Mila Brenner

Wolkenschwäne


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Selbstbewusster, weil ich mir selbst mehr zutraue und um ehrlich zu sein, bin ich irgendwie auch glücklicher. Vielleicht geht es Bill so, wenn er mit ihr zusammen ist. Was soll ich ihm da vorwerfen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Solange er für unseren Jungen da ist und für ihn zahlt, um ihn zu unterstützen, will ich mich nicht beklagen. Immerhin haben wir das mit Matt beide gut hinbekommen. Das ist nicht allein mein Verdienst.“

      „Das hast du schön gesagt.“

      „Ist ja die Wahrheit.“ Lila trank von ihrem Kaffee und auch ich schwieg einen Moment. Wie schon so oft fragte ich mich, ob sie ihre Kraft daher nahm, dass sie Mutter war.

      Ich fragte mich, ob ich mit Simons Tod anders umgegangen wäre, hätte ich ein Kind mit ihm gehabt. Vielleicht wäre ich stärker, als ich es jetzt war. Und wenn nicht? War es dann nicht besser so?

      Ich vertrieb den Gedanken. Natürlich war es besser so. Niemand sollte sich in meiner Situation wünschen, er hätte ein Kind. Als Kind ohne Mutter oder Vater aufzuwachsen, war das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Noch schrecklicher, als den Ehemann zu verlieren. Ich sollte froh sein, dass unsere Versuche ein Kind zu bekommen, nicht geklappt hatten.

      „Hast du keinen Hunger mehr?“

      Lila riss mich aus meinen trübseligen Gedanken und ich sah auf meinen halben Bagel. „Tut mir leid.“ Ich steckte ihn zurück in die Papiertüte. „Den Rest esse ich heute Mittag.“

      Als ich aufstand und nach dem Kaffee griff, sah sie mich fragend an.

      „Ich gehe schon mal vor.“

      Obwohl ich mittlerweile wieder gerne im Laden arbeitete, fiel mir der Kundenkontakt immer noch etwas schwer. Die meisten unserer Kunden kannten mich. Sephie und ich besaßen das Geschäft jetzt seit 5 Jahren und ich hatte schon zuvor für 4 Jahre hier gearbeitet, als die Buchhandlung noch Boulder Bookstore hieß und Mr. Jefferson gehört hatte. Ich dachte daran, wie wir uns kennengelernt hatten.

      Als ich fünfzehn war, war meine Großmutter gestorben und ich war schrecklich traurig gewesen. Immer öfter war ich statt zuhause im Boulder Bookstore. Mr. Jefferson hatte nichts dagegen, wenn ich mich mit einem Buch in einem der Erkerfenster im zweiten Stock verkrümelte und aufgrund abenteuerlicher, fantastischer Geschichten vor der Realität und meinem Kummer floh. Es mochte verrückt klingen, aber das half mir damals wirklich und dennoch blieb ich nach vielen Wochen immer noch, denn mittlerweile hatte ich den Laden und auch Mr. Jefferson liebgewonnen.

      Einen Sommer später machte ich mein erstes Praktika bei ihm. Wir nannten es so, weil ich darauf bestand, dass er mir nichts zahlte für meine Hilfe. Dafür verlangte ich, dass er mir alles zeigte, was er so machte, um eine Buchhandlung zu führen. Die gesamten Ferien über war ich kaum aus dem Geschäft zu bekommen. Damals hatten Sephie und ich den einzigen Streit in unserer Freundschaft, an den ich mich noch heute erinnerte. Es war ein heftiger und langwährender Streit gewesen. Statt mit ihr ins Freibad, oder auf Partys zu gehen, zu denen wir eingeladen worden waren, verbrachte ich meine Zeit lieber mit einem alten Mann und einem Haufen trockener, langweiliger Geschichten.

      Aber ich liebte nun mal Bücher und meine Reisen in fremde Welten, fremde Zeiten und manchmal mochte ich es auch, ein anderer Mensch zu sein. Das Gefühl zu haben, tausend Leben zu leben und immer wieder in ein neues Leben schlüpfen zu können. Wann immer ich wollte.

      Mr. Jefferson hatte meine Liebe zu Geschichten erkannt und mich verstanden. Das hatte zu einer wunderbaren Freundschaft geführt, die mich nach meinem Collegeabschluss wieder zu ihm zurückgebracht hatte. Er war gar nicht überrascht, als ich erklärte, für ihn arbeiten zu wollen. Zuerst half ich nur aus, später kümmerte ich mich zusätzlich um die Buchhaltung, was ihm nie Freude bereitet hatte. Und als er seine Krebsdiagnose bekam, übernahm ich immer mehr seiner Arbeiten, bis er dann so krank wurde, dass er gar nicht mehr in den Laden kommen konnte.

      Mr. Jefferson hätte mir die Buchhandlung gern geschenkt, ohne Geld dafür zu nehmen. Für ihn war ich die Enkeltochter, die er nie gehabt hatte, denn seine Frau war jung und kinderlos gestorben. Er hatte nie wieder geheiratet und war sehr einsam gewesen. Doch die Behandlungen waren teuer und brauchten all seine Ersparnisse auf. Schließlich offenbarte er mir einen Tag im Krankenhaus, als es ihm gut genug ging, um ein wenig länger mit mir zu reden, dass er die Buchhandlung verkaufen müsse. Ich bat ihn um etwas Zeit und landete so bei der Bank, um einen Kredit aufzunehmen. Den wollten sie mir geben, aber er hätte nicht gereicht. Also überredete ich Sephie und hatte Glück, dass meine Freundin ihren Bürojob in einer Werbefirma schrecklich fand. Denn all ihre Kolleginnen umschwänzelten ihren arroganten Chef, den sie nicht ausstehen konnte. Ihrem Aktionismus war es geschuldet, dass sie gleich Nägel mit Köpfen machte. Sie kündigte ihren Job, nahm ihr Erspartes und steuerte den Restbetrag bei, um Mr. Jefferson die Buchhandlung abzukaufen.

      Acht Wochen später starb er friedlich dank der Schmerzmittel, die man ihm täglich gab. Nach seinem Tod hatten wir der Buchhandlung den neuen Namen Paradise Bookstore gegeben.

      Für mich war es immer ein Paradies gewesen und daher fand ich den Namen perfekt. Wir hatten ein wenig umgestellt, doch die alten Regale und Lampen hatten wir übernommen. Unser Laden hatte zwar ein modernes Programm, aber in unserer Ausstattung waren wir antik, gemütlich und so geblieben, wie ich die Buchhandlung von früher kennen und lieben gelernt hatte.

      Unten im vorderen Bereich führten wir die Belletristik. Im Schaufenster präsentierten wir die jeweiligen Quartalhighlights oder themenorientierte Tipps. In der Mitte hatten wir einen Tisch mit den Bestsellern stehen, so dass diese schnell griffbereit waren. Außerdem gab es eine kleine Nische, in der man einen Geheimtipp fand, den ich aussuchte und jeden Monat wechselte. Im hinteren Bereich des Ladens standen die Sachbücher, Biografien, Bildbände und Schulbücher.

      Im zweiten Stockwerk gab es direkt über der Belletristik die Abteilung Kinder- und Jugendbücher. Auch dort hatten wir einen Tisch aufgestellt, auf dem wir unsere Favoriten präsentierten. Zudem gab es eine Ecke mit Mal- und Bastelbüchern und eine kleine Auswahl an Vorschulbücher. Im hinteren Bereich hatten wir dafür auf Bücher verzichtet und uns stattdessen für eine gemütliche Leseecke entschieden. Der Erker, der früher mein Stammplatz gewesen war, war nun mit hübschen und gut gepolsterten Sitzkissen geschmückt und lud zum Träumen ein. Außerdem gab es gemütliche Sessel, um in Büchern zu blättern oder zum Lesen herzukommen.

      Mittlerweile hielten wir dort auch Lesungen und Signierstunden ab und das war eine Neuerung, die Sephie arrangiert hatte. Der Buchhandel lief schleppend. Die Konkurrenz durch die digitalen Medien war immens. Wir mussten immer pfiffiger werden und uns auf die Büchersegmente konzentrieren, die gut liefen. Kinderbücher und Sachbücher zum Beispiel. Andere Bücher stachen heraus, wenn es Lesungen dazu gab, Signierstunden oder wenn es Bücher waren, die gerade durch TV-Serien, Kinoverfilmungen und Merchandise in den Köpfen der Kunden waren. Darauf stürzte sich Sephie dann wie ein Adler. Mit ihrem offenen Wesen war sie mittlerweile mit den meisten Pressemitarbeitern der Verlage und Agenturen per du und hatte auf diese Weise schon tolle Events für unseren Laden auf die Beine gestellt.

      Ich lächelte über mich selbst. Meine Gedanken waren abgeschweift. Etwas, was mir seit Simons Tod oft passierte. Durch den Verlust dachte ich wieder öfter an die Zeit mit Mr. Jefferson, den ich auch verloren hatte. Natürlich fiel es mir schwerer, Simons Tod zu verarbeiten und hinter mir zu lassen, als den von Mr. Jefferson. Und dennoch ...

      Es schmerzte auf die gleiche unfaire Art und schon damals hatte ich nicht gewusst, auf wen ich so wütend war und wie ich die Wut loswerden sollte. Ich war 25 gewesen und ständig traurig. Aber ich hatte mich mit meinem Schmerz in Bücher und lange Spaziergänge mit meinem Vater geflohen und ganz langsam war es besser geworden.

      Drei Monate später hatte ich Simon kennengelernt und noch im gleichen Jahr hatten wir geheiratet. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man uns nur vier Jahre Glück gönnen würde. Ich fragte mich, was ich verbrochen hatte, um das zu verdienen. Doch vermutlich fragten sich das alle Menschen, die so etwas durchmachten.

      Ich trank den letzten Schluck Kaffee, warf den Becher danach in den Papierkorb unter dem Tisch und widmete mich wieder der Recherche in den Verlagsvorschauen. Lila öffnete derweil den Laden und im Laufe des Vormittags kamen die ersten Kunden.