Melissa Jäger

Raetia


Скачать книгу

an den leeren Unterbauch der Frau, mit der anderen hielt sie die Nabelschnur. Alpina hatte vor Aufregung ganz vergessen, dass die Plazenta noch nicht geboren war. Natürlich! Die Geburt war noch gar nicht zu Ende! Sie erkannte die Kontraktionen der Gebärmutter, die versuchte die Nachgeburt auszustoßen. Pertha zog ganz sanft an der Nabelschnur und massierte zugleich den Unterbauch. Sie schien mit der Hand die Gebärmutter nach unten auszustreichen. Es folgten mehrere Nachwehen und schließlich löste sich die Plazenta und fiel über die Tischkante in die bereitgestellte Schüssel. Alpina blickte angeekelt auf das dunkle, blutige Stück Fleisch, das die Schüssel fast gänzlich ausfüllte. Die Nabelschnur hing über den Rand. Alpina konnte sich nicht vorstellen, dass dieses tote Gewebe monatelang ein Kind ernährt hatte.

      Pertha goss Wein aus einem mitgebrachten Schlauch in die Schale mit dem heißen Wasser, dann nahm sie Wollwatte, tauchte sie ein und säuberte die Dammwunde. „Es wird jetzt noch ein paar Mal weh tun!“ erklärte sie Phrima, „Ich muss den Schnitt nähen, den ich gemacht habe. Keine Sorge, es ist gleich vorbei, dann kannst du auf dein Lager und dich ausruhen. Leg´ dich bitte zurück, damit ich besser sehen kann. Alpina, bring mir noch ein Extralicht, es ist noch immer so schummrig hier!“.

      Alpina beobachtete fasziniert die sicheren Handgriffe der Hebamme, die mit drei kurzen Stichen den Dammschnitt vernähte. Phrima zuckte zwar bei jedem Mal zusammen, doch sie ertrug tapfer den Schmerz der Nadelstiche. Erschöpft sank sie anschließend in die Decken und Felle und warf sehnsuchtsvolle Blicke zu ihrem Neugeborenen.

      „Du bekommst sie gleich!“ beruhigte Pertha die Frau. „Wir müssen sie aber noch waschen und neu verbinden. Sicher hast du schon Tücher bereitgelegt, in die wir sie dir nachher einwickeln sollen, nicht wahr?“ Phrima nickte und deutete auf einen Korb neben ihrem Lager. „Diese könnt ihr nehmen. Sie sind frisch gewaschen, und eines davon habe ich sogar neu gewoben!“

      Vorsichtig wusch Pertha alle Rückstände der Geburt im klaren Wasser ab.

      Jetzt endlich begann die Kleine zu schreien. Anfangs noch zaghaft, doch zunehmend kräftiger. Das kalte Wasser schien sie zum Leben zu erwecken.

      Pertha beendete den Reinigungsprozess. Anschließend trocknete sie das Kind mit einem Handtuch ab, verband den Nabel erneut und wickelte das Kleine in die bereitgelegten Wolltücher. Dann brachte sie der glücklichen Mutter ihr kleines Mädchen. Das Wimmern der Kleinen wich schnell einem zufriedenen Schmatzen. Phrima hatte sie an die Brust gelegt und blickte verliebt in das Gesicht ihres Kindes. Alpina fand, dass die junge Mutter wunderschön aussah, so glücklich und zufrieden. Verstohlen blickte sie zu ihrer Großmutter und erkannte an deren Gesichtsausdruck, dass auch sie das Glück der jungen Mutter teilte. Für Alpina stand in diesem Augenblick fest, dass sie in die Fußstapfen ihrer Großmutter und auch ihrer Mutter treten wollte. Ja – sie wollte und würde Hebamme werden!

      „Wir sollten den frisch gebackenen Papa holen“, sagte Pertha und bedeutete Alpina, mit in den Stall zu gehen. Dort, in der Nähe des einzigen Fensters, saß Pithamne auf einem Schemel und molk ein Schaf. Die Milch rann in einen Holznapf. Erschrocken blickte der Hirte von seiner Arbeit auf. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich jedoch, sobald er die freundlich lächelnden Augen der Hebamme sah.

      „Ist alles gut gegangen?“ fragte er, während er gewissenhaft seine Arbeit beendete. „Sind beide gesund?“

      Pertha nickte und gratulierte ihm zur Geburt seiner hübschen Tochter. Pithamne nickte. Er stellte den Hocker zur Seite und folgte den Geburtshelferinnen in die Wohnstube.

      „Sieh nur, wie schön sie ist!“ empfing ihn Phrima. Sie streichelte liebevoll den Kopf der Kleinen. Pithamne setze sich zu den beiden auf das Lager und betrachtete das Neugeborene liebevoll.

      „Wunderschön“, sagte er, „genau wie die Mutter! Hast du dir schon einen Namen überlegt?“

      Phrima schüttelte den Kopf. „Da werden wir noch ein wenig nachdenken müssen. Oder hast du einen Namen, der zu ihr passt?“

      Doch auch Pithamne schien auf Anhieb kein passender Name für die Kleine einzufallen. Er drehte sich stattdessen zu Pertha um.

      „Du hast wie immer gute Arbeit geleistet, Pertha, wir sind dir zu großem Dank verpflichtet!“

      Pertha nickte, wie zur Bestätigung und erinnerte Pithamne daran, dass es nun an ihm sei, das Kind anzuerkennen. Das Aufheben des Kindes, war nach römischem Recht gleichzusetzen mit einem Akt der Anerkennung durch das Oberhaupt der Familie. Pithamne sah Pertha kopfschüttelnd an. „Wir müssen das römische Kaiserreich doch nicht bis in unsere Hütte eindringen lassen, oder? Pertha, ich habe mit den Römern nichts am Hut! Ich interessiere mich nicht für ihre Bräuche und Riten! Du weißt genau, dass ich mir nichts aus ihnen mache! Ich werde dieses Kind, wie seinen Bruder auch, mit den Ritualen unserer Vorväter in die Stammesgemeinschaft aufnehmen lassen – beim nächsten Opferfest.“

      Perthas Aufgaben waren noch nicht beendet. Sie musste noch die Plazenta kontrollieren, um sicher zu gehen, dass Phrima nicht an einer unstillbaren Blutung starb. Pertha begutachtete das Gewebe der Plazenta. Zum Glück war keine Fehlstelle zu sehen. Sie erklärte Alpina genau, worauf man bei der Untersuchung der Plazenta achten musste. Als Pithamne hinter sie trat, konnte sie ihm die gute Nachricht gleich mitteilen. Er fragte, ob er die Plazenta nun vergraben dürfte, wie es Tradition war. Pertha nickte zustimmend und reichte ihm die Schüssel. Gemeinsam betraten sie erneut den Wohnraum, und Pertha ging zum Lager der jungen Mutter, um sich zu verabschieden. Die Kleine lag friedlich schlafend in ihrem Arm. Sie sah sehr zufrieden aus, und auch Phrima schien sich ein wenig erholt zu haben.

      Pertha nahm eine Dose mit einer Kräutermischung aus ihrem Korb und bat den Hirten um ein Gefäß. Dann warf sie eine gute Hand voll Kräuter hinein.

      „Deine Frau sollte heute und in den kommenden Tagen ein bis zwei Becher roten Wein trinken. Sie kann ihn mit etwas Wasser verdünnen, wenn sie möchte. Das Wasser, das sie die nächsten Wochen trinken sollte, holst du aus der heiligen Quelle, zwei Meilen von hier flussaufwärts. Es sollte aber alle zwei Tage frisch geholt werden. Außerdem darf Phrima die nächsten zwei bis drei Wochen keine schwer verdaulichen Gerichte, vor allem keine Bohnen oder Linsen essen. Auch mit Zwiebeln soll sie vorsichtig sein.“ Pertha blickte die junge Frau streng an. „Ich werde in den nächsten Tagen täglich kommen, um sicher zu gehen, dass sich alles gut entwickelt. Sollte Fieber auftreten oder der Wochenfluss nicht zuverlässig fließen, schicke sofort nach mir! In etwa einer Woche ziehe ich die Fäden.“

      Phrima streckte sich zu Pertha hin und umarmte die alte Frau herzlich. „Danke, danke für alles!“ Dann wandte sie sich an Alpina und strich ihr liebevoll über den Arm. „Du hast das wundervoll gemacht, Alpina! Danke auch dir für deine großartige Hilfe! Du wirst bestimmt eine ebenso gute Hebamme wie deine Großmutter und deine Mutter! Alle Frauen in eurer Familie haben magische Hände! Jede von euch kann Wunder vollbringen!“ Dann nahm sie den Lochstein von ihrem Hals und händigte ihn Pertha aus. Dankbar und ehrfurchtsvoll betrachtete sie ihn noch einmal. Pertha ließ ihn in seinem Ledersäckchen verschwinden und steckte ihn in ihren Korb.

      Als sie gehen wollten, trat Pithamne an Pertha heran. Er trug ein Bündel in der Hand.

      „Das hier ist euer Lohn. Ich danke euch von Herzen für alles, was ihr für meine Frau getan habt!“

      Auch Pertha bedankte sich und übergab dann Alpina das Bündel. Sie selbst nahm ihren Korb.

      Monat August, am XIV. Tag vor den Kalenden des Septembers, Vinalia rustica

      Am Tag nach der Entbindung suchten Pertha und Alpina die Hirtenhütte erneut auf, um die Wöchnerin und das Baby zu untersuchen. Phrima war in guter Verfassung. Der Wochenfluss war gut, die Selbstreinigung der Gebärmutter schien Fortschritte zu machen. Einzig die Dammnaht machte der Hebamme ein wenig Sorgen. Sie war noch stark gerötet und ein wenig schmierig. Um den Heilprozess zu unterstützen, riet Pertha zu einem Sitzbad in Eichenrindensud. Sie bereitete der jungen Frau das Sitzbad in dem Eimer, den sie zum Baden des Kindes verwendet hatte. Pertha bat Phrima, noch eine Woche lang jeden Tag ein Sitzbad zu machen.

      Nachdem Alpina der jungen Frau geholfen hatte, sich