Ursula Tintelnot

Tatjana - Stadt am Strom


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Lenski war aber nicht zu finden, er blieb ein Phantom. Eigentlich kannte sie die meisten Sammler, und diese Bibliothek hätte ihr eigentlich nicht entgehen dürfen. Sie machte sich eine Notiz. > Jones anrufen < Vielleicht konnte ihr alter Lehrer ihr weiterhelfen.

      Als sie aus dem Büro kam, sah sie Hermi über der Tür auf einer Leiter schweben. »Hallo, Tanja«, schrie er von oben.

      »Hallo, Hermi«, schrie sie ebenso laut zurück.

      Hermi war schwerhörig und weigerte sich, ein Hörgerät zu tragen.

      »Ich bin gleich fertig«, brüllte er, »ist nur eine Kleinigkeit.«

      Tatjana ging ins Büro, um frischen Kaffee zu machen. Erfahrungsgemäß würde Hermi die Glocke umsonst reparieren, aber ein Tasse Kaffee mit ihr und Fritzi und den dazugehörigen Plausch nicht ausschlagen.

      Die Nachrichten, die Hermi zum Besten gab, waren beunruhigend.

      »Gestern gegen acht Uhr habe ich zwei Kerle gesehen, die sich vor deinem Schaufenster herumgedrückt haben.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Dann, als Herbert rüberging, sind sie ziemlich schnell verschwunden.«

      »Das hat mir Herbert gar nicht gesagt.«

      »Er wollte dich sicher nicht beunruhigen«, vermutete Fritzi. »Oder er hat sie nicht gesehen, es war ja stockdunkel in der Straße.«

      In dieser schmalen Straße, mitten in der Altstadt, war die Nachbarschaft noch in Ordnung. Jeder kannte Jeden. Sie war nicht besonders ängstlich.

      2

      Endlich war Max eingeschlafen. Tatjana hatte es sich zusammen mit den fettigen Auberginen-Küchlein vom Türken und einem Salat auf dem Sofa gemütlich gemacht. Sie sah die Tagesschau. In Afghanistan war wieder ein Lastwagen hochgegangen, wieder waren Menschen gestorben, wie es hieß, auch ein ausländischer Journalist. Sie stellte den Teller zur Seite. Ihr schmeckte es nicht mehr.

      Jake, wo bist du? War er überhaupt dort? Sie stand auf und sah nach Max, der mit roten Bäckchen selig schlief. Wie gut, dass du noch nichts verstehst vom Krieg, noch nicht um deinen Papa bangst.

      Als es klingelte, schrak sie zusammen. Sie zog die Tür zum Schafzimmer leise hinter sich zu und schaltete die Gegensprechanlage im Flur ein.

      »Adam mit einer Flasche Wein.« Er hielt die Flasche in die Kamera über der Tür. »Mach auf, Mädchen.« Adam hatte, nach dem Tod ihres Vaters, auf dieser Sicherheitsmaßnahme bestanden.

      Sie drückte auf den Türöffner, gleich darauf stapfte er die Stufen nach oben.

      »Hübsches Nachthemd«, brummte er, als sie die Arme um seinen Hals schlang. Er schob sie von sich weg und feixte.

      Sie hatte die Ärmel einer eindeutig männlichen Schlafanzugjacke, die ihr bis über die Knie ging, mehrfach umgekrempelt. Ihre Füße steckten in Ringelsocken aus dicker Wolle.

      Sie stellte zwei Gläser auf den Tisch und legte einen Korkenzieher daneben. Mit untergeschlagenen Beinen setzte Tatjana sich in eine Sofaecke. Adam beobachtete sie, während er die Flasche öffnete. Sie machte sich Sorgen, er konnte es in ihrem Gesicht lesen. Er sah die Siebenjährige vor sich, die unglücklich unter den Olivenbäumen nach dem dritten Welpen suchte, der plötzlich verschwunden war. Mehr als zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Aus dem niedlichen Mädchen war eine schöne Frau geworden.

      Sie hatte, genau wie er, die Nachrichten gesehen.

      »Hier.« Er reichte ihr ein Glas.

      »Danke, Adam, dass du gekommen bist.«

      Sie waren sich so vertraut, dass es keiner Erklärungen oder Fragen bedurfte, warum er gekommen war. Eine Weile tranken sie schweigend.

      »Von Jake hast du nichts gehört?«

      Tatjana schüttelte den Kopf. »Seit acht Wochen nicht. Ich weiß nie, wo er sich aufhält, dieser verflixte Idiot.« Sie seufzte. »Er kann in Israel sein oder im Irak oder in …«

      »Komm her.«

      Wie damals, als kleines Mädchen mit einem aufgeschlagenen Knie, kam sie jetzt und ließ sich von ihm in die Arme nehmen.

      Ich liebe dich, mein Mädchen, dachte er, und hielt sie fest. Er würde es ihr niemals sagen. Sie sah in ihm den großen Bruder und so musste es auch bleiben.

      Ihre Atemzüge wurden regelmäßig. Tatjana war in seinen Armen eingeschlafen. Adam kannte Jake gut. Der Ire war ein Draufgänger, einer, der sich von einer Gefahr in die andere stürzte, und so charmant, dass ihm die Frauen zu Füßen lagen.

      Musstest du dich ausgerechnet in Tatjana verlieben, mein Freund? Ja, das musste er wohl. Er konnte es ihm nicht übel nehmen. Sie war so lebendig und klug, besaß Humor und sie war verdammt sexy. Er hatte immer gezögert, ihr seine Liebe zu gestehen. Er hatte sich gescheut, ihr einen Mann mit so unsteten Lebensgewohnheiten wie den seinen zuzumuten. Auf der Suche nach verschwundenen Manuskripten und Kunstgegenständen führte sein Beruf ihn oft ins Ausland. Und ungefährlich war diese Suche auch nicht. Jake schien solche Skrupel nicht zu haben.

      Es roch nach Kaffee, als Tatjana erwachte.

      »Max?«

      Ihr Sohn saß vollständig angezogen in seinem Kinderstuhl und saugte an seiner Milchflasche. Er verzog seine Lippen zu seinem süßen Lächeln, als er sie sah, hörte aber nicht auf zu trinken.

      Adam stellte einen Korb mit frischem Gebäck auf den Tisch. »Gut geschlafen?«

      »Sehr gut«, sie streckte sich, »ich kann mich nicht erinnern, wie ich in mein Bett gekommen bin.«

      »Ich habe mir erlaubt, dich hineinzulegen, nachdem du nach übermäßigem Alkoholgenuss eingeschlafen warst.«

      Sie lachte. »Du hast mich betrunken gemacht?«

      »Soweit ich gesehen habe, hast du das selbst bewerkstelligt.« Adam reichte ihr eine Tasse Kaffee. »Dein Sofa ist ein bisschen zu kurz für mich.« Er verzog sein Gesicht und rieb sich den Rücken. »Ich war froh, dass Maximilian mich geweckt hat. Schönen Gruß von Helen.«

      »Danke. Ich möchte nicht wissen, was sie jetzt denkt.«

      »Ich auch nicht. Mein Ruf ist vermutlich dahin.« Tatjana verschluckte sich beinahe, und lachte ihr überwältigendes Lachen.

      ~~~

      Tatjana ließ sich Zeit mit ihrer Entscheidung. Sie hatte Professor Jones noch nicht erreicht. Er würde erst in vierzehn Tagen wieder zurück im Museum sein. Wo er sich aufhielt, hatte man ihr nicht gesagt und sie hatte nicht gefragt. Alexander Lenski war mit einer längeren Bedenkzeit einverstanden. Den Grund für diese Bitte nannte sie ihm nicht.

      Sie saß an ihrem Schreibtisch im Büro und dachte nach. Adam hatte gezögert mit der Antwort auf ihre Frage am Telefon.

      »Kennst du eine Sammlung Borodin?«

      »Ich meine mich zu erinnern.« Er überlegte. »Vor Jahren muss es einige Aufregung in der Branche gegeben haben. Damals, meine ich, sei auch der Name Borodin gefallen. Soweit ich weiß, ging es um angeblich wieder aufgetauchte Tschaikowsky-Briefe, aber es war nur ein Gerücht. Vielleicht wurden auch Briefe gesucht, so genau weiß ich das nicht mehr.«

      Schon wieder dieser Komponist. Sie fragte: »Das ist Jahre her? «

      Er nickte in sein leeres Büro hinein. Ruth war noch nicht da. Seit er sich von Clara getrennt hatte, schlief er im Hinterzimmer seines Detektivbüros.

      Ich muss mir endlich eine richtige Wohnung suchen.

      »Bist du noch da?«

      »Entschuldige, ja, ich habe überlegt. Mindestens zehn Jahre.«

      »Ich konnte im Netz nichts finden«, drängte Tatjana.

      Es war möglich, dass die Meldung nie die Öffentlichkeit erreicht hatte. Um Nachforschungen nicht zu gefährden oder um zu vermeiden, dass sich Betrüger, die Geld witterten, einmischten. Wenn die Branche schwieg, konnte nichts nach außen