Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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weiter verwunderlich. Im Gegensatz zur Alten Oststraße verlief sie gerade und war darum um ein Vielfaches kürzer.

      Bald hatte Horsa die erste Wiese überquert und sich durch zwei Hecken gezwängt. Das Dorf lag nun schon in einiger Entfernung hinter ihm. Kein Haus war mehr zu sehen. Das Gras war noch feucht vom Morgentau, und seine Hosenbeine nass bis zu den Knien. Er kümmerte sich nicht darum, sondern ging munter weiter. Flink sprang er über Gräben und schlüpfte durch immer neue Hecken. Er fühlte er sich frei. Beinahe hätte er ein Lied gepfiffen, so machte ihm diese Morgenwanderung Spaß.

      Die Alte Straße, die er schließlich erreichte, war einst gepflastert gewesen. Davon waren jedoch nur noch wenige Steine übrig. Jetzt bestand sie aus zwei tief ausgefahrenen Furchen, zwischen denen Gras wuchs. Auf beiden Seiten säumten Schlehenhecken und Hagebuttensträucher den Weg. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, und der Wanderer fand, dass es Zeit für eine Rast war. Guten Mutes setzte er sich in den Sonnenschein, breitete seinen Mantel aus und legte das Schwert neben sich ins Gras. Ev hatte ihm viele gute Sachen eingepackt, die er mit großem Genuss verzehrte.

      Bis zum Einbruch der Nacht hatte er noch immer keine Menschenseele getroffen, nicht einmal als er am späten Nachmittag die Kleestraße, die zum fernen Beistalsee führte, kreuzte. Horsa suchte sich einen gemütlichen Platz in einem winzigen Hain, der nur aus fünf Bäumen bestand und mitten in den Wiesen abseits der Straße lag. Dort rollte er sich in seinen Mantel und schlief unbeschwert. Spät am nächsten Morgen reckte er sich und gähnte. Dann aß er mit mächtigem Appetit von seinen Vorräten, trank aus seiner Feldflasche und machte sich wieder auf den Weg.

      Er kam auch an diesem Tag gut voran. Schließlich erreichte er die Steinbruchstraße und bog dort auf den schmalen, staubigen Weg ein, der nach Norden führte. Im Gegensatz zur Alten Straße gab es hier keine Hecken und nur vereinzelte Obstbäume spendeten Schatten. Die Herbstsonne brannte heiß von einem blauen, wolkenlosen Himmel. Horsa begann, unter seinem Mantel zu schwitzen.

      Noch immer hatte es keine Zwischenfälle gegeben. Er wollte wieder einmal zum Singen ansetzen, da hörte er das Klopfen von Pferdehufen auf der ausgetrockneten Erde. Erschrocken suchte er nach Deckung, aber weit und breit war nichts, hinter dem er sich hätte verbergen können.

      In der Ferne tauchten zwei Reiter auf, die ihren Pferden die Sporen gaben und rasch näherkamen. Minuten später zügelten sie ihre Ponys an seiner Seite. Es waren Soldaten des Markgrafen, ein Unteroffizier mit grauen Haaren und ein einfacher Soldat, der noch nicht einmal volljährig war. Dieser junge Bursche war sicher erst vor kurzem zur Armee eingezogen worden. Beide trugen keine blitzenden Uniformen sondern abgewetzte Wamse und zerschlissene Stiefel mit abgetretenen Absätzen. Sie waren nicht zu vergleichen mit dem eitlen Major, den er und Mog bei ihrer Flucht aus den Windspitzbergen getroffen hatten. Dies hier war das Fußvolk, Männer, für die der Dienst im Heer alles andere als ein Vergnügen war, die immer zu kurz kamen. Sie mussten stets die unangenehmen Aufgaben ausführen, den am wenigsten beliebten Dienst tun. Natürlich hatten auch sie Lust auf ein wenig Plündern; doch, wenn sie endlich zum Zuge kamen, war die Beute längst verteilt, und ihnen blieb das Nachsehen. Das waren die Enttäuschten, die Verbitterten, und das machte sie gefährlich.

      „Wer bist du?" herrschte der Ältere den Grafen an.

      „Ein Knecht aus Mühlendorf“. Horsa versuchte seiner Stimme einen furchtsamen Klang zu geben. „Aber wer seid ihr?"

      „Wir sind zwei arme Schweine, die bei dieser Hitze nach dem Rechten sehen und Grafen suchen müssen. Aber das geht dich gar nichts an. Hier stellen wir die Fragen“.

      „Sehe ich wie ein Graf aus?"

      „Nein, weiß Gott nicht“. Die Antwort kam spontan, und sie ärgerte Horsa.

      Der Sergeant fuhr mit dem Verhör fort: „Auch, wenn du kein Graf bist, was machst du hier?"

      „Ich bin auf dem Weg nach Steinbruch“.

      „Was willst du dort? Antworte Bursche, sonst hole ich dir die Worte einzeln aus dem Mund, und das wird dir nicht gefallen“. Der Soldat war wütend. „Wegen euch Gelichter müssen wir hier herum traben“.

      „Ich soll dort etwas abgeben“. Horsas Stimme zitterte, er kam ins Stottern und bemerkte verzweifelt, dass er versäumt hatte, sich rechtzeitig eine Ausrede zu überlegen.

      „Was sollst du abgeben und wem?"

      „Arznei für meine Großmutter“.

      „Laß' seh'n!"

      „Ich habe sie in meinem Rucksack“.

      „Vorzeigen!"

      Ächzend stiegt der Sergeant vom Pony und kam auf ihn zu. In diesem Augenblick geriet Horsa in Panik. Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen, riss sein Schwert unter dem Mantel hervor, rannte auf den alten Soldaten zu und stieß es ihm, ohne lange zu überlegen, in den Leib. Dabei blickte er seinem Opfer ins Gesicht. Er sah die Augäpfel, sah, dass das Weiß mit einem gelblichen Schleier überzogen war. Er sah den abgeschabten Kragen der schäbigen Uniform und die unrasierten Wangen. Blut spritzte in einem breiten Strahl aus der Wunde, die das Schwert gerissen hatte und traf den Täter.

      Ohne sich weiter um den Sergeant zu kümmern, stürzte Horsa zu dem anderen Soldaten, der starr vor Schreck auf seinem Pony saß. Als der vermeintliche Bauerntölpel mit dem blutigen Schwert auf ihn zusprang, erwachte er aus seiner Lähmung. Er ergriff die Zügel und gab dem Pferd die Sporen, aber schon war Horsa bei ihm und riss ihn aus dem Sattel. Hart schlug der Soldat auf dem staubigen Boden auf. Er war von dem Sturz noch betäubt, als ihm bereits die Kehle zugedrückt wurde. Horsa roch den Schweiß des jungen Burschen, den Schweiß der Hitze und den Schweiß der Angst. Er roch den säuerlichen Gestank aus dem Mund des Mannes und drückte noch fester zu. Verzweifelt schlug dieser um sich, aber der Graf hielt eisern fest. Schließlich wurden die Bewegungen des Überfallenen schwächer und sein Gesicht bleich. Dann ging ein Zucken durch seinen Körper, und er war tot. Ruhig lag er da, nur noch ein dünner Speichelfaden rann aus seinem offenen Mund.

      Horsa stand auf und sah verwirrt auf die beiden Toten. Er hatte die Soldaten umgebracht! Er ekelte sich vor dem Tod, dem Schmutz und vor sich selbst. Das Blut an seiner Kleidung widerte ihn an. Er übergab sich so lange, bis sein Magen völlig leer war. Dann setzte er sich in den Staub und weinte bitterlich.

      Immer wieder stammelte er: „Was habe ich getan? Was habe ich getan? Das wollte ich nicht! Wirklich, das wollte ich nicht!"

      Als er sich wieder gefasst hatte, reinigte er sich von den Spuren des Kampfes. Zuerst säuberte er seinen Mund und wischte die Blutspritzer von seiner Kleidung, so gut es eben ging. Dann reinigte er sein Schwert am Mantel des Sergeanten. Zuletzt schleifte er die Leichen zum Straßenrand und bedeckte sie notdürftig mit trockenem Gras. Als alles gerichtet war, bestieg er eines der Ponys, nahm das andere am Zügel und trabte nach Norden.

      Es war ihm klar, dass er die Steinbruchstraße so bald wie möglich verlassen musste. Die Herbstsonne brannte unbarmherzig vom Himmel. Gerne hätte er sich gewaschen, denn er fühlte sich innen und außen schmutzig. Doch Wasser war weit und breit nicht zu entdecken. Seinen Mantel trug er längst nicht mehr. Er hatte ihn hinten am Sattel zusammengerollt festgebunden, und sein Schwert hing offen an seiner Seite. Welchen Zweck sollte es noch haben, die Waffe zu verbergen? Er war ein Mörder und würde bald als Mörder gejagt werden. Es gab kein Ausweichen und keine Hoffnung auf Flucht.

      Er mochte eine Stunde geritten sein, da sah er in der Ferne eine Staubwolke. Auf der Höhe von Windfeld war der Markgraf so nahe an die Staubwolke herangekommen, dass er sie als einen Flüchtlingstreck erkennen konnte, der sich mühsam dahinschleppte. Es waren elf Leute, die zwei Leiterwagen zerrten und schoben. Er zügelte sein Pony und fragte, wohin die Gesellschaft unterwegs sei?

      Ein alter Mann, der nur noch zwei Zähne im Mund hatte, antwortete: „Nach Norden“.

      „Das sehe ich. Aber was ist euer Ziel?"

      „Wir haben kein Ziel, Herr. Unser Ziel ist es, in nächster Zeit etwas Essbares zu finden und eine ruhige Nacht zu verbringen. Das sind die Ziele, die für uns noch erreichbar sind. Alle anderen haben wir schon lange aufgegeben“.