Melissa Jäger

Raetia


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durch die Stube zu gehen. Wenn die Wehen sie überfielen, stützte sie sich schwer auf Pertha. Alpina löste ihre Großmutter ab und wanderte mit der Kreißenden weiter durch den Raum. Sorgenfalten zeigten sich auf Perthas Stirn. Wieder und wieder legte sie ihr Ohr an den Bauch der Schwangeren, um die Herztöne des Kindes zu prüfen.

      Als die Ungeduld Phrimas immer stärker wurde, und der Geburtsverlauf weiterhin stagnierte, brachte Pertha ihr den magischen Geburtsstein, den sie von einem wandernden Händler aus dem hohen Norden gekauft hatte. Er bestand aus feuerrotem, polierten Bernstein, war flach wie die Mondscheibe und hatte ein großes Loch. Der Mann hatte ihr versichert, dass dieser Stein schon vielen Gebärenden geholfen hätte. Phrima blickte den schimmernden Stein ehrfurchtsvoll an, und Pertha hatte sofort das Gefühl, dass er auch heute wieder Glück bringen würde. Während sie der Kreißenden das Amulett umhängte, sang sie die alten Gebete der Vorfahren, pries die Güte der Großen Mutter und rief deren göttliche Macht in den Talisman. Im Laufe der Zeit wechselte sie immer wieder die Position des Amulettes: mal band sie den Stein mit Stoffbinden auf den Bauch, dann wieder an den Oberschenkel der Frau.

      Viele Stunden waren verronnen, und der emporsteigende Morgen tauchte das Innere der Hütte in ein seltsam weiches Licht. Phrimas Nerven lagen blank, sie weinte und schrie, abwechselnd fluchte und flehte sie. Sie rief die Götter um Hilfe an und gelobte der Stammesgöttin ein neues Kleid mit schönen Gewandspangen als Dankopfer, wenn sie ihr beistehen würde, das Kind gesund zur Welt zu bringen. Auch ihr Mann Pithamne wurde immer unruhiger, es hielt ihn kaum mehr bei seinen Schafen. Wieder und wieder kam er in den Wohnraum und blickte der Hebamme verzweifelt ins Gesicht. Die jedoch gab ihm mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln zu erkennen, dass er nicht helfen könne. Stattdessen bat sie ihn, von der frischen Schafsmilch, die er in den frühen Morgenstunden gemolken hatte, ein Opfer an die Große Mutter zu bringen. Gemeinsam sprachen sie die Gebete über der Schüssel frischer Milch. Dann trug Pithamne die Schale zu dem Hollerbusch hinter dem Haus und tränkte die Wurzeln mit der Milch. Inbrünstig betete er zu der Göttin, der man nachsagte, die Seelen der kleinen Kinder zu hüten, und flehte sie an, die Seele seines ungeborenen Kindes freizugeben.

      Phrima war mittlerweile zu schwach, um noch länger zu laufen. Sie musste immer häufigere und längere Pausen machen. Pertha war die wachsende Unruhe nicht anzusehen, doch Alpina bemerkte ihre regelmäßigen Kontrollgriffe nach dem Bauch und Unterleib der Kreißenden. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich zusehends, und die Falten zwischen den Augenbrauen verstärkten sich.

      Schließlich ging ein Ruck durch die alte Hebamme. Sie nickte sich und Alpina Mut zu und forderte ihre Enkelin auf, den Tisch näher ans Feuer zu schieben und Phrima zu helfen, sich auf die Tischkante zu setzen. Für sich selbst holte Pertha den stabilsten Stuhl im Wohnraum und platzierte ihn so vor den Tisch, dass sie das wenige Licht der Feuerstelle und des einzigen, winzigen Fensters der Hütte nutzen konnte. Die ersten Strahlen der Morgensonne erhellten den Raum spürbar. Dann befahl sie Alpina, sich hinter die junge Frau auf den Tisch zu setzten und sie von hinten zu stützen. Alpina half Phrima dabei, ihre Oberschenkel an den Körper zu ziehen. Pertha blickte unverwandt auf die Vagina der Frau, die bereits den geöffneten Muttermund präsentierte. Sie nahm die Nadel und die Schere aus dem Futteral und hielt beides kurz in die Flamme auf dem Herd. Dann setze sie sich auf den Stuhl vor die Gebärende, spreizte deren Vagina so weit es ihr möglich war und eröffnete beherzt die Fruchtblase. Das Fruchtwasser ergoss sich mit einem Schwall über die sitzende Hebamme und den Boden vor ihr. Sofort war zu sehen, wie sich der Kopf des Kindes in den Geburtskanal senkte. Pertha hielt ihn mit der linken Hand fest und dehnte mit der rechten Hand die Vagina und den Damm. Sie half dem Kind, sich in die richtige Position zu drehen und forderte die Phrima auf zu pressen.

      „Ist alles in Ordnung? Sag doch, Pertha! Ist alles normal? Ich habe so Angst! Bitte sag doch was!“, schrie Phrima in Panik.

      „Konzentriere dich jetzt auf deine Arbeit, sonst kommt dieses Kind nie zur Welt!“, fuhr Pertha die Kreißende an und versuchte angespannt, den Damm so weit wie möglich zu dehnen. Der Kopf schien nicht durchpassen zu wollen. Pertha versuchte wieder und wieder das Gewebe mit den Fingern aufzuspreizen, aber die nervöse Verkrampfung der jungen Frau führte zusätzlich zu einer Verhärtung der Muskulatur. Pertha wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Die Herztöne waren schon sehr schwach gewesen, als sie diese das letzte Mal abgehört hatte und seit dem waren schon wieder einige Minuten vergangen. Ihre rechte Hand ließ den Damm los und griff nach der bereitliegenden Schere. Die Wehen brachen nun in sehr kurzen Abständen mit voller Gewalt über die Gebärende herein. Pertha wartete die nächste Wehe ab und im Höhepunkt des Schmerzes schob sie das Kind vorsichtig beiseite und schnitt mit der Schere den Damm ein. Phrima schrie entsetzt auf, bäumte sich auf und verhalf durch diese unwillkürliche Reaktion ihrem Kind zu einem Schub nach unten.

      „Der Kopf ist schon fast geboren!“ munterte die Hebamme die weinende junge Frau auf. „Los! Pressen! Gleich hast du es geschafft!“

      Alpina hielt den Atem an. Ihre Finger waren eiskalt vor Aufregung und sie fürchtete vor Angst umzukippen. Doch als sie den strengen Gesichtsausdruck ihrer Großmutter sah, riss sie sich zusammen und flüsterte Phrima ins Ohr: „Pressen! Pressen! Es geht um das Leben deines Kindes! Du schaffst es!“

      Unterstützt von einer Presswehe schob sich das Köpfchen ans Licht und mit einem weiteren Aufbäumen Phrimas rutschte auch der Rest des Kindes ins Freie.

      Einen Moment lang herrschte atemlose Stille. Alle drei warteten auf ein Lebenszeichen des Kindes. Pertha hielt das blutverschmierte Bündel erst in die Luft, dann legte sie es sich quer auf den Oberschenkel und klopfte ihm rhythmisch auf den Brustkorb. Phrimas Augen waren angstvoll aufgerissen, ihr ganzer Gesichtsausdruck: „Ist es tot?“ Doch sie brachte keinen Ton über die Lippen. Keiner sprach ein Wort, nicht einmal die Hebamme.

      Nach einer Ewigkeit hörten sie ein röchelndes Geräusch, dann ein ersticktes Husten. Perthas Gesicht entspannte sich, sie klopfte weiter. Das Röcheln und Prusten wurde lauter, und man konnte sehen, dass Bewegung in das Bündel auf dem Schoß kam. Phrima atmete tief ein, und Alpina lockerte ihren Griff. Sie hatte sich vor lauter Anspannung wohl mehr selbst an der Gebärenden festgehalten, als Halt für diese zu bieten.

      „Es lebt doch, nicht wahr?“ fragte Phrima zaghaft und unsicher.

      „Ja, Phrima, sie ist ein tapferes kleines Mädchen!“ In Perthas Gesicht zeigten sich nun viele freundliche Lachfältchen. Die junge Mutter entspannte sich. „Alpina, bitte bring mir ein Tuch aus dem Korb, eines der dickeren, warmen, damit wir sie gut einpacken können! Außerdem noch von der Wolle in dem Stoffsack! Wir müssen die Blutung des Damms stoppen. Ich bin hier noch nicht ganz fertig.

      Nachdem Pertha ihre Anweisungen gegeben hatte, drehte sie das kleine Mädchen auf den Rücken, so dass es zum ersten Mal von allen gebührend bewundert werden konnte. Die Reste der weißen Schutzschmiere, die das Kind im Mutterleib umgeben hatte, vermischten sich mit Blut und Schleim und wirkten wie eine Körperbemalung. Darunter schimmerte die noch marmorierte Haut des Mädchens durch, die jedoch zusehends rosiger wurde.

      Alpina half Phrima, sich weiter auf den Tisch zu ziehen, um sich besser abstützen zu können. Sie sprang vom Tisch herunter und holte ein grobes, warmes Wolltuch und den Beutel mit der Naturwolle aus dem Korb. Beides brachte sie Pertha beides, und sah gebannt zu, wie die Hebamme das Kind in das Tuch bettete. Dann drückte Pertha die Wollwatte auf die Wundeder Mutter.

      „Jetzt müssen wir die Nabelschnur durchtrennen“, erklärte sie, während sie das Kind zu seiner Mutter auf den Tisch legte. „Bring mir bitte den Wollknäuel, Liebes!“

      Alpina führte auch diese Anweisung gewissenhaft aus und beobachtete neugierig, wie ihre Großmutter zwei Wollfäden vom Knäuel abtrennte und damit die Nabelschnur nahe am Kindesbauch und in einer Handbreit Entfernung noch einmal abband. Dann nahm Pertha die Schere und durchtrennte die Verbindung zwischen Mutter und Kind. Sie schickte Alpina erneut zum Korb, diesmal um eine Leinenbinde zu holen. Versiert deckte sie den Nabelstumpf mit ein wenig Wollwatte ab und verband den Babybauch. Danach schlug sie das Tuch wieder fest um das kleine Mädchen, welches sie wach zu beobachten schien. Es wimmerte leise. Pertha drückte das restliche Blut aus der Nabelschnur und ließ es auf den Lehmboden der Hütte tropfen.

      Jetzt