Ursula Tintelnot

Tatjana - Stadt am Strom


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darauf bat »Blondi« sie Platz zu nehmen und verschwand.

      »Frau Muller lässt bitten.«

      Tatjana legte die Zeitung zurück, ohne die Überschrift auf der Titelseite zu Ende gelesen zu haben. Vermisste Skulptur von Alberto Giacometti …

      Schon durch die geschlossene Tür hörte sie Frau Mullers kalte Stimme. Sie kreischte fast ins Telefon.

      »Ich will diese verdammten Briefe. Bin ich denn nur von unfähigen Idioten umgeben?« Wütend knallte sie den Hörer eines altmodischen Telefons auf die Gabel, als Tatjana den Raum betrat.

      »Ah, Tatjana, schön, dass Sie sich Zeit nehmen konnten.« Ihr Lächeln ließ Tatjana an eine hungrige Muräne denken. Der schwarze Dobermann, der neben ihr saß und den Schreibtisch um einiges überragte, sah kaum weniger hungrig aus. Er ließ ein tiefes Grollen hören.

      Ich mag dich auch nicht, Tatjana überlief es kalt.

      »Ruhig, Eugen!« Simone Muller wies mit einer vagen Geste auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sie stand weder auf, noch reichte sie ihrer Besucherin die Hand. Tatjana setzte sich und bot ihre ganze Willenskraft auf, um nicht loszulachen. Wie konnte man seinen Hund nach einem Opernhelden Tschaikowskys, Eugen, nennen?

      »Ich will gleich zum Punkt kommen. Sie wissen, dass bei uns eingebrochen worden ist?«

      Tatjana nickte.

      »Ich möchte Sie warnen. Diese Verbrecher waren offenbar nur an Musikalien interessiert, aber sie sind gestört worden.« Sie trank einen Schluck Wasser und hinterließ den Abdruck ihres blutroten Lippenstifts auf dem Glas. Ihre kohlschwarz umrandeten Augen waren kalt wie ihre Stimme und blickten Tatjana bei dieser Mitteilung aufmerksam an.

      Warum nur habe ich das Gefühl, dass du mich gar nicht warnen willst? Tatjana sagte nichts.

      »Gab es in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches in Ihrem Umfeld?«

      »Was sollte das gewesen sein, was meinen Sie damit?«

      Simone erhob sich, trat an eines der hohen Fenster, die bis auf den Fußboden reichten, und starrte auf den Verkehr, der rund um den Binnensee der Innenstadt brauste. Sie trug ein knappes elegantes Kostüm und stand sicher auf so hohen Absätzen, dass Tatjana vom bloßen Hinsehen schwindlig wurde.

      »Hatten Sie Anfragen, Angebote oder Besucher, die Ihnen seltsam oder ungewöhnlich vorkamen?«

      Sie drehte sich um und beobachtete Tatjana genau. Sie zuckte nicht mit der Wimper, als sie behauptete, nichts Befremdliches bemerkt zu haben.

      »Ich habe von einem kürzlich verstorbenen Sammler gehört, der in der Branche gänzlich unbekannt ist.«

      »Und was hat das mit Ihrem Einbruch zu tun? Ist denn etwas gestohlen worden?«

      Tatjana musste sich zusammenreißen, um nicht nach dem Namen des Sammlers zu fragen.

      »Der Mann hieß Borodin, schon mal gehört?«

      Diese Frau wollte sie nicht warnen, sondern ausfragen. Simone Muller hatte ihre Fragen übergangen. Tatjana überlegte, weswegen sie wirklich hier saß. Muller & Töchter war gegen Tatjanas Antiquariat ein Saurier, aber sie hatte verdammt gute Kontakte, nicht zuletzt durch Professor Jones und Adam. Das musste auch Simone Muller klar sein. Nicht umsonst war Tatjana einige Male schneller gewesen und hatte ihr ein gutes Geschäft vor der Nase weggeschnappt.

      Tief in Gedanken ging sie zu ihrem mintgrünen Van. Sie dachte an den Mann im grauen Mantel. Hatte sie ihn eben wirklich in einem der Aufzüge zu Muller & Töchter verschwinden sehen?

      Du siehst schon Gespenster, graue Mäntel gibt es wie Sand am Meer.

      Seufzend entfernte sie den Strafzettel, der hinter dem Scheibenwischer ihres Autos klemmte. Sie hatte die Parkzeit überzogen.

      ~~~

      Die Glocke über der Tür läutete ihre behagliche kleine Melodie. Eine Melodie, die sie Zeit ihres Lebens kannte. Wenn sie aus der Schule kam, war sie zuerst zu ihrem Vater in den Laden gegangen. Er hatte ihr immer zugehört, Verständnis für ihre Nöte und kindlichen Kümmernisse gehabt.

      Du hast mich nie wie ein kleines Kind behandelt, Papa. Auch wenn er mit ihr sprach, sprach er die Sprache der Erwachsenen. In ihren Augen war er ein schöner Mann gewesen, intelligent und rücksichtsvoll. Heute, als Erwachsene, fragte sie sich manchmal, warum er nie wieder geheiratet hatte. Für ihn waren nur zwei Frauen wichtig gewesen, ihre Mutter und die Römerin. Beide waren gestorben, hatten ihn allein gelassen und ihm ihre Kinder anvertraut. Ihr Vater hatte Adam wie einen Sohn geliebt.

      Adam, komm zurück, du wüsstest, was zu tun ist, dachte sie.

      Irgendetwas war im Busch, aber sie konnte nicht erkennen, war es war. Adam mit seinem Gespür für Zwischentöne würde es erkennen. Freak schaute aus dem Büro.

      »Komm mal her, Tanja, ich muss dir was zeigen.«

      Fritzi war mit zwei Kunden beschäftigt und schüttelte unmerklich den Kopf, als Tatjana sie fragend ansah. Nein, sie kam alleine zurecht. Sie ging hinter Freak her ins Büro.

      »Schließ die Tür.« Erstaunt kam sie seiner Bitte nach.

      Das, was Freak ihr zeigte, machte Tatjana sprachlos. Offenbar wurden ihre Aktivitäten im Netz ausspioniert. Freak hatte bisher ohne Erfolg versucht herauszufinden, woher der Hacker kam. »Ich bleib dran«, sagte er tröstend, als er ihre besorgte Miene sah. »Er hinterlässt Spuren, ich werde ihn finden. Und wenn ich die ganze Nacht hier sitze.«

      Nachdem sie Max bei Monika abgeholt hatte, war er nach den üblichen abendlichen Ritualen schnell eingeschlafen. Sie stand noch eine Weile an seinem Bettchen, dann stellte sie das Baby-Phone an und telefonierte mit dem Chinesen am Ende der Straße.

      »Klopf an die Ladentür, wir arbeiten noch.« Sie hörte Kim kichern.

      »Wir auch«, sagte er.

      Tatjana lachte. »Bis gleich, tapferes Gold«.

      Der Asiate hatte ihr einmal die Bedeutung seines Namens verraten. Hübsch, dachte sie und stellte den Hörer auf die Station zurück. Sie stieg die Treppe nach unten. Die durchbrochenen Metallstufen vibrierten unter ihren Schritten. Freak hing verbissen über der Tastatur. Er gab einen Befehl nach dem anderen ein, schaute nicht auf, als sie das Büro betrat.

      »Verdammter Mistkerl, ich krieg dich, du Hurensohn«, knirschte er und zupfte so heftig an seinem Ziegenbart, dass Tatjana um dessen Bestand fürchtete.

      Leises Schmatzen drang aus dem Lautsprecher des Baby-Phons. Max hatte mal wieder hörbar seine beiden Fingerchen im Mund.

      Eine halbe Stunde später klopfte einer der sieben Söhne von 'tapferes Gold' an die Tür. Freak sah auf, als Tatjana ihm ein paar Frühlingsrollen und einen Plastikteller mit süßsaurem Fisch vor die Nase stellte. Sie selbst aß gebratene Nudeln mit Rindfleisch. Der Kater schlich um ihre Beine.

      Oh nein. Tatjana sah auf die Uhr. Mäxchen turnte wach und fröhlich am Gitter seines Bettes. Es war spät geworden, gestern Nacht.

      »Mama hat dich lieb, mein Schatz«, sagte sie zu Max, als sie ihn hochnahm, »aber deinen inneren Wecker musst du auf eine andere Zeit einstellen.«

      Sie bemühte sich leise zu sein, um Freak nicht zu stören. Der Arme lag in totenähnlichem Schlaf auf ihrer Couch. Sie wusste nicht, wann er schlafen gegangen war, jedenfalls noch später als sie selbst. Ihr Sohn quietschte begeistert auf, als er den schlafenden Freak entdeckte.

      Es war hoffnungslos. Freak stöhnte auf und zog sich die Wolldecke über den Kopf.

      ~~~

      Tatjana rannte durch den strömenden Regen. Sie war völlig durchnässt, als sie die Tür ihres Ladens erreichte.

      »Ich zieh mich schnell um, dann bin ich da.« Beinahe hätte sie einen Kunden umgerannt. »Entschuldigung«, keuchte sie und erreichte die Treppe.

      »Eine sehr stürmische Person, ihre Chefin.«

      Die