Svea Dircks

Tanz der Grenzgänger


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den ersten Schädel gestoßen war. In Bruchteilen einer Sekunde waren ihm verschiedene Reaktionen in den Sinn gekommen. Schnell wieder zuschütten, weglaufen, die Polizei rufen, schreien, seine Frau holen oder einfach da bleiben. Das tat er nicht.Er hatte sich einfach hingesetzt und nachgedacht, auf der untersten Stufe der Kellertreppe.

      Mein Gott, war das ein Schreck gewesen. Es lief gerade „Wetten, dass...“ im Fernsehen. Er fand es so absurd, das Gottschalk-Geplapper von oben zu hören, während er auf einen Leichenfund starrte. Jemand anders hätte sich erstmal eine Zigarette angezündet, aber er war Nichtraucher. Schließlich hatte er lose Erde über das grausige Ding gehäuft, die Pappe eines Bierträgers darüber gelegt, das Licht gelöscht, sich die Hände gewaschen und war nach oben gegangen.

      Monika, seine Frau, hatte mit Mandy auf dem Ledersofa gelegen, auf dem Tisch Erdnussflips und Cola neben halbverblühten Astern. Er nahm wahr, dass Mandy schon wieder eine neue Haarfarbe hatte, ziemlich orange, eine kirschrote Strähne hing vor dem Gesicht. Musste man mit 15 so aussehen? Mutter und Tochter hingen am Bildschirm. Irgendeiner wollte aus einer Küchen-Arbeitsplatte ein Einrad machen. In drei oder vier Minuten. Egal. Schafft er’s oder schafft er’s nicht? Egal. Bogner war rausgegangen, brauchte Luft.

      Rex, der alte Schäferhund, hob den Kopf. Springen konnte er schon lange nicht mehr. Die Hüften waren kaputt. Bogner hatte sich sich zu seinem treusten Freund gekauert, ihn zwischen den Ohren gekrault..

      Bald würde er ihn begraben müssen. Ihn schauderte bei der Vorstellung, dass auch von Rex nur Knochen bleiben würden. „Komm, wir gehen ein Stück, alter Junge.“ Im Garten roch es nach faulen Äpfeln. Massenweise lagen sie unterm Baum, Wespen surrten bösartig durch die Luft, die untergehende Sonne hatte den Himmel helllila gefärbt. Bogners Grundstück grenzte an die Kirchenmauer. Große, graue Feldsteine, seit Jahrhunderten aufeinander ruhend. Genau das Richtige jetzt.

      Er hatte seine Finger über den rauen, leicht bemoosten, kühlen Stein gleiten lassen, seine Stirn dagegen gelehnt und ein – aus – ein – aus geatmet. Manchmal ist Atmen das Beste, was man tun kann, hatte er gedacht.

      Scharfe Bremsung. Die Ampel sprang auf rot. Er atmete hörbar aus. Bogner stellte die CD ab, sah aus dem Fenster und lächelte einer attraktiven Frau auf dem Gehweg zu. Hübsch. Im Sommer hat man viel mehr von den Frauen. Wenigstens ansehen durfte man sie ja. Neulich hatte eine 22jährige ihm Avancen gemacht. Obwohl er sich mit seinen 42 Jahren geschmeichelt fühlte, war er nicht darauf eingegangen. Das war nichts für ihn. Mit einem Ruck fuhr er wieder an und dachte an die Montageteile, die er reklamiert hatte. Morgen würden sie hart arbeiten müssen. Drei Minuten später war er zu Hause.

      2. Rhythmus

      Juliane lief los, wie nahezu jeden Morgen, vor dem Frühstück. Sie genoss die kühle Luft, jeder Schritt brachte sie vorwärts, raus aus dem Dorf. Gleich würde der Berner Sennhund bellen, wie jedes Mal, wenn sie vorbeikam. Dann lagen die Felder vor ihr. Immer wieder anders, im Raureif, im Regen, bei Gegenwind, bei Rückenwind. Kahl, gepflügt, mit spriessenden Hälmchen. Abgeerntet. Der Geruch eines reifen Kornfelds war wunderbar, unvergleichlich. Silbrig schimmernd, aber noch unreif und grün hinter dem Ohr neigten sich die Ähren mit den langen Grannen an ihrer Seite. Weiter, weiter. Kleine Vögel schreckten auf, einer setzte sich alle paar Meter zu ihrer Linken auf den Zaun, um erneut seinen Platz zu verlassen, wenn sie näher kam. Sie sog die Luft ein. Sonne am Himmel, ein Weg unter meinen Füßen, dachte sie. Ich bin glücklich.

      Heute würde ihr Mann von seiner Geschäftsreise wiederkommen.. Sie müsste ihm von dem Abenteuer mit Mr. Perfect erzählen. Nicht haarklein natürlich. Er war sowieso kein geduldiger Zuhörer. Würde er eifersüchtig sein?

      Sie hatte sich in den letzten Jahren ganz schön gemausert, war selber oft unterwegs, übernachtete in Hotels. Eine Affäre hatte es jedoch nie gegeben. Obwohl ... die Versuchung war immer da. „Die Brücken am Fluss“, diesen Film hatte Juliane schon dreimal gesehen. Vereinsamte Frau trifft für vier Tage auf Resonanz, Aufmerksamkeit, die nicht nur ihrem Körper gilt. Ein Mann, der zu ihr passt wie ein Puzzleteil. Und den sie dann aus Treue zu ihrer Familie im Regen stehen lässt. „Wie würde ich in diesem Fall handeln?“, dachte sie manchmal. Eine Antwort gab es nicht, weil es keinen solchen Mann gab. Ihre Ehe war nicht schlecht, - aber manchmal hatte sie das diffuse Gefühl, dass etwas fehlte.

      Juliane hatte sich entwickelt, weg von den Vorstellungen und Gewohnheiten ihres Mannes. Es fing damit an, dass sie keinen Kaffee mehr trank, nur noch Tee, grünen Tee. Fleisch aß sie kaum noch und abends bevorzugte sie Salate und Brot statt deftiger warmer Mahlzeiten. Das Fernsehen übte noch nie Reiz auf sie aus. Im Lauf ihres Lebens hatte sie viele Abende davor verbracht, ohne Lust, war währenddessen eingeschlafen. Erst seit einigen Monaten war das gemeinsame Wohnzimmer eine Oase ohne Fernseher. Sie hatte sich ein eigenes Zimmer im Haus eingerichtet, in endloser Kleinarbeit das Zimmer des erwachsenen Sohnes renoviert. Unaufhaltsam, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug vollzog sich die Veränderung .

      Ihr Mann hatte ihr vor Jahren zu einer Stelle im städtischen Sozial-Zentrum verholfen. Menschen, die auf ihrem Lebensweg irgendwie gescheitert waren, konnten in dieser Einrichtung neue Orientierung finden. Ihre Aufgabe war es, Gespräche zu führen, gemeinsam mit den Klienten herauszufinden, ab wann es schief gegangen war und wie sie wieder auf die gerade Bahn zurückkommen konnten. Wie es ihre Art war, hatte sie sich total rein gegeben und herzliche Kontakte zu vielen Menschen aufgebaut.

      In diesem Sommer wollte Juliane das Ziel erreichen, auf das sie seit Jahren hingearbeitet hatte. Selbständig sein. Sie hatte irgendwann gemerkt, dass sie nicht mehr gern zur Arbeit fuhr. Immer zögerte sie die Abfahrt hinaus, fand noch etwas zu tun, Blumen gießen, telefonieren, die Spülmaschine ausräumen, die Katze füttern. Sie klebte regelrecht zu Hause fest, wollte nicht weg und kam fast immer zu spät.

      Juliane wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Laufen war anstrengend. Aber gut. Sie wollte die Luft in die Lungen saugen, das Leben spüren. Die Gerste war schon reif, anders als der Weizen. Vom Kornfeld war ein geheimnisvolles Knacken und Knistern zu hören. Die Hülsen sprangen auf, gaben die Frucht frei. Einen Moment verharrte sie, um diesem Klang zu lauschen. Wie von einem unsichtbaren Dirigenten wurde dieses unberechenbare Orchester zum Spielen gebracht.

      Zum Glück bekam sie wegen der Pünktlichkeit keine Schwierigkeiten in der Einrichtung. Die Einzelgespräche liefen routiniert. Sie kam schnell auf den Punkt, konnte ihn förmlich riechen. Bei den Klienten gab es viel Gemeinsames. Frühe Störungen in der Entwicklung, mangelnde Geborgenheit, Vater abwesend, Mutter überfordert, psychisch krank, materialistisch eingestellt, gefühlskalt, süchtig oder nur am Arbeiten. Die falschen Freunde kennen gelernt, das Verlassenheitsgefühl betäubt, sich endlich zugehörig gefühlt, ein Typ, dem man helfen wollte und der einen schließlich „drauf“ gebracht hatte. Süchtig geworden, Schule und Lehre abgebrochen, ewige Jagd nach mehr, Schulden, Anschaffen, Knast, Kinder weg, alles weg. Und dann Therapie.

      Wenn die Klienten ihren Nachnamen hörten, fügte sie gern hinzu: Hoffmeister, ja, ich bin ein Meister im Hoffen, sonst könnte ich diesen Job nicht machen. Viele sahen in ihr eine Art Mutter. Es war eigenartig. Auf den ersten Blick regte sich in Juliane manchmal Abscheu, Widerwille. So ein Obdachloser oder ein Junkie konnte einen schon fertig machen. Wenn sie dann noch ungepflegt waren und stumpfsinnig ......Aber nach dem ersten Gespräch, wenn die Fetzen der Lebensgeschichte sich zu einem diffusen Bild zusammenfügten, tauchte mit ziemlicher Sicherheit tief aus dem Bauch Zuneigung auf, Wärme, Mitgefühl. Das war die Basis zum Arbeiten. Und nach einem halben Jahr verschwanden die Menschen wieder, deren besondere Persönlichkeit gerade eben unter den Verkrustungen hervorzuleuchten begann, um zurückzufallen in alte Verhaltensweisen. Frauen gingen zu Männern zurück, die sie misshandelten, Männer griffen wieder zur Flasche, Jugendliche drifteten ab in sinnloses Zerstören.

      Wie ein Kunstwerk, das mitten im Entstehen von Vernichtungswillen gepackt wird. Wie der Tod mitten im Leben.

      In den letzten Jahren hatte sie sich gefragt, ob sie diese Art von Arbeit bis zum Ruhestand durchhalten würde. Der schiere Horror hatte sie gepackt. „Alles, was ich tue, ist wie ein Tropfen auf den heissen