Svea Dircks

Tanz der Grenzgänger


Скачать книгу

Gedanken, die mehr einer tiefen Sehnsucht glichen, wirkten wie ein innerer Motor, der sie zu Höchstleistungen antrieb. „Wenn ich jetzt nicht die Kurve kriege, ist es zu spät“, sagte sie sich.

      Die Füße setzten gleichmäßíg auf. Sie hatte ihren Rhythmus gefunden.

      Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Langsam. Momentan ist’s gut. Es ist okay. Alles auf dem Weg. Grönemeyers ‚Mensch‘ ließ grüßen.

      Ihre Begabung lag eindeutig im Bereich der Kreativität. Neue Ideen. Ungewöhnliche Ereignisse arrangieren. Happenings, hatte man früher gesagt. Vieles lag verschüttet unter der alltäglichen Routine. Suchtkranke und Depressive brauchten Struktur, Sanktionen, ein festes Regelwerk, Wörter, bei denen sich ihr die Nackenhaare sträubten. Sie liebte Außerplanmäßiges, Verrücktes. „Gestalte jeden Tag so, dass er der schönste deines Lebens sein könnte“, war mit 17 ihr Wahlspruch gewesen. Später hatte sie geglaubt, dass das Leben nur sinnvoll sei, wenn man es für ein höheres Ziel einsetze, die Familie, politische Aktivität, ein Leben für andere, für Gott.

      Sie musste wenden, den gleichen Weg zurücklaufen. Die Autobahnbrücke schnitt ihr den Weg ab. An dieser Stelle erlaubte sie sich immer eine kleine Gehpause. Sie nahm die intensiven Farben der Feldblumen wahr, das Wogen der Gräser im Wind. Wie mit Bogner, dachte sie, während sie sich wieder in Trab versetzte. Schauen und genießen.

      Ohne Fernweh hier und jetzt den Augenblick genießen. Sie spürte ihre Muskeln, ihre Eingeweide, ihre Knochen im Rhythmus der Schritte vibrieren.

      Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Langsam. Momentan ist’s gut. Es ist okay. Alles auf dem Weg.

      ****

      Bogner hatte den Spaten durch einen Spachtel ersetzt, kratzte vorsichtig die Erde weg. Beklemmende Stille im ganzen Haus. Seine Frau verbrachte einen Tag auf der Schönheitsfarm, Mandy und Alexander hatten irgendetwas vor, was, wusste er nicht mehr.

      Mittlerweile hatte er an einer anderen Stelle noch eine Rippe gefunden, Schulterknochen und Reste einer menschlichen Hand. Er fragte sich, zu welchem Körper die Fragmente gehörten.

      Er fand einen weiteren Schädel, mit eingedrücktem Gesicht. Pure, nackte Gewalt musste da am Werk gewesen sein. Abgetrennt vom Körper, verdreht und misshandelt. Das sollte niemand sehen. Ohne nachzudenken, hatte er eine kleine Grube gegraben, sie mit einem alten Handtuch ausgekleidet, den Schädel hineingelegt und zugedeckt. Ein Gebet konnte er nicht sprechen, aber danach war ihm zumute gewesen.

      Seine Frau hatte nur die Nase gerümpft, als er ihr endlich von seinem Fund erzählt hatte. „Ist ja eklig, mach bloß schnell Fliesen drüber. Das will ich gar nicht sehen.“

      Er musste den Boden des Kellers um mindestens 40 cm ausheben. Viele, viele Schubkarren würden nach oben befördert werden, über eine selbstgebaute Rampe, außen an der Treppe, bevor man Beton giessen konnte.

      Mit dem Eifer eines Süchtigen arbeitete er weiter. Was sich abzeichnete, war ein Fuß, parallel dazu fand sich ein zweiter Fuß. Den Konturen eines menschlichen Skeletts nachgehend legte er tatsächlich Stück um Stück eines ganzen Körpers frei. Ein zweites Skelett. Es verschlug ihm den Atem. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Beine lagen nebeneinander, Becken und Rumpf wiesen keine Verletzungen auf, gefaltete Hände ließen auf eine christliche Beerdigung schließen. Der Kopf war seitwärts verdreht, mit aufgerissenem Kiefer. Lebendig begraben? Oder Opfer eines Kampfes? Er würde in der Geschichte des Dorfes forschen. Bis jetzt hatte er zwei komplette Skelette und diverse Knochen unterschiedlicher Größe gefunden, die er wie ein Puzzle ausgelegt hatte und ergänzte, je nachdem, was er fand. Es deutete sich an, dass mindestens fünf Körper in seinem Keller begraben lagen. War es womöglich ein Massengrab?

      Manchmal, während er den Strahl des Hochdruckreinigers auf die Felgen eines Autos richtete, ertappte er sich bei dem Wunsch, mit derselben Wucht die Knochen zu säubern von allem Irdischen, sie frei zu machen von der Erde, die an ihnen haftete, die von Würmern durchpflügte. Dieser Mikrokosmos, der neues Leben hervorbringen würde, genährt vom Verfall. Er wollte so etwas raus haben aus seinem Haus. Er sah sich Skelette lieber im Museum an, mit historischen Etikettierungen.

      Für heute hatte er genug gegraben. Bogner duschte, machte sich einen Cappuccino und setzte sich in die Sonne, um in der Chronik nach Ursachen für gehäufte Todesfälle zu suchen. Ein Auto hielt mit laufendem Motor vor dem Tor. Mandy schlurfte mit zwei Dosen Cola aus dem Haus. „Haste mal 20 €? Ich fahre mit Tommy zur Teufelsmauer, da ist ein Musikfestival.“ „Kann der den Motor nicht so lange ausmachen?“ Bogner gehörte zwar nicht zu den Umweltschützern, aber es stank einfach. Mandy zuckte nur die Achseln, pulte an ihrem Tattoo herum. Diese Tochter war ihm einfach zuwider, er ertrug ihren Anblick nicht, die geknickte Haltung, das Schlurfige, den Schlafzimmerblick, die zerrissenen Klamotten. Er wusste ganz genau, dass es nicht richtig war, ihr Geld zu geben. Aber für eine Diskussion fehlte ihm die Kraft. Und außerdem wollte er sie los sein, nicht länger um sich haben. „Hier. Viel Spaß!“, sein Portemonnaie war gut genug gefüllt. Sie nahm den Schein und kurz darauf hörte man das Auto, das mit quietschenden Reifen startete. Ein Grund mehr, sich über diese Tochter aufzuregen.

      Die Schrift in der Chronik war schwer zu entziffern, deswegen nahm er die Sonnenbrille ab.

      1850-1855 hatte die Cholera viele Opfer gefordert, am 15.Mai 1889 hatte sich ein furchtbares Unwetter ereignet: „...dunkle Gewitterwolken zogen sich über dem Dorfe zusammen. Unter beständigen Blitzen und Donnern strömte ein wolkenbruchähnlicher Regen vom Himmel herab und überschwemmte bald alle Straßen des Dorfes. Schwere Wagen und Ackergeräte, ja das Vieh aus den Ställen wurde vom Strome fortgetrieben, das Straßenpflaster aufgerissen und weidende Schafherden mussten im Hochwasser ertrinken.

      Gewaltige Wassermassen hatten auch die Wände aus den Häusern gerissen bis auf die kahlen Fachwerke, ja, selbst die Gräber auf den Friedhöfen unterwühlt und die begrabenen Leichen ohne weiteres nach den benachbarten Ortschaften fortgespült, wo sie tags darauf wieder gesucht und an ihre Ruhestätte zurückgebracht werden mussten.“

      Grausige Vorstellung. Das Hochwasser hatte jedoch keine Menschenleben gekostet. Aber eine Typhuswelle im Jahr 1889 konnte vielleicht die Erklärung liefern für seine Skelette. Dann wären sie 114 Jahre alt. Vielleicht lag die Ursache aber auch weiter zurück oder es war ein ganz normales Familiengrab auf dem Friedhof gewesen, über das Gras gewachsen war.

      Die Sonne verschwand hinter weißen Cumuluswolken, während Schwalben unbeirrt über den Sommerhimmel jagten. Bogners Blick fiel auf den Apfelbaum, an dem sich sich erste kleine Früchte zeigten.

      Er interessierte sich für Geschichte, besonders für die Kriege und Kämpfe der früheren Völker. Stundenlang konnte er sich vertiefen in die Kämpfe der Ottonen, der Hunnen, die Eroberungszüge der Kreuzritter. Jetzt fand er Hinweise auf eine große Schlacht in der Nähe seines Heimatdorfes. Heinrich der Vogelsteller, hatte seine zahlenmäßig unterlegene Heerschar ermutigt, sich dem Hunnenheer zu stellen. „ We sollen hir wissen, dat we manne sin, we sollen anlike fechten vor unsere kindere, ja, gott is in de sake. Se sin heiden, we sin christe.“ Etwa 20 000 Hunnen waren in die Senke getrieben worden und dort elend umgekommen. Was für ein Wahnsinn. Ein Grund mehr, sich von der Kirche fernzuhalten.

      Bogner dachte an seine eigenen Waffen, die teilweise dekorativ an den Wänden seines Zimmers zu Hause angebracht waren, Dolche, Schwerter, eine Lanze, auch ein Messer aus fein geschliffenem Stein, das zum Häuten der erlegten Tiere gedient hatte, als die Männer noch Jäger und Sammler waren. Frank Bogner war beides. Und er liebte Waffen. Frauen und Waffen. Die wirklich gefährlichen Waffen hatte er in seinem Tresor verschlossen. Kleinkaliber, Pistole und Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr. Er würde niemals wehrlos sein. Konnte sein Hab und Gut, seine Familie verteidigen, ein Ritter des 21.Jahrhunderts. Aber Massen niedermetzeln nach den Kommandos eines Feldherrn war nicht seine Sache.

      Über seine Züge glitt ein Lächeln, als er daran dachte, wie Frau Hoffmeister sich trotz ihrer Angst, die sie vor ihm verbergen wollte, ausgerechnet auf den Ledersessel neben seinem Waffenschrank gesetzt