Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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stehe ich in eurer Schuld. Ohne mich wärt ihr nicht hier, und ohne mich hättet ihr niemals diesen Fluss überqueren müssen. Was ihr für mich getan habt, ist mir erst bewusst geworden, als ich dich dort hilflos im Wasser treiben sah“.

      Werhan legte ihm lange die Hand auf die Schulter und sah ihm tief in die Augen. Dann nickte er ernst.

      „Deine Gedanken haben sich tatsächlich verändert“, sagte er warm. „Ich glaube, nun sind wir eine Gemeinschaft“.

      Marga hörte ihnen zu. Ihre Augen glänzten, und man konnte erraten, dass sie geweint hatte. Aber sie sagte kein Wort. Der Graf sah sie mit neuer Aufmerksamkeit an. Ihre Kleider und ihr Gesicht waren schmutzig. Auf ihren nackten Armen waren rote Kratzer von Dornen. Das schwarze Haar war verfilzt. Aber dennoch war das Mädchen schön. Sie hatte eine zierliche Gestalt und war so groß wie er. Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Doch für solche Überlegungen blieb ihm keine Zeit.

      „Wie kommt es, dass du schwimmen kannst? Ich weiß, dass Erits das Wasser scheuen“. Der junge Mann unterbrach seine Gedanken.

      „Eines Tages traf ich auf einem meiner Streifzüge durch die Rentnitzau einen fremden Mann. Er war groß und hatte eine seltsam helle, beinahe weiße Haut. Am auffälligsten aber war ein feuerrotes Mal, das sich quer über sein Gesicht zog. Er sprach mich an und wünschte mir einen guten Tag. Ich wollte gerade Rast machen, und so setzten wir uns nach einem kurzen Gespräch an das Ufer der Rentnitz und packten unsere Vorräte aus. Der Mann war freundlich, nannte aber nicht seinen Namen. Später fragte er mich wie zufällig, ob ich schwimmen könne und, als ich verneinte, ob ich es lernen wolle. Meine größte Sorge war schon immer, so ängstlich und kleinkariert zu werden wie die anderen Erits im Heimland. Deshalb stimmte ich zu, und der Mann brachte mir das Schwimmen bei. Als meine Landsleute später sahen, dass ich freiwillig ins Wasser sprang, erklärten sie mich für verrückt. Heute hat sich die Mühe ausgezahlt.“

      Sie hatten keine Zeit, noch länger über Horsas verborgene Talente zu sprechen, denn Werhan mahnte zur Rückkehr. Dort sahen sie, dass in der Zwischenzeit die übrigen Flüchtlinge unter der Führung von Vater Adelkrag Wagen und Pferd gerettet hatten. Gemeinsam packten sie nun an und unter großen Mühen war nach etwa einer Stunde das Übersetzen erfolgreich beendet. Die beiden Ponys und die Karren wurden sorgsam im Gebüsch verborgen, und alle lagen schließlich erschöpft im Gras auf der Insel.

      Kaum waren sie ein wenig zu Atem gekommen, da flüsterte Marga: „Die Reiter kommen“.

      Bald darauf sahen sie durch die Zweige, hinter denen sie sich verborgen hatten, Reiter am anderen Ufer. Sie trugen Uniformen und suchten sorgfältig alles ab. Ihre Zahl war groß. Die Leute auf der Insel wagten kaum zu atmen.

      „Sie werden bald weiter reiten“, flüsterte Werhan beruhigend.

      Aber er täuschte sich. Die Soldaten blieben und schlugen im Schein der warmen Nachmittagssonne nahe dem Flussufer ein Lager auf. Zelte wurden aufgestellt, Feuer entzündet, die Offiziere ließen zum Appell antreten. Die Leute auf der Insel waren gefangen.

      „Wir müssen still ausharren“, brummte Adelkrag wütend. „Vielleicht nächtigen sie nur und ziehen morgen weiter?

      „Ich kann nicht warten“, sagte der Graf. „Dazu habe ich keine Zeit“.

      „Diese Zeit werdet ihr Euch wohl nehmen müssen“, entgegnete ihm der Alte.

      „Ich kann nicht!" Horsa war verzweifelt.

      „Willst du uns nicht endlich die Wahrheit sagen?" Werhan hatte ganz ruhig gesprochen, aber seine Worte brachen den Bann. Von Anfang an erzählte Horsa seine Geschichte, er sprudelte sie beinahe heraus. Er berichtete von seiner Flucht und endete mit dem Mord an den Soldaten. Seine neuen Gefährten hörten ihm aufmerksam zu, und ihre Gesichter wurden immer ernster.

      Horsa beendete seine lange Erzählung mit den Worten: „Ich muss sofort den Widerstand organisieren“.

      „Es gibt noch eine andere Gefahr“, erklärte ihm Werhan zu. „Orokòr sind an den Grenzen dieses Landes gesehen worden“.

      Der Markgraf erbleichte und sagte: „Dann darf ich erst recht keine Zeit mehr verlieren“.

      „Du hast recht“, stimmte Werhan zu, „und ich werde mit dir gehen“.

      Marga meldete sich schüchtern zu Wort und zu Horsas Erstaunen, erklärte auch sie, dass sie ihn begleiten wolle. Niemand widersprach. Vater Adelkrag, so wurde nach kurzer Beratung beschlossen, solle mit dem Treck auf der Insel verweilen, bis die Soldaten abgezogen wären. Sie hatten einige Vorräte, von denen sie ein paar Tage zehren konnten. Horsa gelobte, aus Steinbruch Hilfe zu schicken. Aber die Flüchtlinge sahen ihn nur skeptisch an.

      Auf der westlichen Seite des Flusses war das Soldatencamp, also blieb für ihre Flucht nur der Osten. Dort aber floss der Hauptarm des Erfstroms. Schwimmend war die Strömung nicht zu bezwingen. Ein Floß schien die Lösung. Zum Glück war der östliche Teil der Insel mit Bäumen dicht bewachsen und von den kampierenden Soldaten so weit entfernt, dass diese die Axtschläge nicht hören konnten. Die Stämme wurden mit Seilen verbunden, drei Ruder sollten das ungeschlachte Schiff manövrierfähig machen. Horsa, Werhan und Marga schnallten ihre Bündel um und sprangen auf die Stämme, die sofort tief ins Wasser eintauchten. Die alten Leute schauten ihnen mit versteinerten Mienen nach.

      In der Nähe der Insel war das Wasser noch verhältnismäßig ruhig, und Horsa stellte sich schon auf eine leichte Überfahrt ein. Doch die Freude war verfrüht, denn plötzlich ergriff die Strömung das schwache Floß und warf es hin und her. Es drehte sich um sich selbst, und die unerfahrenen Schiffer ruderten, so gut sie konnten, um es wieder unter Kontrolle zu bringen. So sehr sie sich jedoch mühten, das östliche Ufer kam keinen Meter näher. Stattdessen wurden sie immer weiter abgetrieben.

      „Wir schaffen es nicht“, schrie Horsa, um das Tosen des Flusses zu übertönen.

      „Wir müssen“, war Werhans lapidare Antwort.

      Da erhob sich Marga. Voller Staunen sah Horsa zu ihr hinüber. Obgleich das Floß schlingerte und schwankte, stand sie ganz ruhig und breitete die Arme über dem Kopf aus. Dann rief sie mit heller Stimme Worte, die der Graf nicht verstand. War es Magie? Halfen Vögel, Fische oder andere Lebewesen? Horsa wusste es später nicht mehr zu sagen. Aber er erinnerte sich, dass das Floß mit sanfter Gewalt zum östlichen Ufer getrieben wurde und endlich lautlos anlegte. Die Männer griffen nach Zweigen an der Uferböschung, und dann standen sie wieder auf dem Trockenen. Die Strömung riss die Baumstämme zurück in die Flussmitte. Das Wasser begann zu kochen. Aus den Fluten ragten grüne Steine gegen die das Holz mit lautem Krach prallte und zerbarst.

      „Diese Stromschnellen hätten uns das Leben gekostet“, sagte Horsa atemlos.

      Bewundernd sah er sich nach Marga um. Hoch aufgerichtet und stolz stand sie da. Ihre nassen Kleider klebten an ihrem schmalen Körper. Die untergehende Sonne stand hinter ihr, und in ihrem Schein bot sich die junge Gestalt hüllenlos den Augen des Grafen. Der konnte sich nicht satt sehen. Der Mann wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie in die Arme genommen.

      „Mein Schwesterlein entwickelt Fähigkeiten, die nicht einmal ich ihr zugetraut hätte“, durchbrach Werhan das Schweigen.

      Horsas seufzte: „So etwas wie diese Floßfahrt möchte ich nicht noch einmal erleben.“

      „Man kann nie wissen“, die Stimme Margas klang seltsam und geheimnisvoll. Sie hatte sich in der kurzen Zeit, seit Horsa sie kannte, völlig verändert. Aus dem kleinen, scheuen Mädchen war eine eindrucksvoll schöne, junge Frau geworden.

      Sie gönnten sich keine lange Pause, sondern brachen sogleich auf und liefen am östlichen Ufer nach Norden. Die Nacht war schon lange hereingebrochen, als sie noch immer wanderten.

      Zaghaft und verlegen sagte irgendwann Werhan zu dem Gefährten: „Ich muss dir etwas gestehen“. Bei diesen Worten legte er Horsa seine Hand auf den Arm und fuhrt fort: „Ich kann deine Gedanken lesen, wenn ich dich berühre“.

      „Das ist doch nicht möglich“, fuhr es dem Grafen durch den Kopf.

      „Doch,