Mila Brenner

Wolkenschwäne


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eine sehr witzige Rede gehalten hatte. Sie war meine Trauzeugin gewesen. Doch selbst an ihre Worte konnte ich mich nicht mehr erinnern.

      „Warum erinnern wir uns eigentlich viel besser an die schlimmen Dinge im Leben? Wieso ist das so, Dad?“

      „Ach Liebes.“ Er legte seinen Arm um mich, ging aber weiter. „Ich schätze das liegt einfach daran, dass wir Menschen uns viel zu oft an Erinnerungen hängen.“

      Als er daraufhin schwieg, knuffte ich ihn in die Seite. „Wie meinst du das? Erklär mir das genauer. Denn ich begreife das Prinzip nicht.“

      „Ich bin nicht so gut mit Worten, Edie.“

      „Doch bist du. Du weißt, dass du es bist. Du ziehst es vor zu schweigen, statt viel zu reden. Aber wenn du willst, kannst du ganz wunderbar mit Worten umgehen.“

      Meine romantische Ader, mein Hang zu träumen und meine Liebe zum Lesen, all das hatte ich jedenfalls von ihm. Und nicht von meiner Mom, die im Leben immer allen praktischen Dingen den Vorzug gab, und nur auf ihre pragmatische Stimme hörte.

      „Komm schon Dad. Für mich“, flehte ich und diesmal tat ich es bewusst. Ich wusste ja, dass er meinem Flehen nicht widerstehen konnte. Eine Tatsache, die ich nur im Notfall gegen ihn verwendete. Aber das gerade war so ein Moment, der das Mittel rechtfertigte. Ich musste einfach wissen, wie er das gemeint hatte. Es beschäftigte mich bereits eine ganze Weile, dass ich mich so detailliert an den Tag erinnerte, als die Polizei mich über Simons Unfall informiert hatte. Auch den Tag seiner Beisetzung konnte ich mir ganz genau in Erinnerung rufen. Ich wusste sogar, welcher Psalm gesprochen worden war und was für Blumen auf seinem Sarg gelegen hatten. An all das erinnerte ich mich viel zu klar und deutlich, während unsere Hochzeit oder der Tag, an dem wir uns das erste Mal begegneten, immer mehr verblassten.

      „Na schön“, seufzte mein Vater und ich sah zu ihm auf, froh, dass er seinen Arm nicht von meiner Schulter nahm. „Ich finde einfach, dass wir uns zu sehr an Erinnerungen hängen, statt das Glück, was wir so krampfhaft festzuhalten versuchen, jeden Tag aufs Neue da draußen zu suchen.“

      Er sah mir nun in die Augen und hielt meinen Blick. „Das Schlimme begleitet uns, weil es unsere Angst widerspiegelt. Es sind oft Erinnerungen von denen wir hoffen, wir hätten sie nie erlebt. Wenn wir traurig sind, wenn wir Angst haben oder es uns schlecht geht, kommen sie in uns hoch. Die Angst beschwört sie herauf. Aber das Glück lässt sich nicht so leicht heraufbeschwören, nur weil wir in dem Moment nach etwas suchen, um die Angst zu vertreiben. Du musst erkennen, dass das Glück ebenfalls dein täglicher Begleiter ist. Alles was du machen musst, ist die Augen öffnen und danach suchen, Edie. Simons Tod war ein schrecklicher Schicksalsschlag und glaube mir, ich habe mehr als einmal mit dem Leben gehadert, dass es so grausam zu euch beiden sein musste. Aber diese Dinge liegen nicht in unserer Macht. Doch nur weil das Leben einmal grausam zu dir war, heißt es nicht, dass es nicht dennoch wunderschöne Wege für dich bereithält. Du kannst wieder genauso glücklich sein, wie vor Simons Tod, wenn du nur danach suchst und dem Glück die Möglichkeit gibst, dich zu finden.“

      „Das ...“ Mir fehlten die Worte und ich merkte erst, dass ich weinte, als mein Vater stehen blieb und mir aus seiner Hosentasche ein Stofftaschentuch reichte. Allein der Anblick brachte mich zu einem kleinen Lächeln. Mom änderte sich nie. Sie hielt Taschentücher zum Wegwerfen für unnötigen Müll und weigerte sich diesen neumodernen Unsinn mitzumachen. Sie sah keinen Grund, der gegen die Verwendung von Stofftaschentüchern sprach. Immerhin gab es den Luxus von Waschmaschinen und Trocknern.

      Als ich meine Tränen getrocknet und mir die Nase geputzt hatte, lächelte ich meinen Vater dankbar an. „Du hättest auch Therapeut werden können, weißt du das?“

      „Nein hätte ich nicht.“ Mein Vater grunzte. Ich konnte nicht sagen, ob es ein Lachen war oder Ärger, der sich dahinter verbarg. Vermutlich war er beschämt. Er hatte die witzige Angewohnheit seltsam mit Situationen umzugehen, die ihn verlegen machten.

      „Warum denn nicht?“, hakte ich nach.

      „Weil ich es hasse, mir die Probleme der Leute anzuhören.“

      „Aber meine Probleme hast du dir angehört?“

      „Das ist etwas anderes. Du bist meine Tochter.“ Er lächelte mich an. „Du darfst mir immer alles sagen. Deinen Ärger und deine Wut an mir auslassen, mir deinen Kummer geben. Liebes, wenn ich könnte, würde ich dir gern den Schmerz abnehmen. Doch leider habe auch ich Grenzen, denen ich mich beugen muss. Wünsche hin oder her.“

      „Ich liebe dich Dad. Dich und Mom.“

      Er zog mich in eine feste Umarmung und danach gingen wir weiter. Schweigend und so nah beieinander, dass es sich anfühlte, als könnte kein schlechter Gedanke, kein Schatten von Kummer an der warmen und starken Präsenz meines Vaters vorbeigelangen.

      „Zumindest mit einer Sache hatte ich recht“, durchbrach ich die Stille, als wir den schmalen Weg hinunter zum See gingen. Wir mussten uns dafür trennen und hintereinandergehen.

      „Womit Liebes?“, fragte mein Vater über die Schulter.

      „Das in dir ein richtig einfühlsamer und weiser Poet steckt.“

      Er lachte laut und heiter und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Einfühlsam vielleicht. Du weißt doch, ich bin in Wahrheit nur ein großer, kuscheliger Teddybär. Aber weise bin ich kein bisschen. Sonst wäre mir längst selbst eingefallen, wie ich Isabel dazu bekomme, sich mehr zu schonen. Oder wie ich meine Angst vor Fremden verliere, so dass deine Mutter nicht nur für mich mitarbeiten muss, sondern auch die Chance erhält, ihre eigenen Wünsche zu verwirklichen. Wäre ich ein Poet, würde ich statt Marmeladen zu kreieren, Bücher schreiben.“

      „Das wäre ziemlich interessant, wenn ich die Bücher meines eigenen Vaters verkaufen würde, oder was findest du?“

      Mein Dad lachte wieder. „Nein, nein. Die hohe Kunst der Poesie und des Bücher Schreibens überlasse ich anderen Menschen. Ich will meinen Laden für nichts auf der Welt eintauschen. Ich bin sehr glücklich mit meiner Arbeit und meinem Leben. Genau so, wie es ist.“

      In seinen Augen stand deutlich, wie wahr seine Worte waren. Er strahlte regelrecht und ich dachte wehmütig, dass ich mir genau das auch für mein eigenes Leben wünschte. Das Gefühl glücklich zu sein, und mein Leben gegen kein anderes eintauschen zu wollen.

      Natürlich war ich mit meiner Arbeit und meiner Buchhandlung zufrieden. Da ging es mir wie meinem Vater. Für nichts auf der Welt würde ich meinen Job gegen einen anderen eintauschen wollen. Es war ohnehin der perfekte Beruf für mich, das hatte ich schließlich schon sehr früh gewusst, obwohl Simon das nie richtig verstanden hatte. Er hatte immer nur die harte Arbeit gesehen. Das Schleppen von zu schweren Bücherkisten, die Stunden, die ich stehen musste und die viele Zeit, die ich mit dem Lesen von Büchern verbrachte. Er hatte mein Klagen über Rückenschmerzen, nach einer harten Woche, missverstanden und mir so manches Mal erklärt, dass ich als Geschäftsführerin einfach eine Buchhändlerin einstellen und mich selbst um andere Dinge kümmern konnte. Dinge, bei denen ich keine Rückenschmerzen bekam und nicht jeden zweiten Samstag arbeiten musste. Aber das war auch so ziemlich der einzige Punkt bei dem wir uns nicht einig gewesen waren. Und ich hatte dennoch das Glück gehabt, dass er nicht versucht hatte, mich zu ändern, nur weil er die Liebe zu meinem Beruf nicht verstand.

      Es war nicht das, was mir Kummer bereitete. Was mir fehlte war ein Mensch, der sein Leben mit mir teilte. Einen Mann, der mich liebte und den ich liebte. Die Einsamkeit war erdrückend. Die Leere in der Wohnung beunruhigend und die Tatsache, dass ich mich weder bereit für einen neuen Mann fühlte, noch wusste wo und wie ich jemanden kennenlernen sollte, machte das Ganze nicht einfacher für mich. Ich hatte Angst, alleine zu bleiben, gefangen in einer Vergangenheit, die für immer verloren war. Hatte ich all meine Wünsche von Familie begraben, als ich Simon verloren hatte? War das so, wenn man einmal liebte und der gemeinsame Weg dann vom Schicksal getrennt wurde? Gab es keine zweite Chance?

      Ich wollte es meinem Vater nicht eingestehen, weil ich ahnte, welche Sorgen er sich sonst machte, aber manchmal kam es mir so vor. Selbst nach seinen lieben Worten fühlte es sich so an, als gäbe es für mich keine zweite