Ursula Tintelnot

Tatjana - Stadt am Strom


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der Küche auf der Fensterbank. So wie heute.

      Sie setzte Max in sein Kinderstühlchen und machte ihm ein Butterbrot, das sie in winzige Stücke schnitt. Nach dem Essen ließ sie sich in einen Sessel sinken und gab ihm sein Fläschchen. Ein Ritual, das sie beide liebten. Eine knappe Stunde später saßen Mutter und Sohn in der Badewanne und plantschten im warmen Wasser. Nach einer weiteren Stunde schlief Max in seinem Bettchen, während Tatjana, eingewickelt in ihren Bademantel, auf dem Sofa lag und sich »Eugen Onegin«, eine Oper von Tschaikowsky, ansah.

      Sie liebte diese Musik und die Geschichte rührte sie immer wieder tief: Ein junges Mädchen, Tatjana, verliebt sich in einen Mann, Eugen Onegin, der sie kühl, ja arrogant abweist. Jahre später trifft Onegin auf eine schöne gereifte Frau, in die er sich unsterblich verliebt. Es ist Tatjana, inzwischen Fürstin Gremin. Jetzt ist sie es, die ihn zurückweist. Obwohl sie ihn noch liebt, wird sie ihrem Mann treu bleiben. Sein letzter Aufschrei: »Du bist Mein«, verhallt ungehört. Tschaikowsky hatte diese Oper nach einer Vorlage Alexander Puschkins komponiert.

      Sie griff nach dem Buch, das neben dem Rotweinglas auf dem Tisch lag. »Geliebte Freundin: Tschaikowskys Leben und sein Briefwechsel mit Nadeshda von Meck.« Die beiden hatten sich lange schmachtende Briefe geschrieben, aber vereinbart, sich niemals zu treffen.

      Mitten in der Nacht wurde Tatjana von einem Geräusch geweckt. Sie war mit dem Buch in der Hand eingeschlafen. Der Kater kratzte am Fenster und maunzte.

      »Ich komm ja schon.« Sie stand auf, um ihm das Küchenfenster zu öffnen. Er sprang auf das kleine Vordach darunter und verschwand. Tatjana registrierte eine Bewegung. War da ein Schatten in ihrem kleinen Hof? Sie stand noch eine Weile, versuchte etwas zu erkennen und seufzte erleichtert, als sie kurz darauf das Liebesgeschrei einer Katze hörte, die den Roten vermutlich aufgescheucht hatte. Er sorgte pflichtschuldig und unermüdlich für Nachwuchs im gesamten Quartier.

      Wie gut, dachte sie, während sie Max zudeckte und schläfrig in ihr Bett kroch, dass ich keine rollige Katze habe.

      Tatjana lag ganz still. Sie konnte das Gebrabbel ihres Sohnes hören. Sie wusste, dass er bereits im Bettchen stand und sie beobachtete. Wenn sie sich ruhig verhielte, würde er noch eine Weile mit sich selbst sprechen, wenn sie auch nur mit der Wimper zuckte … Sie öffnete ihr rechtes Auge einen winzigen Spalt. Der Wecker zeigte sechs Uhr.

      Max rüttelte glücklich am Gitter seines Bettchens. »Mamamam.«

      Natürlich hatte er erkannt, dass seine Mutter endlich aufgewacht war. Sie holte ihn zu sich ins Bett. Das allmorgendliche Aufwachritual begann.

      ~~~

      Tatjana stellte das Radio lauter. »Ein bewaffneter Raubüberfall …«, der Rest der Nachricht ging in Maximilians Gebrüll unter.

      »Nicht schlimm, mein Schatz. Mama pustet.« Sie stellte ihre heiße Kaffeetasse außer Reichweite und nahm Max auf den Arm. »Mama hat nicht aufgepasst.« Sie pustete auf seine Finger, während sie mit ihm in der Küche hin und her lief. Er strahlte sie unter Tränen an und fand ihr Pusten offenbar sehr erheiternd. Der Schrecken war schon vergessen.

      Das Wetter war schön. Sie beschloss, Max zu Fuß zu Monika zu bringen. Auf dem Rückweg konnte sie einkaufen und dann das Geschäft öffnen.

      »Hast du gehört?«

      »Was?« Tatjana stand nach dem Einkaufen an einem der Stehtische vor Helens Konditorei, trank einen Kaffee und biss in ihr Croissant.

      Pünktlich um zehn Uhr öffnete sie ihren Laden. Ihre Einkäufe stellte sie auf der Treppe ab.

      Sie dachte an das, was Helen ihr gerade erzählt hatte. »Muller & Töchter«, ein großes Antiquariat, war in der Nacht überfallen worden. Mehrere Männer sollten sich Zugang verschafft haben. Von ihnen gab es bisher keine Spur. Ob die Männer, die gestern bei ihr gewesen waren, etwas damit zu tun hatten?

      Sammler waren das jedenfalls nicht. Mit Lederhandschuhen, pah, niemals. Jemand, der sich auskannte, hätte diese kostbaren Blätter nicht ohne Schutz berührt. Der Kunde im grauen Mantel ja, er schien zu wissen, wie man sich verhielt. Er hatte die Noten nicht aus ihren schützenden Hüllen entfernt.

      Ach verdammt, dachte sie, als sie den PC hochfuhr. Mein Tiefkühlspinat und das Eis. Sie rannte die Stufen der Wendeltreppe mit den Einkäufen hinauf und verstaute beides im Tiefkühler.

      Als sie Minuten später wieder im Laden war, stand er da. Der Mann im grauen Mantel. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Er nickte kurz und wandte sich wieder den alten Musikzeitschriften zu. Die Tür zum Büro ließ sie offen, setzte die Kaffeemaschine in Gang und hoffte auf Fritzi.

      Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl alleine mit diesem Kunden. Erleichtert hörte sie, wie sich die Eingangstür öffnete. Aber es war nicht Fritzi, die eintrat.

      »Moin!« Der Briefträger warf einen Stapel Briefe auf einen der Tische und wandte sich zum Gehen.

      »Manni!« Tatjanas Stimme klang anders als sonst.

      »Hi, Tanja.« Er blieb stehen. »Ich hab frische Franzbrötchen von Helen mitgebracht und der Kaffee ist fertig.« Einer solchen Verlockung konnte Manni nicht widerstehen.

      »Bin spät dran.«

      Das sagte Manni immer. Aber seine Figur sprach davon, dass er selten nein sagte zu einer Einladung zu Kaffee und Gebäck. Und ganz sicher nicht bei Tatjana, die er still verehrte. Er nahm den Stapel Briefe und ging an dem einzigen Kunden vorbei ins Büro.

      »Wie geht’s? Deine Frau hat die Grippe überstanden?«

      »Ja, alles gut, sie hat die Kinder und mich nicht angesteckt. Und gestern durfte sie zum ersten Mal wieder aufstehen.«

      Er legte die Briefe auf ihren Schreibtisch, folgte ihrem Blick, und hob fragend eine Braue. Tatjana nickte kaum merklich.

      »Haben Sie noch mehr davon?« Ihr Kunde hielt jetzt zwei Hefte, die sich mit Tschaikowsky beschäftigten, in den Händen. »Leider, nein. Aber ich kann für Sie danach suchen und Sie benachrichtigen, wenn ich etwas finde.« Sie ging auf ihn zu.

      »Danke, ich komme wieder.«

      Oh je, dachte sie.

      »Was kostet dieses?« Er zahlte den überhöhten Preis, den Tatjana verlangte, ohne mit der Wimper zu zucken, und ging.

      »Alles klar?«

      »Danke Manni, der war mir ein bisschen unheimlich.«

      »Gerne.« Manni hob die Hand zum Gruß. Als er die Tür öffnete, kam Fritzi herein.

      »Hi, Manni. Tut mir leid«, sagte sie atemlos zu Tatjana.

      »Manni hat mich bewacht. Der graue Mantel war wieder da.«

      »Oh? Du hast ihn schon getauft, kommt er wieder?«

      »Ich fürchte ja.«

      Fritzi zog die Lade der altmodischen eisernen Kasse auf. »Er hat was gekauft?«

      »Ja. Ich habe einen absurd hohen Preis verlangt in der Hoffnung, dass er nicht wiederkommt. Ich fürchte, es wird nichts nützen.«

      Fritzi lachte, sie amüsierte sich über Tatjanas Angewohnheit, ihren Kunden Spitznamen zu geben. »Der graue Mantel«, ja, das passte.

      Tatjana wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

      Fritzi sprach mit einem Jungen, der Comic Hefte verkaufen wollte. »Nein, wir kaufen so etwas nicht«, erklärte sie ihm. »Damit musst du zu …«

      Tatjana hörte nicht weiter zu. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Mail, die sie gerade geöffnet hatte. Einer ihrer Kunden suchte eine englische Ausgabe von Daniel Defoe. »Fritzi? Kannst du mal nachsehen, ich bin sicher, dass wir ein Exemplar davon …«

      »Ja«, sagte sie, »haben wir, das muss …«, sie ging zu einem Regal, das mit gläsernen Schiebetüren verschlossen war. »Hier, ich hab es.« Sie schob eine der Türen zur Seite.

      Der Rest des Vormittags verging damit,