Ursula Tintelnot

Tatjana - Stadt am Strom


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Kerl, dass sie die Chefin war? Schöne melodische Stimme, fast ein Bass. Ein Bass? Wo hatte sie diese Stimme bloß gehört, in letzter Zeit?

      Sie entledigte sich ihrer nassen Sachen, zog Jeans und ein T-Shirt an und stieg, nachdem sie ihre Haare zu einem dicken Zopf geflochten hatte, hinunter. Dort erwartete sie Alexander Lenski. Er stand ungeheuer lässig und ungeheuer gut aussehend am Fuß der Treppe und sah ihr entgegen.

      »Pflegen Sie alle Ihre Kunden umzurennen?«

      Tatjana musste lachen.

      »Nein«, sagte sie, »nur die, die im Wege stehen.«

      Er musterte sie. »Sie sind sehr jung und sehr …« Er unterbrach sich. »Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich sehe mal nach Ihnen.«

      »Möchten Sie einen Kaffee?«

      »Gerne.«

      Im Büro sah es nach der durchwachten Nacht chaotisch aus. Tatjana warf die Kaffeemaschine an, gleichzeitig griff sie nach den leeren Behältern, die einen intensiven Geruch nach chinesischem Essen abgaben. Die Bierflaschen und ein paar Gläser räumte sie in die winzige Spüle. Sie war sich sehr bewusst, dass Lenski hinter ihr stand und sie beobachtete.

      »Tut mir leid«, sagte sie, »aber sonst ist es … hier sieht es eigentlich immer so aus.« Sie lächelte.

      Hoffentlich schloss er nicht von der Unordnung in diesem kleinen Büro auf die Qualität ihrer Arbeit. Sie öffnete die Tür zu ihrem Hinterhof, um frische Luft in den Raum zu lassen. Wie der Blitz schoss der Rote an ihr vorbei. Ohne sich umzusehen bat sie: »Setzen Sie sich doch bitte.«

      »Wohin damit?« Alexander Lenski stand mit einem Stapel Bücher vor der einzigen Sitzgelegenheit, außer dem Schreibtischstuhl. Fritzi streckte den Kopf durch die Tür.

      »Ich nehme Ihnen das ab.« Sie verschwand mit den Büchern und er ließ sich auf dem Hocker nieder.

      »Schön haben Sie es hier.«

      Tatjana sah ihn ungläubig an und brach in schallendes Gelächter aus. Lenski konnte noch einen Moment an sich halten. Dann war es auch mit seiner Beherrschung vorbei. Er kannte keine Frau, die so ungehemmt lachen konnte.

      »Wann fangen Sie bei mir an?«

      Er hatte sie überrascht mit dieser Frage. Sie war überrumpelt. Und als er ging, hatte sie ihm versprochen, sich morgen zu melden. Hoffentlich konnte sie endlich Professor Jones erreichen. Das was Ruth ihr hatte sagen können, war nicht gerade erhellend gewesen.

      Noch einmal ging sie in Gedanken durch, was sie von Simone Muller erfahren hatte. Offenbar hatten es die Einbrecher gezielt auf die Musikalien abgesehen. Ihr fiel auf, dass Simone nicht davon gesprochen hatte, dass irgendetwas abhanden gekommen war, dass sie auf keine ihrer diesbezüglichen Fragen geantwortet hatte.

      Sie fragte sich, ob sie die Polizei überhaupt eingeschaltet hätte, wenn nicht ein Nachtwächter angeschossen worden wäre. Tatjana kam zu dem Schluss, dass Simone Muller die ganze Geschichte lieber nicht an die Öffentlichkeit gebracht hätte, was ihr ohne den angeschossenen Nachtwächter zweifellos gelungen wäre. Aber warum?

      Ich will diese Briefe, hatte sie ins Telefon gebrüllt. Welche Briefe? Es würde doch wohl kaum um dieses alte Gerücht gehen? Oder doch?

      Simone Muller war damals schon im Geschäft. Während sie selbst gerade am Beginn ihrer Ausbildung stand. Sie hatte nie etwas davon gehört, Simone hingegen musste zu der Zeit schon die rechte Hand des alten Muller gewesen sein und hatte mit Sicherheit von den mysteriösen Briefen gehört. Tatjana schätzte sie auf Anfang vierzig. Adam wo bist du? Ich brauche dich.

      ~~~

      Monika hatte Max abgeholt. Sie würde ihn um achtzehn Uhr zurückbringen. Auch gestern Abend hatte Tatjana ihren alten Lehrer nicht erreicht. Er würde hoffentlich ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter abhören und zurückrufen. Heute musste sie sich entscheiden, ob sie für Lenski arbeiten wollte.

      Sie fuhr den Laptop hoch, sah nach den Mails, löschte die meisten und entdeckte eine von Freak. Die kryptische Nachricht: >Schreibe heute Briefe. Kann leider nicht kommen< entrang ihr ein Lächeln. Er war wie ein Terrier. Wenn er sich in etwas verbissen hatte, ließ er nicht mehr los. Und da sein Equipment zu Hause wesentlich besser war als ihres, würde er von dort aus den Hacker suchen.

      Freak konnte sich jederzeit in Tatjanas Laptop einklinken, nach Fehlern suchen und sie beheben. Sie vertraute ihm vollkommen, er kannte jedes Password, konnte auch auf ihr Konto zugreifen. Vielleicht konnte der unbekannte Besucher in ihrem Netz das inzwischen auch?

      Sie stürzte zur Treppe. »Fritzi, ich bin gleich wieder da.«

      »Fall nicht«, rief Fritzi lachend hinter ihr her, als sie sah, mit welcher Eile Tatjana in ihrer Wohnung verschwand. Sie riss den Hörer von der Station.

      »Freak, kann der Hacker auch in meine Bank?«

      »Ne, kann er nicht, jedenfalls jetzt nicht mehr. Aber das wollte er wohl auch nicht. Soweit ich das verfolgen konnte. Bis jetzt ist er an deinen Mails, deinen Einkäufen und deinen Suchaktionen interessiert.« Erleichtert legte sie auf.

      »Was ist passiert?« Fritzi sah Tatjana neugierig entgegen.

      »Freak hat einen ungebeten Besucher bei uns im Netz entdeckt.« Sie seufzte. »Deshalb traue ich mich nicht mehr, über das Netz zu kommunizieren.

      »Schiet, so eine Scheiße.«

      Tatjana lachte, Fritzi drückte sich gerne klar aus.

      »Aber telefonieren kannst du mit deinem Handy, das hat nix mit dem Internet zu tun.«

      »Sicher?«

      »Ja, klar«, sagte Fritzi und wandte sich einem Kunden zu, der in diesem Moment den Laden betrat.

      Prosper Leland war Künstler, machte Skulpturen aus Eisen, rostige Figuren, die alle so aussahen wie er. Dünn, leicht gebeugt, mit wirrem Haarschopf, der ungebändigt nach allen Seiten von seinem zu großen Kopf zu flüchten schien.

      Prosper war hochgebildet, sehr amüsant und ziemlich erfolglos. Sein Atelier, ein alter Schuppen im Hinterhof von 'tapferes Gold' war gleichzeitig Arbeitsraum und Wohnung. Tatjana würde wetten, dass das nicht erlaubt war. Aber niemand in der Gegend störte sich daran.

      Die Feste, die er von Zeit zu Zeit veranstaltete, waren legendär. Und Hendrik Hendriksen, der von allen nur Udel genannt wurde, feierte kräftig mit. Wenn der Polizist Dienst hatte, trank er nur ein Bier. Wenn Udel frei hatte, kam er mit seiner Frau und nahm gerne ein-zwei Köm.

      »Guten Abend, meine Schönen.« Prosper machte eine tiefe Verbeugung. »Nächstes Wochenende möchte ich mit euch feiern.«

      »Ah, und was gibt es zu feiern?«

      »Ich habe eine meiner Figuren verkauft.«

      »Wahnsinn.« Fritzi umarmte den stolzen Künstler und küsste ihn auf beide Wangen.

      »Glückwunsch.« Tatjana freute sich aufrichtig.

      »Und jetzt, meine Damen, möchte ich endlich den Kunstband, den ihr mir zurückgelegt habt, käuflich erwerben.«

      Tatjana grinste bei dieser Ansage. Sie hatte ihm oft Bücher überlassen, fast zum Einkaufspreis. Ihr Blick fiel auf einen rostigen, sechzig Zentimeter hohen Tänzer im Hof, den Prosper Leland ihr als Bezahlung für eine uralte Dünndruckausgabe von Don Quijote überlassen hatte. Wenn er eines Tages berühmt würde, hätte sie ein gutes Geschäft gemacht. Das leise Ping ihres Tablets sagte ihr, dass eine Eilnachricht der Tagesschau eingegangen war.

      Misstrauisch sah sie auf das Display: Irak, die Kämpfe gehen weiter … Schwerfällig ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken und stützte den Kopf in beide Hände. Das fröhliche Geplänkel zwischen Prosper und Fritzi hörte sie nicht mehr. Sie sah Bilder von zerstörten Lastwagen, sah Tote und Verletzte zwischen rauchenden Trümmern. Bist du dort, Jake?

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