Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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an. Deshalb erklärte Aramar, dass es ihnen in dieser Nacht gelungen sei, ein Kraftfeld zwischen den beiden Bauwerken an der südlichsten und der nördlichsten Spitze des Thaurgebirges aufzubauen. Dieses Feld habe in den alten Zeiten immer über dem Land gelegen, sei aber irgendwann einmal nicht mehr gepflegt worden und deshalb zusammengebrochen. Für Nowogoro sei diese Rettung in letzter Minute gekommen. Das Kloster sei ganz vom Feind eingekreist und hätte nicht mehr lange standhalten können. Nun aber gebe es im Norden wieder eine mächtige Zauberfestung, die nicht nur allen Angriffen trotzen könne, sondern gleichzeitig auch den Loron im Süden unüberwindlich mache. Mit dem Feld zwischen ihnen vereinigten sich beide Zentren im Geist des Weißen Rates. Ein mächtiges Bollwerk sei in Centratur entstanden, auf das sie ihre Hoffnung gründen dürften.

      Dann wurden die schlechten Nachrichten ausgebreitet. Feindliche Truppen beherrschten Centratur. Da seien zum einen die Fürsten des Reiches, die sich nach dem Tod des alten, alle vereinenden Hochkönigs erhoben hätten. Jeder von ihnen strebe nach der Macht. Aber nicht nur Fürsten, sondern auch Heerführer und Offiziere wären abgefallen. Revolutionen seien ausgebrochen. Kurz, es sei ein Kampf darum entbrannt, wer in Zukunft die Herrschaft über alle Königreiche ausüben dürfe, und wem die vorhandenen Reichtümer gehörten. Zu allem Unglück sei ein furchtbarer Gegner wieder aufgetaucht, vor dem man sich in Sicherheit geglaubt, den man längst vergessen hatte. Ormor, der Zauberkönig, sei aus dem Berg, in den er tausend Jahre verbannt gewesen war, befreit worden. Er habe alle grausamen Geschöpfe des Nordens um sich versammelt und überziehe von da die Welt mit einem erbarmungslosen Krieg. Orokòr und noch schlimmere Gestalten seien wieder in der Welt unterwegs. Viele der Fürsten hätten sich Ormor unterworfen und machten mit ihm gemeinsame Sache. Im Süden seien, um die Verwirrung komplett zu machen, seltsame Wesen aus dem fernen Osten aufgetaucht. Glatzköpfe, die Streit und Zwietracht säten und Kriege anzettelten. Auch in der Umgebung von Ormor habe man sie beobachtet.

      Besonders erschüttert sei er, sagte Aramar, und tiefe Sorgenfalten zeichneten sein Gesicht, dass sein geliebtes Heimland bedroht sei. Er könne ihm aber nicht zur Hilfe eilen, wolle er nicht das Heil der ganzen Welt gefährden. Er werde nämlich an anderen Brennpunkten gebraucht. Aber zum Glück gäbe es im Heimland jemanden, dem er vertraue. Auf ihn gründe sich seine Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werde.

      Wer denn gefährlicher sei, fragte Axylia, Ormor oder die Glatzköpfe.

      Das wisse er nicht, antwortete der alte Zauberer. Alle verfügten sie über mächtige Zauberkräfte, seien skrupellos und ihnen sei jedes Mittel recht. Als er geendet hatte, herrschte betroffenes Schweigen.

      „So wie ihr es dargestellt habt“, sagte Axylia endlich, „sehe ich keine Hoffnung für uns. Ich weiß nicht, was wir gegen diese Feinde unternehmen könnten."

      „Wir müssen die Kräfte der guten Menschen vereinen und den Widerstand organisieren“, antwortete ihr der Zauberer.

      Nun meldete sich auch Urial zu Wort: „Wir haben auch eine Verheißung gehört, die wir zwar nicht verstanden haben, die uns aber dennoch Mut macht. Sie lautet: 'Zwei kleine Leute sind unterwegs. Vertraut auf sie.' "

      Sie waren so sehr ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie nicht darauf geachtet hatten, was vor dem Turm vor sich ging. Nun hörten sie auf einmal Lärm und viele Stimmen. Sie eilten an die Fenster und sahen im Morgenlicht lange Reihen von Kriegern in das Tal der Is ziehen. Die Soldaten schritten wie am Vortag in langen Reihen, und jeder Kolonne wurde ein dreieckiger Wimpel voraus getragen. Sie bildeten enge Kreise um den Loron, bis endlich alle an Ort und Stelle standen und stumm warteten. Ein hölzernes Podest wurde herbeigeschafft und vor den Stufen des Turmes aufgestellt. Darauf kletterten zwei kleine Gestalten. Ihre langen Arme waren von hellen Ärmeln überzogen, auf ihren Fingern steckten Nagelschoner und ihre kahlen Köpfe glänzten im Licht der Sonne. Wortlos hoben sie die Arme, so dass das Gold, das sie schmückte, blitzte. Auf ihre Zeichen hin begannen die Männer im Takt die Oberkörper hin und her zu wiegen, und dabei sangen sie die Laute: „Omm amm mi, omm amm mi."

      „Ich glaube zwar nicht, dass sie dem Turm wirklich Schaden zufügen können“, sagte Aramar, „aber das Theater geht mir auf die Nerven. Ich werde ihm ein Ende bereiten."

      Er öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon, der über der Eingangspforte aus dem Loron ragte, und trat hinaus. Verdutztes Schweigen breitete sich im Tal aus, als plötzlich ein Mensch auftauchte. Keiner der Angreifer hatte damit gerechnet, dass sich in dem geheimnisvollen Loron jemand aufhielt.

      „Geht nach Hause in Frieden“, sagte der Zauberer in die Stille hinein. „Die Herren des Loron sind zurückgekehrt und beanspruchen ihre Macht. Wir wollen keinen Krieg mit euch, deshalb geht und meidet diese Welt des Geistes und des Friedens! Ihr könnt den Turm nicht bezwingen. Er wurde in der Zeit der Großen Könige gebaut. Ein mächtiger Zauber ruht auf seinen Steinen. Der Turm kann sich verteidigen, wenn er angegriffen wird. Diese Verteidigung ist tödlich. "

      „Ihr haltet Euch für unbezwinglich?" schallte eine krächzende Stimme empor. "Da irrt Ihr! Eure Zeit ist abgelaufen! Die neuen Herren des Turmes sind wir, und wir erheben Anspruch auf ihn. Öffnet uns die Pforten des Loron, und Ihr könnt Euch unbehelligt aus dem Staub machen. Wenn Ihr aber Widerstand leistet und bleibt, so werdet Ihr wünschen, nie gelebt zu haben."

      Einer der Gnome auf dem Podest hatte die Worte geschrien. Bei dem bösen Klang schauderten alle, die sie hörten.

      „Diese Drohungen sind nutzlos. Spart sie Euch und kehrt dorthin zurück, von wo ihr gekommen seid. In Centratur ist kein Platz für Euch. Wenn Ihr nicht aufgebt, so wird es keiner von Euch überleben." Aramar sprach ruhig und mahnte zur Vernunft.

      „Wie viele seid Ihr denn, dass Ihr es wagt, uns zu drohen?"

      „Es kommt nicht auf die Zahl an. Ein Einzelner reicht, um Euch alle zu vernichten."

      Großes Gelächter war die Antwort.

      „Du willst es nicht anderes“, schrie der Glatzkopf wieder und schleuderte seinen Zauber auf den alten Mann. Doch der prallte wirkungslos ab. Wütend gab der Gnom den Soldaten einen Wink. Ein Pfeilhagel sollte den Zauberer treffen. Dieser hatte dem Heer aber bereits den Rücken gekehrt und die Balkontür geschlossen, so dass die Geschosse nur gegen die Festung prallten.

      Kurz darauf setzte der Singsang wieder ein: „Omm amm mi, omm amm mi."

      „Es hilft nichts. Den Wahnsinnigen muss eine Lektion erteilt werden. Sie wird fürchterlich sein. Mit dem Turm kann man keine Spiele treiben. Ich werde das Land von diesem Heer befreien."

      Der Zauberer schritt durch den Turm. Sein Ziel war der blaue Raum, den die Männer und Smyrna nach dem Erwachen entdeckt hatten. Dort holte Aramar eine schwarze Kugel aus Metall, deren oberes Ende abgeschnitten war, aus einer Vertiefung in der Wand. Es war eine Klangschale. Diese Schale stellte er auf das Gestell in der Mitte des runden Raumes. Dann fuhr er sanft mit einem lederbezogenen Klöppel über die Kante der Halbkugel. Nach ein paar Minuten begann die Schale zu schwingen. Ein tiefer, klarer Ton erfüllte den Raum. Das Volumen des Tones nahm zu, schwoll an, erfasste den ganzen Turm, und das Bauwerk selbst begann zu schwingen. Erst ganz schwach, dann immer mächtiger. Der schwingende Loron erzeugte den gleichen Ton wie die Klangschale. Dieser Ton wurde lauter und lauter. Er breitete sich im ganzen Tal aus. Die Soldaten fühlten ihn mehr, als dass sie ihn hörten. Starr vor Schrecken kam das Wunder über sie und ihnen wurde warm und heiß. Der schwingende Turm brachte ihr Blut buchstäblich zum Kochen. Entsetzen erfasste alle und eine wilde Flucht begann. Die Männer trampelten sich gegenseitig nieder. Alle hatten nur noch einen Wunsch, das Tal Rotamin zu verlassen. Doch es gab kein Entrinnen. Einer nach dem anderen brach zusammen und verendete elend. Auch die Gnome starben. Zuletzt war der Boden übersät mit Leichen. Dreieckigen Wimpel überragten die Ernte des Todes.

      „Deine Rache war schrecklich“, sagte Axylia leise. Sie und die anderen Mitglieder der Reisegesellschaft hatten fassungslos aus den Fenstern dem Unheil zugesehen.

      „Ich hatte keine andere Wahl." Der mächtige Zauberer hatte sich wieder in den gebückten, alten Mann verwandelt, dem man unter den Arm greifen wollte, um ihn zu stützen. „Wenn wir den Kampf um Centratur nicht verlieren wollen, dann können wir keine Rücksicht nehmen. Entweder wir unterwerfen