Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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habt ihr diese Frau, die euch so viel Gutes tat, verlassen?"

      Die beiden taten, als hätten sie seine Frage nicht gehört. Deshalb hakte er nach: „Jetzt möchte ich auch wissen, wie eure Geschichte endet“.

      „Sie endet nicht schön“, sagte Marga, „und ich möchte nicht darüber reden“.

      Horsa war entrüstet: „Ihr könnt doch nicht mittendrin aufhören!"

      „Er hat ein Recht darauf, das Ende zu hören“, lenkte Werhan ein. „Aber ich will es kurz machen. Es waren etwa fünf Jahre vergangen. Es war eine glückliche Zeit gewesen, wahrscheinlich die schönste Zeit in unserem Leben. An einem Tag im Spätherbst, draußen pfeifen schon die kalten Stürme durchs Land, sitzen wir im Haus beim Mittagessen. Die Frau hat Grütze gekocht und sie mit Kräutern und Gewürzen abgeschmeckt. Sie mundet köstlich. Plötzlich geht die Tür auf, ein eiskalter Windstoß fährt herein, und in der Tür steht ein Mann. Wir sind völlig überrascht, denn in all den Jahren haben wir niemals einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen als die Frau. Der Mann tritt herein und hinter ihm drängen andere nach.

      Einer sagt: 'Na sieh mal an, wir kommen gerade recht zum Essen. Sind wir eingeladen?'

      Die Frau antwortet: 'Setzt euch! Es wird auch für euch noch reichen.'

      'Das glaube ich nicht’, sagt einer der Männer. 'Wir lassen uns nämlich nicht abspeisen. Das was wir wollen ist kein Brei, sondern etwas viel Besseres, wir wollen dein Geld.'

      'Ich habe kein Geld’, antwortete die Frau.

      'Erspare dir Ärger und uns Mühe’, grölt nun einer der Burschen. Sie sind alle noch recht jung. 'Rück’ es freiwillig heraus.'

      'Ich kann euch nicht geben, was ich nicht habe.'

      Da packen die Schweine die Frau und schlagen sie. Wir stehen hilflos und ängstlich in der Ecke und wissen nicht, ob wir schreien sollen. Unserer Freundin läuft das Blut aus Mund und Nase.

      'Willst du nun endlich reden!' schreit einer der Schweine zornig und schlägt wieder zu. Da sackt die Frau zusammen. Die Männer treten sie mit Füßen, aber sie bleibt leblos liegen.

      'Schafft die Hexe 'raus’, brüllt ein anderer.

      Die wehrlose Frau wird auf den Hof gezerrt und in den Dreck geschmissen.

      'Es ist kalt hier’, schreit einer dieser Schweine übermütig. 'Das Weib braucht Wärme. Kommt her.'

      Dabei zeigt er auf uns.

      ‘Holt Holz und macht ein Feuer!’

      Wir ahnen, um was es geht und weigern uns. Aber sie haben Gefallen an der Idee gefunden und prügeln uns so lange, bis wir schließlich Reisig holen und auf dem gestampften Boden Feuer machen.

      'Na also‘, sagt der erste Mann. 'Ihr könnt eure Freundin doch nicht frieren lassen.'

      Dann rufen sie: 'Und nun wird die Hexe geröstet!'

      Die Frau ist inzwischen zu sich gekommen und versuche wegzulaufen. Aber sie ist zu schwach und wird sofort eingeholt. Sie strampelt mit Händen und Füßen als die vier Schweine ihre Beine ins Feuer halten. Aber sie hat keine Chance“.

      Werhans Stimme erstickte. Er konnte nicht weitererzählen. Marga war stehen geblieben und schluchzte: „Sie rösten die arme, wehrlose Frau, die niemandem etwas zu Leide getan hat. Die Frau schreit. Es ist ein Schrei, der nicht aufhören will, der durch Mark und Bein geht, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Sie schreit so fürchterlich, und ich denke, wenn sie doch endlich aufhören würde zu schreien! Und dann schäme ich mich für diese Gedanken. Und sie schreit weiter. Die brutalen Schweine scheren sich nicht um ihr Schreien. Während die einen sie quälen, durchwühlen die anderen die Hütte und zerstören alles. Irgendwann erstirbt das Schreien. Es bleibt nur der Geruch von verbranntem Fleisch. Die Männer zünden alles an. Ich weiß nicht, warum wir in dem Durcheinander nicht weglaufen sind. Wir stehen beide wie versteinert und sehen der Verwüstung zu. Als alles brennt, werden sie wieder auf uns aufmerksam.

      'Ihr kommt mit uns’, sagt einer. 'Ihr müsst doch froh sein, dass wir euch aus der Gewalt dieser Hexe befreit haben. Wer weiß, was die mit euch noch alles angestellt hätte. Hexen lieben Menschenfleisch, besonders schätzen sie das Fleisch von Kindern. Aber keine Angst, wir sind ja noch rechtzeitig gekommen. Und jetzt seid ihr frei und geht mit uns.'

      'Ja’, sagt ein anderer. 'Und zum Dank dafür, dass wir euch mit so viel Mühe befreit haben, kannst du jetzt meinen Rucksack tragen.'

      Ich nehme den Rucksack auf meine Schultern, und Marga trägt das Schwert eines dieser Schweine. Wir marschieren in den Wald, und hinter uns blökt die Ziege, die gemolken werden will. So beginnt unsere Flucht durch Centratur."

      Hier endete Werhan, und sie sprachen den Rest des Tages auf ihrem Marsch kein Wort mehr miteinander.

      

      

       Verrat in Steinbruch

      Der Weg nach Steinbruch war weit. Obgleich die Wanderer den ganzen Tag kräftig ausschritten und sich kaum Pausen gönnten, waren sie, als es dunkel wurde, noch nicht am Ziel. Sie mussten eine weitere Nacht im Freien verbringen. Es wurde eine freudlose Nacht, in der sie sich ruhelos auf der harten, kalten Erde hin und her wälzten. Wie gerädert wachten sie auf. Horsa war unruhig. Die Zeit drängte. Deshalb machten sie sich sogleich auf den Weg und aßen ihr Frühstück beim Gehen.

      Gegen Mittag befanden sie sich endlich auf der Höhe von Steinbruch. Jenseits des Flusses sahen sie aus Dächern Rauch aufsteigen. Eine hohe Palisade aus zugespitzten Baumstämmen umgab diesen äußersten Posten des Heimlandes.

      „Da sind wir“, sagte Horsa. „Nun gilt es nur noch hinüber zu kommen“.

      „Warum gibt es hier keine ordentliche Brücke?" fragte Werhan.

      „Ich nehme an, weil man überraschenden Angriffen vorbeugen will. Immerhin sind wir hier in den Grenzlanden. Östlich des Erfstrom ist weites, unbewachtes Land. Nur der große Fluss schützt das Heimland. Jede Brücke würde diesen Schutz mindern und die Gefahr erhöhen. Aber es muss hier irgendwo einen behelfsmäßigen Übergang geben“.

      Horsa wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war unerträglich schwül.

      „Es wird heute noch ein Gewitter geben“, dachte er sich. „Hoffentlich haben wir dann in Steinbruch ein Dach über dem Kopf“.

      Sorgfältig suchten sie das Flussufer ab, doch ohne Erfolg. Horsa schwitzte immer stärker und versicherte ungefragt alle paar Minuten: „Ich bin ganz sicher, dass wir hinüber kommen! Es muss einen Steg geben“.

      Werhan sah ihn von der Seite zweifelnd an. Es war schon über eine Stunde vergangen, seit sie suchten, und die Sonne war hinter den dunkelgrauen Wolken nicht mehr zu sehen.

      Endlich rief Marga: „Hier ist etwas!"

      Die Männer eilten zu ihr und sahen verborgen zwischen Schilf und Binsen einen schmalen Steg. Er bestand nur aus zwei Brettern und hatte kein Geländer. Die Bretter ruhten auf Stämmen, die in den Grund des Flusses getrieben waren. Die Planken waren moosüberwachsen und glitschig. Es würde gefährlich sein, auf dieser morschen Brücke den großen Strom zu überqueren. In diesem Augenblick vernahmen sie erstes Donnergrollen, und es fielen dicke Tropfen.

      „Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch vor dem Gewitter die andere Seite erreichen wollen“, sagte Werhan.

      Doch es war zu spät. Schon prasselte ein heftiger Regen auf sie nieder, und Blitze erleuchteten den dunklen Himmel.

      „Bei diesem Wetter möchte ich nicht über den Fluss“, beklagte sich Marga.

      „Wir haben keine Wahl!" Horsas Stimme war anzuhören, dass er selbst Angst hatte. „Unter freiem Himmel ist ein Gewitter nie angenehm“.

      „Dann los!" rief Werhan. „Wenn es denn sein muss, so sollten wir nicht zögern. Es kann nur noch schlimmer werden“.