Mila Brenner

Wolkenschwäne


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war schön, zu sehen, wie meine Eltern sich nach so vielen Jahren einander immer noch mit liebevollen Neckereien bedachten. Bevor mein Herz schwer wurde und die Traurigkeit mich zu verschlucken drohte, wandte ich mich an meinen Vater.

      „Komm schon, Dad. Lass uns gehen. Sonst wird es zu spät und du weißt ja, wie Mom es hasst, wenn der Tee kalt wird.“

      Denn vier Uhr war ihre feste Teezeit und sie duldete es nicht, dass man früher damit anfing oder zu spät kam. Als ich noch zuhause gewohnt hatte, hatte ich um vier Uhr alles stehen und liegen lassen und im Wohnzimmer oder im Garten erscheinen müssen. Während des Tees unterhielten wir uns über den Tag und egal wie blöd ich es fand, an so einer kindischen Regel festzuhalten, war ich am Ende glücklich gewesen, dass meine Mutter keine Gnade kannte. Denn irgendwie war es doch immer schön, zusammenzukommen, zu reden und sich daran zu erinnern, dass es mehr gab als sich selbst. Gerade als Teenager war das eine merkwürdige Erfahrung gewesen und meine Mutter behauptete bis heute, dass sie meine Pubertät anders nie überstanden hätte. Statt mit Strafen und strengen Regeln hatte meine Mutter es geschafft, zu meiner Freundin zu werden, indem sie mich dazu brachte, sie nicht aus meinem Leben auszugrenzen. Sei es auch nur durch diese halbe Stunde am Tag, die ich ihr zuhören musste, oder die sie mich überredete, über die Dinge zu sprechen, über die ich sonst nicht reden wollte. Heute war ich ihr dankbar dafür, denn trotzdem ich viele Freundinnen hatte, konnte niemand meine Mom ersetzen. Ich liebte meine Eltern und sie würden für mich immer die wichtigsten Menschen auf der Welt sein.

      Genau deswegen antwortete ich meinem Vater ehrlich auf die Frage, ob es okay sei, dass ich meinen freien Sonntag mit ihnen verbrachte.

      „Das ist schon okay, Dad.“ Ich hakte mich bei ihm ein und gemeinsam liefen wir den schmalen Kiesweg bis zur Straße entlang. Die Sonne brannte hoch am Himmel und ich hatte mir einen von Moms Strohhüten geliehen, so dass ich keinen Sonnenstich bekam. Dad trug seinen Anglerhut und brachte mich auf eine Idee.

      „Warum hast du nicht deine Angelrute mitgenommen?“

      „Ach Edie. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr angeln.“

      „Wieso nicht?“

      „Die Zeit, Liebes. Ich wüsste nicht, wann ich das machen soll. Um ehrlich zu sein, hat deine Mutter dich nur eingeladen, damit ich mal nicht arbeite.“

      Obwohl in seiner Stimme die Heiterkeit lag, die ich von meinem Vater gewohnt war, hörte ich doch heraus, dass er die Wahrheit sagte.

      „Dad!“, schimpfte ich. „Du sollst dir doch wenigstens einen freien Tag in der Woche gönnen.“

      „Als Obst- und Gemüsebauer und Geschäftsbetreiber gibt es keine freien Tage.“ Er sah mich an. „Das war schon immer so und ich habe Glück. Ich liebe meine Arbeit. Würde im Leben nie was anderes machen wollen.“

      Ich seufzte, weil es keinen Sinn machte, mit ihm darüber zu streiten. Mein Vater liebte seine Arbeit und deswegen war es sinnlos ihm klarmachen zu wollen, dass er sich mit sechzig ruhig mal einen freien Tag in der Woche gönnen durfte. Zum Glück war er kerngesund und es gab keinen Grund, dass er kürzertreten musste. Meine Mutter sagte manchmal scherzhaft, wie traurig sie es fand, dass er so gesund war. Er handelte sich im ganzen Jahr vielleicht eine Erkältung ein. Und diese eine Woche Bettruhe trieb meine Mutter eher in den Wahnsinn, als dass sie sie genießen konnte. Denn es gab nur eines was schlimmer war, als ein kranker Mann. Einer, der es nicht gewohnt war krank zu sein, und Bettruhe auf den Tod nicht ausstehen konnte. Manchmal hätte Mom ihn sicher gerne ans Bett gefesselt. Insofern waren es wirklich nur Scherze, wenn sie sich wünschte, Dad würde häufiger krank sein, um frei zu machen.

      „Wie geht es denn Mom?“, fragte ich meinen Dad und kehrte damit zurück in die Gegenwart. Meine Mutter hatte Anfang des Jahres anfängliche Osteoporose und Rheuma diagnostiziert bekommen. Ihr taten jetzt häufiger die Knochen weh. Gerade bei Wetterumschwüngen war es schlimm und immer öfter hatte sie am Abend dann angeschwollene Füße und kam in keine Schuhe mehr.

      „Der Sommer tut ihr gut. Sie klagt nicht so oft über steife Finger, wie im Winter und sie kann barfuß laufen, was es ihr unheimlich leicht macht, zu verbergen, ob sie wieder Elefantenfüße hat.“

      „Dad!“, ermahnte ich ihn und musste dennoch lächeln. Ich wusste ja, dass er es liebevoll meinte. „Ruht sie sich ab und an aus?“

      „Na du kennst sie doch. Ich versuche mein Bestes. Manchmal kann ich sie zu Handarbeiten überreden. Oder ich gebe ihr den Auftrag, für den Laden ein bisschen neue Dekoration zu basteln. Dann hat sie eine sinnvolle Aufgabe und setzt sich auch mal hin. Aber die meiste Zeit ist sie genau so lang auf den Beinen und klettert mit mir auf Leitern herum, wie ich.“ Er lächelte. „Ohne sie würde ich es nicht schaffen, Edie. Sie weiß das. Macht also keinen Sinn ihr was anderes vormachen zu wollen. 36 Jahre sind eine lange Zeit.“

      36 Jahre kannten sich meine Eltern. Das war so eine verdammt lange Zeit. „Ihr habt bald 35-jährigen Hochzeitstag. Macht ihr was Besonderes?“

      „Wir haben nie was Besonderes gemacht, warum sollten wir das dieses Jahr ändern?“

      „Weil du nicht weißt, wie viele Gelegenheiten du noch bekommst. Niemand weiß, wie viele Jahre er hat. Ihr solltet etwas Schönes machen.“

      Mein Vater schwieg, aber ich spürte deutlich, wie er mich nach meinen Worten ansah. Trotzdem blickte ich stur auf den Weg. Wir verließen gerade den Gehweg, um in den Wald einzubiegen. Die Bäume spendeten hier Schatten und es war dadurch ein wenig kühler.

      „Hier lässt es sich gleich viel besser aushalten“, lenkte ich ab. Als mein Vater immer noch nichts sagte, sah ich ihn schließlich an. „Sag schon, was du sagen willst, Dad.“

      Er blieb stehen. „Ich möchte nichts sagen, Edie. Glaub mir, ich wollte keines dieser Gespräche führen. Welcher Vater will seiner wundervollen Tochter Tipps geben, wie sie über den Tod ihres Ehemanns hinwegkommt? Abgesehen davon habe ich keine Erfahrung damit. Wie gut können meine Ratschläge da schon sein?“

      „Deine Ratschläge sind immer gut. Du gibst sie mir nur viel zu selten.“

      Er lachte und eine Weile gingen wir schweigend weiter. Schließlich räusperte er sich.

      „Was würdest du denn vorschlagen? Was würde deiner Mutter gefallen?“

      Ich überlegte einen Moment. Das war gar nicht so einfach. Meine Mutter hatte sich meinem Vater so sehr angepasst, dass sie ihr ganzes Leben nach ihm ausgerichtet hatte. So wie sie früher ihr Leben nach mir ausgerichtet hatte. Ich war ihr Mittelpunkt gewesen. Ihre Aufgabe.

      „Ganz schön schwer, deine Mutter zu ergründen, was?“

      „Wenn es dir nach 36 Jahren nicht gelingt, frage ich mich, wie du von mir Hilfe erwarten kannst.“ Ich schmunzelte und suchte nach einer Eingebung. Wenn ich meinem Vater vorschlug, etwas Besonderes zum Hochzeitstag zu machen, durfte ich ihn jetzt nicht im Stich lassen. Irgendwas musste mir doch einfallen, womit er sie überraschen und ihr gleichzeitig eine große Freude machen konnte.

      „Na schön. Mom liebt die ausgefallene, gute Küche. Sie braucht ein wenig Erholung, was euch beiden gut täte. Wie wäre es mit einem Wochenende in einem schönen Wellnesshotel?“

      „Wellnesshotel? Aber nicht so was Glamouröses, Liebes. Wir sind keine feinen Leute. Deine Mutter mag es nicht einmal, sich übermäßig herauszuputzen.“

      „Weiß ich ja, Dad. Ich gucke mich im Internet mal um und bestimmt finde ich was Passendes. Lass mich nur machen. Die Hauptsache ist doch, ihr kommt mal raus. Habt mal ein bisschen Zeit nur für euch zusammen, ohne dass ihr dabei an den Laden denkt.“

      „Stimmt schon, Edie.“

      Mein Vater lenkte das Gespräch geschickt weg von dem Thema und ich war ihm nicht mal böse. Auch mein Hochzeitstag näherte sich. Simon und ich hatten am ersten September geheiratet. Vier Jahre war das her. Während es mir so vorkam, als habe er erst gestern noch mit mir zusammen gefrühstückt, lagen die Erinnerungen an diesen Tag, an dem wir uns das Ja-Wort gegeben hatten, tatsächlich weit zurück. Vielleicht hatte ich sie im Unterbewusstsein verdrängt,