Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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schlummerte auch der Graf ein. Doch beim ersten Sonnenstrahl erwachte er. Sein Körper schmerzte von der Kälte und der unbequemen Lage, in der er die Nacht verbracht hatte. Er sprang auf, reckte sich und federte in den Knien. Dann weckte er die Gefährten. Wieder aßen sie von den spärlichen Vorräten, dann machten sie sich auf den Weg. Die Felder und der Fluss dampften im Nebel. Es war kühl und unfreundlich. Horsa wagte nicht, an das Gespräch der vergangenen Nacht anzuknüpfen, aber Marga begann von sich aus.

      „Wir müssen dir noch erzählen, wie es mit uns weitergegangen ist. Was wir in den nächsten Tagen gemacht haben, weiß ich nicht mehr“.

      „Wir haben die Hütte verlassen. Du wirst vor Hunger bewusstlos. Ich versuche dich zum Schutz vor den Tieren auf einen Baum zu zerren, aber es gelingt mir nicht“. Werhan nahm den Faden wieder auf. „So bleiben wir beide auf dem Moos liegen. Es wird dunkel und ich sehe überall Schatten auf mich zukommen. Ich zittere am ganzen Körper. Ich mache mir vor Angst in die Hose. Dann ist wieder Tag“.

      „Er rüttelt mich. Wir stützen uns gegenseitig. Wir schleppen uns durch den Wald“.

      „Wir wissen nicht, in welche Richtung wir laufen sollen. Wir taumeln im Kreis herum“.

      „Dann geschieht das Wunder“. Marga ist ganz atemlos. „Wir sind noch nicht weit gegangen. Da ist eine Lichtung. Wir treten hinaus. Auf der Lichtung steht eine Hütte aus Baumstämmen. Die Ritzen sind mit Moos verstopft. Um das Blockhaus sind Klettergerüste für Pflanzen. Dort wachsen Beeren und Blumen. Ein Garten ist angelegt mit Früchten verschiedenster Art. Ich sehe rote Himbeeren und schwarze Brombeeren. Der Anblick gibt mir Kraft. Wir eilen zu dem Haus. Kein Zaun versperrt uns den Zutritt. Wir stürzen uns auf die Beeren und stopfen uns die Münder voll. Während wir auf beiden Backen kauen, sagt eine freundliche Stimme: 'So viele Beeren sind ungesund für kleine Kinder. Kommt herein, dann bekommt ihr etwas Ordentliches zu essen.'

      Eine Frau mit langem schwarzen Haar und einem braunen Mantel steht hinter uns. Sie kam uns Kindern damals sehr alt vor, aber ich glaube, sie war noch ziemlich jung. War es der Hunger, die Erschöpfung oder die Angst, mir wird schlecht. Ich breche alles, was ich in mich hineingestopft habe, wieder heraus und verliere das Bewusstsein. Als ich erwache, liege ich im Haus auf einem Lager aus Heu ganz nahe bei der Feuerstelle. Ich bin mit Decken zugedeckt und habe Schüttelfrost. Neben mir liegt mein Bruder. Die Einsiedlerin kniet neben ihm und flößt ihm aus einem Holzbecher etwas ein“.

      „Es ist ein Tee, der bitter schmeckt. Später gibt es eine dünne Hühnersuppe und immer wieder diesen Tee. Wir sollen viel trinken, sagt die Frau. Nach ein paar Tagen geht es uns besser. Sie macht Brennnesselsalat, kocht uns Hagebuttengemüse und immer wieder Hühnersuppe. Bald können wir aufstehen und umhergehen. Da ist das Haus, der große Gemüsegarten, die Wiese mit den Obstbäumen. Dort hüte ich die Ziege und die vier Schafe, und im Herbst pflücken wir süße Kirschen, Äpfel und Birnen“.

      „Und ich gehe mit der Frau in den Wald. Wir sammeln Salbei, Kamillen und Rosmarin. Auch von den Königskerzen nimmt sie etwas mit, bewahrt es aber streng getrennt von den anderen Kräutern auf. Ich muss auf Bäume klettern und Misteln schneiden. Alles wird zu Hause getrocknet und in kleinen Säckchen an die Decke gehängt.

      Einmal frage ich unsere Retterin, wer sie sei. Sie antwortet leise: 'Eine einsame Frau'“.

      „An den Winterabenden sitzen wir um die Feuerstelle. Das Feuer rußt nicht. Die Frau strickt oder spinnt die Wolle der Schafe. Dabei erzählt sie. Sie erzählt von den Zeiten, bevor es Menschen gab. Sie lässt mächtige Königreiche in unserem Kopf entstehen und zerfallen“.

      „Sie war weise. Ich habe mir vieles von dem gemerkt, was sie uns sagte. So zum Beispiel: Wichtig ist nicht, was jemand sagt, sondern was jemand tut. Gesagt wird viel in der Welt und getan wenig. Wenn du jemanden erkennen willst, achte auf seine Taten und nicht auf seine Reden“.

      „Und ich habe mir gemerkt: Die Weisheit steckt im Herzen und nicht im Gehirn“.

      „Ich erinnere mich an eine andere Szene. Es ist Sommer. Wir sitzen auf der Bank vor dem Haus. Die Frau hat ein Huhn gefangen und ihm den Kopf abgehackt. Während sie es rupft erklärt sie mir: 'Das Tier ist dein Bruder und deine Schwester. In dieser Welt kannst du nur leben, wenn sich jemand für dich opfert. Deshalb müssen wir den Tieren für ihr Opfer dankbar sein.'

      'Aber’, entgegne ich, 'die Tiere wollen doch nicht getötet werden. Wie kannst du von Opfer sprechen, wenn du sie zwingst?'

      'Oh’, meint sie, 'Opfer werden in der Regel nicht gefragt. Wenn alle Opfer freiwillig wären, gäbe es wahrscheinlich keine Opfer. Aber es geht auch nicht um das Tier, sondern um uns. Es geht darum, dass wir schuldig werden müssen, wenn wir leben wollen. Und es geht darum, wie wir mit dieser Schuld umgehen. Nehmen wir den Tod von Hase und Ziege, von Huhn und Fisch als selbstverständlich hin, oder begreifen wir, dass hier ein Lebewesen für uns sein Leben gelassen hat. Wo bliebe sonst unsere Dankbarkeit dafür, dass wir leben dürfen, während dieses Huhn sterben musste?'

      'Was habe ich mit dem Huhn zu tun?' frage ich erstaunt.

      'Das Huhn ist deine Schwester und das Schaf dein Bruder. Wenn du sie tötest, stirbt stets auch ein Teil von dir. Habe die gleiche Ehrfurcht vor deiner Nahrung, die du vor dir selbst hast! Leute, die töten um des Tötens willen, haben nie gelernt, sich selbst zu achten.' "

      „Einmal, wir sind vielleicht schon drei Jahre dort, werden wir beide krank. Wir haben Masern oder Keuchhusten oder eine andere Krankheit, die Kinder bekommen. Wir liegen auf unseren Heulagern und die Frau gibt uns Tee. Dabei erklärte sie: 'Jede Krankheit will uns etwas sagen. Jede Krankheit bringt den Menschen einen Schritt weiter. Wenn die Krankheit heraus will, sollst du sie nicht unterdrücken, sonst bleibt dir ihre Botschaft verborgen. Ihr müsst die Botschaft der Krankheit entschlüsseln. Ihr müsst lernen, was euch die Krankheit lehren will“.

      „Na, und was hat sie euch gelehrt“, fragte Horsa spöttisch.

      „Sie lehrt einen jeden etwas anderes. Im Übrigen, wenn sich das so leicht mitteilen ließe, bräuchten die Menschen nicht mehr krank zu werden. Nein, die Lehren deiner Krankheit musst du schon selbst ziehen“.

      Werhan hatte ernst geantwortet und war nicht auf den Scherz eingegangen. Horsa erwiderte nichts und schämte sich ein wenig.

      Marga überspielte die Verlegenheit und fuhr fort: „Die Frau wird von den Tieren geliebt. Stets fliegen Schwärme von Vögeln um ihr Haus. Katzen liegen überall. Hühner picken auf dem Hof. Hasen hoppeln herum und sind nicht in Ställe gesperrt. Nur Schweine gibt es nicht. Die Frau sagt, als wir sie nach Schweinen fragen: 'Wer Schwein isst, wird selbst zum Schwein.'

      Wir lernen Heilkräuter erkennen, Ziegen melken, Hühner schlachten, Körbe flechten, Obst einmachen“.

      „Und Gedanken zu lesen“, platzte Werhan heraus.

      „Die Frau im Wald hat dir das beigebracht?" fragte Horsa erstaunt.

      „Ja, es war mein Geburtstagsgeschenk. Sie konnte eine Menge Dinge, die andere Menschen nicht können“.

      „Aber warum hat dann Marga das Gedankenlesen nicht gelernt?"

      „Die Frau meinte, wenn ich die Gedanken der Männer erkennen könnte, würde ich nur in Verlegenheit kommen. Es wäre besser, wenn ich nicht wüsste, was in den Köpfen der Männer vorgeht“.

      Horsa errötete und blickte zu Boden.

      „Zum Ausgleich dafür, dass ich Gedankenlesen durfte, brachte die Frau meiner Schwester das Sprechen mit den Vögeln bei. Ich weiß nicht, welches von beiden die größere Gabe ist“.

      Es war inzwischen Mittag geworden, und sie hatten eine große Strecke zurückgelegt. Das wurde ihnen erst jetzt bewusst, denn die Zeit war mit dem Erzählen rasch vergangen. Bisher war ihnen niemand begegnet, und auch die Vögel hatten Marga nichts mitgeteilt.

      Sie vesperten auf einer Wiese und lagen dann auf dem Rücken und sahen in den hohen, blauen Himmel. Horsa wünschte sich, jetzt mit Marga allein zu sein. Er hätte sie gern in den Arm genommen. Da erinnerte er sich, was die Alte über die Gedanken von Männern gesagt hatte und zwang sich ganz rasch, an