Melissa Jäger

Raetia


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aber keinesfalls aus den Augen zu lassen. Schließlich mussten sie einen Fluchtversuch verhindern, für den Fall, dass Attius in absehbarer Zeit wieder nüchtern würde. Angesichts der Strafe, die ihn erwartete, war ein solcher Versuch absehbar.

      „Sacrus, du hältst mich auf dem Laufenden über die Entwicklungen! Wenn Marianus ein brauchbares Ergebnis hat, und Iustinius von seiner Befragung zurück ist, möchte ich Meldung bekommen. Ich begebe mich so lange ins Haus meiner Schwiegereltern. Ihr findet es, wenn ihr die Fernstraße nach Iuvavum überquert und der Straße entlang der Wirmina folgt. Es ist das Haus neben dem raetischen Tempel des Merkur.“

      Caius wartete die Wiederholung seines Befehls durch den Adiutor nicht ab, sondern verließ zügig die Statio. Das Sonnenlicht blendete ihn, als er vor die Tür trat. Caius wandte sich nach rechts und ging auf die Fernstraße nach Iuvavum zu. Ein Ochsengespann mit einem einfachen Bretterwagen, überquerte gerade die Brücke. Auf dem Wagenbock saß ein raetischer Bauer in karierter Tunika und dem keltischen Kapuzenmantel. Hinter ihm türmte sich Heu, das er wohl in seine Scheune transportierte. Der sonnengebräunte Mann musterte den römischen Soldaten misstrauisch und murmelte ein „Ave!“ in seinen dunklen, dichten Bart. Der Beneficiarius Legati nickte ihm zu und wurde sich wieder einmal schmerzlich bewusst, wie unbeliebt die römische Armee in diesem ländlichen Gebiet Raetiens noch war. In Augusta Vindelicum sah man kaum noch Raeter in ihrer Landestracht. Sicherlich, der eine oder andere trug noch den typischen Kapuzenumhang oder im Winter Wollhosen, doch die meisten hatten sich auf die Besatzungsmacht eingestellt und sich die römische Art sich zu kleiden zu eigen gemacht. Skepsis oder gar unverhohlene Abneigung wie in den ländlichen Gebieten Raetiens erlebte man in der Stadt nicht.

      Schon kurz darauf erkannte Caius den Tempel des raetischen Merkurs. Er war aus Holz, mit einem hohen, spitzen Dach und einem Säulengang um die mittig gelegene Cella. Der heilige Bezirk war durch einen Weidenzaun von der Umgebung abgegrenzt. Nur widerwillig hatten sich die Raeter an die römischen Götter gewöhnt. Sie hatten ihrem Stammesgott zwar den Namen des römischen Gottes des Handels, der Reisenden und des Herdenviehs gegeben, doch eigentlich verehrten sie in ihm weiterhin ihren Stammesgott Bratananius. Diesem opferten sie in eigentümlichen Brandopferritualen, um Fruchtbarkeit für ihr Vieh, gute Ernten und einträgliche Handelsgeschäfte zu erbitten. Für die Gleichsetzung des Stammesgottes mit dem römischen Merkur sprach, dass dieser musikalisch und zudem noch der Gott der Diebe war. Nicht, dass die Raeter Diebe gewesen wären, aber sie sahen in dem schelmischen und hinterhältigen Charakter des Merkur die Eigenschaften, die sie auch gerne für sich beanspruchten. Merkurs Rolle als Führer der Toten ins Reich der Schatten war für die Raeter mit hohem Respekt verbunden. Der Tod als magischer Wandler war bei ihnen jedoch nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu einem Weiterleben in der Anderswelt des Jenseits.

      Neben dem Tempelareal war das weitläufige Grundstück des Lasthe Susinu auszumachen. Es war genau wie der Tempelbezirk durch einen Weidenzaun von den benachbarten Grundstücken getrennt. Caius öffnete das Gartentor und wurde sofort vom Hofhund des alten Raeters begrüßt. Caius bückte sich und streichelte den kleinen fuchsfarbenen Kläffer. Sein Blick fiel auf die vor dem Haus versammelte Familie. In der Sonne vor dem Langhaus saßen Elvas, Alpina und ihre Großeltern an einem einfachen Holztisch beisammen. Caius musste feststellen, wie ähnlich sich die drei Frauen sahen. Sie hatten alle eine ähnliche Statur, waren klein und feingliedrig und hatten das gleiche schöne Haar. Alpina trug ihres noch häufig offen, vor allem, wenn sie zu Besuch bei den Großeltern war. Es war leuchtend rotbraun. Elvas schon leicht grau meliertes Haar war meist nach römischer Sitte frisiert, teilweise geflochten oder zum Knoten im Nacken gebunden. Pertha, die alte Raeterin, hatte ihr graues Haar hingegen größtenteils unter einer Stoffhaube verborgen. Nur über den Ohren schaute es ein wenig hervor. Unter der Haube war ihr Haar zu dicken Zöpfen geflochten, die sie um den Kopf gewunden hatte.

      Alpina sprang auf und lief auf Caius zu. „Vater!“, rief sie freudig. „Schön, dass du jetzt auch endlich bei uns bist. Setz dich! Großmama hat Brot gebacken! Bald essen wir gemeinsam zu Abend!“

      Sie plapperte so fröhlich drauflos, dass sie gar nicht merkte, wie müde und abgespannt ihr Vater aussah. Elvas jedoch registrierte die Verstimmung ihres Mannes sofort. Sie schob ihm einen Hocker hin und reichte ihm einen Becher.

      „Setz dich erst mal zu uns!“, befahl sie ihm liebevoll.

       Lasthe blickte forschend in das Gesicht des Römers. „Gab es Ärger?“, fragte er vorsichtig, obwohl offensichtlich war, dass er die Antwort schon kannte. Caius seufzte tief und sah dem alten Vater seiner Frau offen in die Augen.

      „Du weißt es sicher schon, nicht wahr?“

      Lasthe nickte und lächelte verschmitzt. „Nicht alle Römer sind derartig vorbildliche Staatsdiener wie du, Caius!“

      Der Beneficiarius Legati hatte Helm und Lanze neben dem Tisch auf den Boden gelegt und betrachtete den Alten nun nachdenklich. „Sicher“, sagte er gedehnt, „aber was wirft das für ein Licht auf uns? Ausgerechnet hier, in der raetischen Provinz, in der wir sowieso mit Misstrauen beäugt werden!“

      Der Römer blickte müde und unzufrieden in die Ferne. Vom Haus des Lasthe hatte man einen wunderbaren Blick über das Tal der Wirmina. Es lag etwas erhöht, in sicherer Entfernung des Flusses, der in einer gewissen Regelmäßigkeit über die Ufer trat und die flussnahen Siedlungsteile unter Wasser setzte. Auch die Brücke im Ort hatte schon häufiger Schaden genommen und war bereits einige Male von der Armee wiederaufgebaut worden.

      Caius‘ Blick traf die wachen Augen des Raeters. „Du hättest mir doch eine Nachricht zukommen lassen können!“ Es klang ein wenig enttäuscht. „Wie lang geht das schon so? Was weißt du darüber?“

      Alpina und Elvas hörten gespannt zu, trauten sich aber nicht, das Gespräch der beiden Männer durch ihre neugierigen Fragen zu unterbrechen. Sie würden sicherlich noch dahinter kommen, was Caius solche Sorgen bereitete.

      Lasthe atmete tief durch, dann begann er zu erklären. „Attius hat von Beginn seiner Stationierung an hier in Bratananium mehr Zeit in der Caupona verbracht als in seiner Statio. Da ich aber weiß, dass die Soldaten sowieso jeweils nur für ein halbes Jahr in einer Statio bleiben, dachte ich, dass ich dir Ärger ersparen würde, wenn ich ihn saufen lasse, anstatt dir die Arbeit zu machen, einen neuen Beneficiarius zu schicken.“

      Caius sah Lasthe an und wusste nicht, ob er ihm jetzt böse sein sollte oder nicht. Natürlich wäre es Arbeit gewesen und ärgerlich auch, aber jetzt, mitten in der halbjährlichen Dienstzeit, bedeutete es nicht nur, dass die Bücher wohl schlampig geführt waren, sondern dass dem römischen Staat mit Sicherheit Geld aus Zöllen und anderen Abgaben entgangen war. Caius würde dem Statthalter gegenüber Rechenschaft ablegen müssen. Eigentlich hoffte er auf eine Beförderung. Es war nicht mehr lange hin, bis er die vorgeschriebenen Dienstjahre in der Armee hinter sich gebracht hatte. Eine Beförderung zum Centurio würde die Entlassungsprämie erhöhen, die ihm nach Beendigung seiner Militärlaufbahn zustand.

      Caius mochte seinen Schwiegervater. Lasthe war ihm gegenüber von Anfang an loyal gewesen, trotz seiner berechtigten Skepsis gegenüber den römischen Besatzern. Der Raeter hatte große Sorge gehabt, dass er als Druide und einflussreicher Adeliger seines Stammes mit Repressalien zu rechnen haben würde. Doch seine Verdienste als Übersetzer und die Fürsprache des Beneficiarius, der bei seinen Vorgesetzten als integer und karrierebewußt galt, hatten die Situation entschärft. Caius war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass Lasthe unter Kaiser Vespasianus zum Aedituus des örtlichen Heiligtums ernannt worden war. Außerdem hatte er dem Statthalter der Provinz die Verehrung der Raeter für den römischen Gott Merkur erklärt und dann sogar einen Neubau des keltischen Tempels angeregt.

      C. Saturius, der damalige Statthalter, kannte das raetische Volk nur unzureichend und musste sich auf die erfahrenen Soldaten seiner Einheit und die Dolmetscher verlassen. Er willigte schließlich ein, Lasthe zum Priester im Ehrenamt zu ernennen und den Tempel aus eigenen Mitteln neu errichten zu lassen.

      Gerade die reaktionären Raeter galten als potentielle Unruhestifter im größer werdenden Imperium, und man versuchte, sie durch diverse Maßnahmen zu gewinnen. Zum einen erlaubte man ihnen weitgehende Stammesautonomie in den ländlichen Siedlungen, sie durften ihre Tracht behalten