was es nicht gibt, wenn es um das Gebären von Kindern geht!“, murmelte sie.

      Konzentriert tastete die erfahrene Hebamme den Bauch der Raeterin ab und legte dann ihr Ohr auf, um die kindlichen Herztöne zu hören. Pithamne kam mit zwei Fackeln zurück und postierte sie in der Nähe der Lagerstatt, damit Pertha besser sehen konnte.

      „Wo ist Klevie?“ fragte sie.

      „Er schläft bei Phrimas Schwester. Zum Glück! Ich habe ihn schlafend zu ihr getragen. Er hat einen guten und tiefen Schlaf! Noch nicht mal die kühle Luft und die Unruhe haben ihn wecken können!“ Zum ersten Mal konnten Pertha und Alpina eine Spur von einem Lächeln auf dem Gesicht des Hirten erkennen.

      „Ich habe Alpina, meine Enkelin, mitgebracht“, erklärte Pertha dem Hirtenpaar die Anwesenheit des jungen Mädchens. „Sie kann mir zur Hand gehen und mir in dieser Düsternis helfen, das zu erkennen, was meine alten Augen nicht mehr schaffen.“

      Phrima lächelte Alpina schwach zu, und auch der Hirte nickte zustimmend.

      „Alpina, komm einmal näher!“

      Pertha hatte sich zu Phrima auf das Lager gesetzt und lehnte sich nun ein wenig zur Seite, um Alpina Platz zu machen. Die Hebamme hatte eine Dose aus dem Korb geholt und sich die Hände mit Fett eingeschmiert. Sie bestrich auch den Unterleib der Kreißenden damit und weitete die Scheide vorsichtig. Dann führte sie vorsichtig die rechte Hand ein und betastete den Muttermund der Gebärmutter.

      „Es wird noch ein wenig dauern, fürchte ich“, sagte sie beruhigend zu Phrima. „Der Muttermund ist noch nicht weit genug offen.“

      „Aber die Wehen sind schon so stark!“, jammerte Phrima. „Ganz anders als beim letzten Mal! Ich habe das Gefühl, das Kind will sofort geboren werden.“

      „Ja, das kann sich so anfühlen. Der Kopf ist schon im Becken, aber dadurch, dass die Fruchtblase noch nicht gerissen ist, kann die Geburt nicht so schnell gehen. Jetzt drückt der Kopf bei jeder Wehe auf den Muttermund, und das tut so weh!“

      Pertha versuchte mit ihrer Erklärung Phrima zu beruhigen. „Wir müssen noch ein wenig warten. Ich werde dir einen Trank bereiten, der dir helfen wird.“

      Als Pertha aufstand, um den Trank zu machen, krümmte sich Phrima erneut vor Schmerzen. Sie schrie, und ihr schönes, junges Gesicht verzerrte sich. Pithamne wich ein wenig zurück.

      „Ich glaube es ist besser, wenn du dich anderweitig beschäftigst, Pithamne. Vielleicht kümmerst du dich um deine Schafe. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich!“ Mit diesen Worten schob Pertha den Hirten aus dem Raum. Zu Alpina gewandt sagte sie: „Hol´ mir doch bitte aus dem Korb die Dose mit der Kräutermischung für Geburten. Es ist die große Birkenrindendose, du wirst sie gleich finden!“

      Alpina trat an den Korb und fand die gesuchte Dose sofort. Sie nahm den Deckel ab und schnupperte, welche Kräuter ihre Großmutter zusammengestellt hatte. Melisse und Verbene konnte sie riechen und als sie näher ans Feuer trat, konnte sie erkennen, dass auch Frauenmantel dabei war. Pertha nahm einen Tonbecher vom Regal an der Wand und gab mit geübten Fingern die passende Menge Kräuter in die Tasse. Das Wasser in dem Kessel überm Feuer siedete bereits, und so konnte sie mit dem hölzernen Schöpflöffel die benötigte Menge Wasser über die Kräuter gießen. Der Duft des Gebräus verbreitete sich im ganzen Raum. Pertha half Phrima beim Aufsetzen und reichte ihr den Becher.

      „Ich denke, es wäre gut, wenn du ein wenig läufst.“ Perthas Nachdruck in der Stimme duldete keine Widerrede. „Du wirst sehen,