Mila Brenner

Wolkenschwäne


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gewesen, doch wir hatten Besuche bei meinen Eltern stets mit Ausflügen in Greeleys schöne Gegend verbunden. Es gab selbst hier zu viele Plätze und Orte, die mich an ihn und damit an uns erinnerten. Nach fünf Monaten war es meinem Vater schließlich doch gelungen, mich aus meinem Zimmer zu locken. Beständig wie ein Fels hatte er immer wieder gefragt. Jeden Tag aufs Neue und kein nein meinerseits hatte ihn entmutigt. Seine Beharrlichkeit zahlte sich an einem Tag im Januar aus. Der Schnee lag mittlerweile recht hoch, aber es war dieser wunderschöne, eisige und dennoch weiche Pulverschnee, den wir in Colorado so lieben. Die Sonne zeigte sich bei milden Minusgraden und verwandelte die zugedeckte Landschaft in ein funkelndes Wintermärchen.

      Bereits als kleines Mädchen hatte ich den Winter geliebt, der für mich nicht nur aus Weihnachten bestand. Sobald der Herbst langsam vorüberging, die Bäume ihr Blätterkleid verloren und den Tannen die Bühne überließen, begann meine Lieblingsjahreszeit. Wenn die Luft nicht nur klar, sondern kalt wurde, so dass der eigene Atem Wölkchen bildete. Wenn die Sterne an einem klaren, dunkelblauen Himmel heller strahlten und der erste Schnee in der Luft lag. Obwohl ich weder Ski noch Snowboard fahren konnte, liebte ich den Schnee. Vielleicht war deswegen schon immer Schneewittchen mein Lieblingsmärchen gewesen. Meine Mutter hatte mir die Geschichte als kleines Mädchen jeden Abend vor dem Schlafen gehen vorlesen müssen. Mit 8 hatte ich sogar versucht, mir die Haare schwarz zu färben, weil ich so traurig war, dass mein Haar nur dunkelbraun und nicht so schwarz wie Ebenholz war. Meine Mutter hatte beinah einen Herzinfarkt bekommen.

      An dem Tag, als es meinem Vater gelang mich zum ersten Spaziergang nach Simons Tod zu überreden, sprachen wir über jene Kindheitsanekdote.

      „Ich war unglaublich geschockt. Nur dein Vater blieb ganz gelassen.“

      Dad sah unschuldig zu uns.

      „Stimmt doch“, forderte meine Mutter ein, ihr zuzustimmen.

      „Du hast dich doch als Kind auch ständig verkleidet, Izzy, und bist mit den Kleidern deiner Großmutter durchs Haus gelaufen. Was kann ich dafür, dass unsere Tochter ganz nach dir kommt?“

      Unabsichtlich hatte er mich mit diesem Ausspruch zum Lachen gebracht. Das allererste Mal seit Simons Tod. Als ich abrupt innehielt, war es in der Küche so still, dass man eine Stecknadel fallen gehört hätte. Jeder von uns Dreien schien die Luft anzuhalten und meine Mutter hatte Tränen in den Augen. Nachdem ich das sah, drehte ich mich um, holte meine Jacke und fragte meinen Vater, ob er mit mir ein bisschen spazieren gehen wollte. Sein Lächeln war nicht überrascht, sondern erfreut. Größer als an Weihnachten beim Auspacken der obligatorischen Gartenhandschuhe und den selbstgestrickten dicken Socken für seine dazu passenden neuen Gummistiefel. Meine Mutter war zu pragmatisch, was Geschenke anging, um besonders romantisch zu sein. Doch genau dafür liebte mein Vater sie ja.

      „Edie? Alles gut, mein Mädchen?“

      Vaters Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich schüttelte mich kurz, um die Benommenheit der Erinnerungen abzuschütteln.

      „Ja“, ich lächelte ihn an. „Ich musste nur an unseren Winterspaziergang denken.“

      „Welchen?“, witzelte er.

      Wir waren seit diesem Tag beinah jeden Tag zusammen draußen gewesen. Und mittlerweile war es April. Ich hatte gespürt, wie das Laufen mir gut tat. Als könnte ich mir all die Sorgen, die Ängste und vor allem die Wut von der Seele laufen. Die Winterkälte hatte es unmöglich gemacht zu reden und ich genoss die Stille. Die Anstrengung meinen Körper an seine Grenzen zu führen und das Gefühl grenzenloser Freiheit, wenn ich über die verschneiten, unendlich wirkenden weißen Wiesen und Felder blickte. Sobald mir bewusst geworden war, wie gut das Laufen mir tat, war ich nahezu süchtig danach geworden. Da war es auch egal, dass längst kein Schnee mehr draußen lag, sondern überall der Frühling erwachte.

      „An keinen Bestimmten“, flunkerte ich, weil ich wusste, dass mein Vater ganz genau ahnte, welchen Spaziergang ich meinte.

      „Eden? Jack? Seid ihr da oben?“

      „Wo sollen wir sonst sein Schatz“, rief mein Vater und zwinkerte mir zu.

      Gemeinsam gingen wir nach unten, wo meine Mutter gerade in den Flur trat. Sie hatte die Hände voll mit einer Platte, auf der noch eine Schüssel stand. Und um ihren Arm trug sie einen aus Weidenholz geflochtenen Korb, der bis zum Rand gefüllt war. Meine Mutter besaß nicht nur so manche altmodische Ansicht, sie war auch was Dekoration und Materialien anging absolut naturversessen.

      Ich schüttelte nicht deshalb den Kopf, sondern weil ich wusste, was sich alles darin befand.

      „Meinst du nicht, du übertreibst ein bisschen, Mom?“

      Mein Vater schob sich an mir vorbei und nahm ihr die Platte und die Schüssel ab. „Stell den Korb ab, Liebes.“

      „Aber Eden braucht das alles.“

      „In Boulder gibt es Lebensmittel zu kaufen und ich kann sogar kochen, Mom.“

      Meine Mutter warf nicht mir, sondern meinem Vater einen bösen Blick zu. Gelassen wie immer überging er das einfach. Stattdessen nahm er den Korb auf, reichte meiner Mom die Platte und die Schüssel und sah sich dann zu mir um.

      „Hast du alles, Edie?“

      „Das Auto ist fertig beladen.“

      „Hast du auch noch mal im Bad nachgesehen? Meistens vergisst man doch was. Dein Vater hat das letzte Mal, als wir Tante Harriet besucht haben, seine Zahnbürste vergessen.“

      „Ich bin sicher, eine neue Zahnbürste zu kaufen, würde Eden nicht dazu bringen, wieder zurückzufahren. Obwohl du insgeheim darauf hoffst, dass sie zurückkommt.“

      Erneut erntete er einen bösen Blick, aber diesmal lächelte meine Mutter danach. Sie seufzte. „Na schön, du hast ja Recht.“

      Ich kam zu ihr und umarmte sie fest. Sie hatte mich gebeten, dass ich mich drinnen von ihr verabschiedete. Sie wollte allein sein, wenn sie anfing zu weinen. Während mein Vater vor zum Auto ging, nahm ich die Platte, auf der sich selbstgemachtes Brot befand und die Schüssel mit Vanillepudding. Das Brot bekam ich, weil meine Mutter von Bäckerbrot nichts hielt und wusste, dass ich keine Zeit und Lust hatte, selbst zu backen. Der Pudding war für die erste Nacht in meiner neuen Wohnung. Denn es war ihr eisernes Gesetz das mit sahnigem Vanillepudding jedes Problem zu bewältigen, zumindest aber auszuhalten war. Da ich ihren Pudding wirklich liebte, lächelte ich und gab ihr einen Kuss.

      „Danke Mom.“

      „Schon gut. Fahr vorsichtig. Und ruf an, sobald du da bist. Du weißt ja, dass ich sonst nicht schlafen kann.“

      „Und ich will auf keinen Fall, dass du mir die Polizei hinterher hetzt“, witzelte ich. Dann küsste ich sie nochmal. „Ich pass auf mich auf. Mach dir keine Sorgen.“

      Sie machte mir die Haustür auf und schloss sie direkt hinter mir. Vermutlich liefen die Tränen da bereits. Auch mein Herz wurde schwerer, als ich die Veranda hinunter ging und zu meinem Vater trat, der den Einkaufskorb schon auf den Beifahrersitz festgeschnallt hatte.

      „Schade, so kannst du mich gar nicht mitnehmen.“ Er lächelte mich an. „Da muss ich wohl bei deiner Mutter bleiben.“

      „Ja, so ein Pech.“

      Er seufzte und umarmte mich. Es war keine so lange Umarmung, aber er hielt mich fest, und ich fühlte mich sofort wieder wie das kleine Mädchen von früher. Wenn mein Vater mich umarmte, hatte ich immer geglaubt, dass mir nichts in der Welt etwas anhaben konnte. Das perfekte Gefühl von Sicherheit.

      Viel zu schnell gab er mich frei und klopfte auf das Autodach meines dunkelblauen Wagens.

      „Fahr vorsichtig, mein Mädchen. Und steck ja nicht den Kopf in den Sand. Gerade im Frühling gibt es so viel zu entdecken und zu sehen.“

      Ich nickte ergeben. „Ich verspreche hoch und heilig, mich nicht drinnen einzusperren.“

      „Sehr gut.“

      Er öffnete meine Autotür und ließ mich einsteigen. Die Jacke warf ich über den Korb,