Ursula Tintelnot

Tatjana - Stadt am Strom


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für alles. Klein und sehr agil. Theo hätte nicht gewusst, was er ohne sie machen sollte. Sie konnte von Kaffee kochen bis hin zum Schminken der Models alles.

      Noch einen Tag Innenaufnahmen, dann würde sie Max wieder in die Arme nehmen. Sie sehnte sich nach ihrem Baby. Am letzten Abend saßen sie im Kings Arms bei Bier und Lammpastete. Theo hatte den Arm um sie gelegt.

      »Du warst klasse, Tanja.«

      »Ich schick dir die Arztrechnung, mein Lieber.«

      Gelbe Butzenscheiben verströmten sanftes honigfarbenes Licht über altmodisches Mobiliar und den Fußboden.

      Meine Güte, dachte Tatjana, das alles muss noch aus der Zeit der Rosenkriege stammen. Vor rund 600 Jahren. Sie probierte die Pastete in der Hoffnung, dass diese nicht ganz so alt sein möge.

      ~~~

      Max fing an herzzerreißend zu weinen, als er seine Mutter wiedersah. Es war, als ob er erst in diesem Moment begriff, dass sie ihn verlassen hatte. Er klammerte sich an Monika und versteckte sein Köpfchen an ihrem ausladenden Busen. Ein letzter Schluchzer. Tatjana und Monika warteten geduldig ab. Dann endlich sah er sie an und streckte Tatjana seine Ärmchen entgegen.

      »Ach, mein Schatz.« Selber den Tränen nah, nahm sie ihn in die Arme. »Mama lässt dich nie wieder alleine.«

      »Aber er wird dich irgendwann alleine lassen, meine Süße.«

      »Meine beiden sind auf dem besten Wege, und es gefällt mir.«

      »So sehr, dass du dir wieder was Kleines ins Haus holst?«

      Monika lachte. »Irgendwas muss ich tun.«

      Ihr Mann verdiente gut, aber er war als Ingenieur viel, manchmal wochenlang unterwegs. Nein, nötig hatte sie es nicht zu arbeiten.

      »Ich kann mich nicht mit einer Nadelarbeit in die Ecke setzen und Kissen besticken.«

      Das konnte sich Tatjana auch nicht vorstellen.

      »Und selbstgestrickte Pullover würden meine Kinder mit Sicherheit nicht tragen.«

      Als das Telefon läutete, dachte sie sofort an Jake. Max lag in seinem Bettchen und schlief. Sie schloss leise die Tür und nahm den Hörer von der Station. Sie wusste inzwischen, dass nicht Jake in Afghanistan umgekommen war. Die Nachrichten am Tag nach dem Zwischenfall hatten den Namen des Unglücklichen genannt. Sie fragte sich, wie man den Tod dieses Menschen als Zwischenfall bezeichnen konnte. Und sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie spürte, mit welcher Erleichterung sie die Nachricht aufnahm. Nicht Jake. Er hatte sich noch immer nicht gemeldet. Auch jetzt war es nicht Jake, dessen Stimme sie hörte.

      »Guten Abend, Tatjana.« Ruths helle, immer ein wenig atemlose Stimme. »Tut mir wahnsinnig leid, dass es so lange gedauert hat.«

      Sie seufzte. Adams Unterlagen von vor zehn Jahren waren derartig unsortiert, um nicht zu sagen chaotisch, dass sie lange hatte suchen müssen, um etwas zu finden. Aber das teilte sie Tatjana nicht mit. Ruth war absolut loyal und würde selbst unter der Folter nichts gegen ihren Chef sagen.

      »Hast du was herausgefunden?«

      »Ich weiß nicht recht, ob es relevant ist.«

      Tatjana hörte Papier rascheln. Dann wieder Ruths Stimme.

      »Dem Datum nach ziemlich genau vor zehn Jahren kursierte das Gerücht, dass es unbekannte Tschaikowsky-Briefe gäbe. Soweit ich sehen kann, ist Adam dem nicht weiter nachgegangen.«

      »Ah ja?«

      »Ja, hier gibt es noch eine angeheftete Notiz.« Tatjana hörte Ruth blättern. »Da steht nur ein Name, mit Fragezeichen versehen.«

      »Und wie lautet der Name?« Tatjana presste den Hörer fester ans Ohr.

      »Igor Borodin.«

      »Oh.«

      »Sagt dir das was?«

      »Ja, allerdings.« Sie berichtete Ruth von der Sammlung, die sie katalogisieren sollte. »Sein Besitzer«, sagte sie, »hieß Borodin. Aber niemand kennt ihn.«

      »Hieß?«, hakte Ruth nach.

      »Er ist gestorben«, erklärte Tatjana, »sein Erbe ist der potentielle Auftraggeber. Ich weiß nicht, ob ich annehmen soll. Wer weiß, in was ich da reingerate.«

      »Ja, in der Branche ist alles möglich«, meinte Ruth.

      »Nicht gerade tröstlich«, lachte Tatjana. »Wo ist Adam?«

      »In den USA.«

      »Aha, ein Fall?«

      »Ja,« sagte Ruth, »hat er sich nicht von dir verabschiedet?«

      »Ne, ich war in Cornwall mit Theo. Eiskalte Außenaufnahmen. Mein Handy habe ich nur benutzt, um Monika abends nach Maximilian zu fragen.«

      Tatjana beendete nachdenklich das Gespräch. In den USA also, sie wusste, dass es keinen Zweck gehabt hätte, Ruth zu fragen, was er dort wollte. Adam hatte nach seinem Jurastudium den Schreibtisch zu Gunsten praktischer Arbeit verlassen. Ihm lag die Büroarbeit nicht. Der Zufall wollte es, dass er gebeten wurde, nach einem gestohlenen Kunstgegenstand zu fahnden. Irgendwann hatte sie herausgefunden, dass ihr Vater ihn für diese Nachforschungen vorgeschlagen hatte.

      Adam wusste bis heute nicht, dass sein alter Freund ihn sanft in eine Richtung gestoßen hatte, der er bis heute begeistert folgte. Das Aufspüren von Kunstgegenständen und alten Manuskripten lag ihm im Blut. Offenbar konnte er sich mühelos in die Seele eines Verbrechers einfühlen.

      Sie dachte, wenn dein Schicksal anders verlaufen wäre, hättest du dich mit Erfolg auch auf der Seite der Schurken wiederfinden können.

      Tatjana lächelte, als sie an eines ihrer liebsten Kinderbücher dachte. Der Räuber Hotzenplotz. Ob es Max auch so gut gefallen würde wie ihr? Oben in der Wohnung ihres Vaters würde sie es sicher noch finden. Plötzlich kamen ihr die Tränen.

      Ach, Papa, du hast alle meine Bücher aufgehoben. Für deine Kinder, hast du gesagt. Wie gut, dachte sie, dass du deinen einzigen Enkel noch sehen durftest.

      Sie fragte sich, warum alle Männer, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, Reisende waren. Adam auf der Suche nach Raubgut und Jake auf der Suche nach dem Tod. Aber auch Theo, der in der ganzen Welt herumfuhr, um seine zum Teil spektakulären Modeaufnahmen zu machen.

      Und du Papa, du bist auf die große Reise gegangen, von der es keine Wiederkehr gibt.

      Tatjana wischte sich die Tränen aus den Augen und sah noch einmal nach Max. Während sie sich ein Glas Rotwein eingoss, merkte sie, dass sie nicht zu Abend gegessen hatte. Sie fand ein Stück Käse und ein paar Kräcker.

      Im IPod suchte sie ihre Lieblingsarien und setzte den Kopfhörer auf. Gleich darauf sprang der Rote zu ihr aufs Sofa. Der Kater ließ sich auf ihrem Bauch nieder und begann zu schnurren. Tatjana schloss die Augen.

      ~~~

      Nachdem sie Max bei Monika abgesetzt hatte, fuhr Tatjana zu Muller & Töchter. Die Stadt war vollkommen überfüllt. Sie brauchte endlos lange, bis sie einen Parkplatz hinter der Börse gefunden hatte. Nach einem zehnminütigen Fußmarsch betrat sie das riesige Antiquariat. Sie kannte Simone Muller. Und sie war gespannt, was sie von ihr wollte. Eine Frau mit der Ausstrahlung einer Domina. Sie blickte in den verspiegelten Aufzug hinein. Was sie sah, war eine junge Frau in einem langen, sehr schicken leichten Mantel. Ein Geschenk der Modefirma, für die sie in Cornwall Aufnahmen gemacht hatten. Theo bestand immer darauf, dass sie sich eines der Stücke, die sie getragen hatte, aussuchen durfte. Den winzigen Sabberfleck am Revers konnte man kaum erkennen. Hoffentlich gab es hier keine Kamera. Tatjana bemühte sich um Haltung und schaute prüfend nach oben. Die Aufzugtüren öffneten sich. Der dicke Teppich unter ihren Füßen schluckte jedes Geräusch.

      »Was kann ich für Sie tun?« Eine junge, sehr blonde Frau stand hinter einem rostfarbenen geschwungenen Eisentresen. Lilien in einer hohen Amphore verströmten einen schweren süßlichen Duft,