Wilhelm Thöring

Die Bärin Roman


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provisorische Tür gehängt, als Zeichen dafür, dass sie sich mit ihren drei unmündigen Kindern der Besatzung ergibt. Sie, die kein Bett, keinen Herd, die nichts mehr hat als ihre Kinder und das Leben, sie muss auch das für andere sichtbar machen, dass in dieser Behausung weder Soldaten noch Waffen versteckt sind. Wie hat sie nach einem weißen Tuch in den leerstehenden Häusern und Trümmern gesucht! Jetzt hängt es vor der Nische und macht sie zu einem Raum, in dem sie sich ungesehen von den Kindern waschen kann. Eine Wanne hat sie nicht, nur eine verbeulte, fleckige Emailleschüssel, die auf einem Sockel von aufgeschichteten Steinen steht.

      Im Sonnenlicht sieht sie dicke Wolken von Staub, die von etwas Übermächtigem in ihre Unterkunft geblasen werden. Wir leben nicht mehr wie Menschen, sondern wie Ratten, denkt sie, ja wie Ratten, versteckt und bedroht und immer auf dem Sprung, wie in der Zeit, als feindliche Bomber über uns hinwegdröhnten! Immerhin: Wir leben! Und Reinhold, das sagt ihr ihre innere Stimme, Reinhold lebt auch. Der Krieg ist zu Ende, so wird es nicht mehr lange dauern, und er kehrt heim. Ob die Kinder ihn wiedererkennen werden? Als er Fronturlaub hatte, haben die beiden Jungen sich von ihm ferngehalten. Sie waren ein Leben nur mit der Mutter gewöhnt, der Vater war fremd und störte. Und Marlene mit ihren eineinhalb Jahren hat ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Was kennt das Mädchen, was weiß es von einem Vater?

      Der Krieg hat Reinhold fremd gemacht, auch für sie. Es gab nur noch wenig Gemeinsames zwischen ihnen. Sie konnten Stunden beisammensitzen und schweigen. Sie dachte an die zahllosen Bombennächte und ihr gehetztes Rennen mit den Kindern in den Bunker und daran, dass sie immer allein war, immer auf sich gestellt. Und er dachte an seine Erlebnisse an der Ostfront, von denen er anfangs stundenlang erzählte, bis sie es nicht mehr hören konnte. Haarsträubende Geschichten erzählte er, aber hatte sie in der Heimat nicht ebenfalls Vergleichbares erlebt? Wenn sie davon sprach, dann schwieg er und dachte an die russischen Dörfer, durch die er gezogen war. Er dachte an jene Menschen, an Frauen, an Kinder und Greise, und wozu deutsche Landser fähig waren. Er sagte ihr: Gott sei’s geklagt, Ursula, was diese Menschen erleiden! Wenn der Russe uns das heimzahlt! Gütiger Himmel! Sein Mitgefühl hat Reinhold nie verloren. Der Krieg hat ihn still gemacht, abwesend und noch empfindlicher für Ungerechtigkeiten und Misshandlungen, aber roh oder gar brutal – nein, das ist er nicht geworden.

      So aufgebracht hat sie Reinhold nie in ihrem Leben gesehen wie bei seinem letzten Fronturlaub, als vor ihrem Haus Fremdarbeiter von deutschem Wachpersonal geschlagen und malträtiert wurden. Es war eine Kolonne russischer Frauen, die im Schutt des zerstörten braunen Hauses – der örtlichen Parteizentrale, die bei einem der letzten Fliegerangriffe von einer Bombe getroffen worden war – aufzuräumen und alles Wichtige und Brauchbare auszugraben und zu bergen hatte. Ihr schwermütiger, zu Herzen gehender Gesang machte Reinhold auf sie aufmerksam und lockte ihn ans Fenster. Und was er sah, das empörte ihn derart, dass er Ursula zu sich rief. Aufgereiht, teilnahmslos wie Tiere sahen die Frauen zu, wie einige jüngere Leidensgenossinnen sich um eine ältere Frau bemühten, die auf der Straße lag. Ihre wattierte Jacke hatte sie aufgerissen, wie ein Fetzen Stoff hing eine Brust heraus, und ihr Kopftuch lag neben ihr auf dem Boden, auf das eine andere ihren Fuß gestellt hatte, um es nicht fortwehen zu lassen. Ein Schuh war auf die andere Straßenseite geflogen, aber dahin traute sich keine. Die Frau, die auf der Straße lag, bekam keine Luft. Sie bäumte sich auf, warf den Kopf nach hinten und zur Seite, knetete ihre Brust und trommelte darauf und riss den Mund weit auf, aber sie blieb still, so wie die anderen Frauen auch. Ungerührt standen zwei Wachsoldaten daneben, das Gewehr im Anschlag und sahen zu, wie die jüngeren Frauen sich abmühten, die Kranke wieder auf die Beine zu stellen und mitzuschleppen. Der Jüngere stieß die Alte mit dem Stiefel an, er trat nach ihr und brüllte, ungeduldig geworden, auf sie herunter. Sie schaffte es nicht hochzukommen. Die Wachsoldaten berieten sich kurz, die Frauen wurden in ihre Reihe zurückgedrängt, dann zog der jüngere Bewacher seine Pistole und erschoss die Frau auf der Straße. Wie einfach das ging! Er streckte seine Waffe nach ihrem Kopf hin und drückte ab. Der Kopf der Kranken fiel aufs Pflaster, sie versuchte noch einmal sich aufzubäumen, dann lag sie still, Mund und Augen immer noch weit aufgerissen. Wie ungerührt die Frauen dabei zusehen konnten! Und als sie weiterzogen, als die kräftigsten von ihnen die Tote mitschleppen mussten, da sangen sie wieder.

      Außer sich vor Erregung hatte Reinhold das Fenster aufgerissen und den Bewachern etwas zugerufen, hatte geschimpft und ihnen gedroht, diesen Vorfall zu melden, so dass Ursula ihn ins Zimmer zurückreißen und das Fenster schließen musste. Es gehe hier nicht anders zu als an der russischen Front, hatte er ungläubig gestöhnt. Wie da, so würden auch hier Menschen mit Füßen getreten, würde Jagd auf sie gemacht und man schieße sie ab, wie anderswo die Hasen oder Enten. Drüben im Osten habe er Grausameres gesehen, viel Grausameres als das, was sie eben mit der Russin getan haben... Diese Frau sei nicht langsam und qualvoll gestorben, im Grunde sei sie ohne viel Aufhebens erlöst worden von ihrem jämmerlichen Dasein. Und das sagte er auch: Er glaube, dass jede Untat, die von einem Volk begangen werde, ein Spatenstich zu seinem eigenen Grabe sei.

      Reinhold! Obwohl er verändert war und fremd bei seinem letzten Besuch – sie ist es auch, das weiß sie – so ist ihre Sehnsucht nach ihm an manchen Tagen so groß, dass sie seinen Namen hinausschreien möchte. Hier haust sie in einem Loch und ist voller Verlangen nach seinen Armen, nach seinem Körper, dass es schmerzt und sie verrückt werden könnte!

      Und er? Steckt er auch wie eine Ratte in einem ähnlichen Loch wie sie? Und weiß auch er vor Verlangen nicht wohin? Wenn sie doch aufstehen und in die Sonne gehen könnte!

      Ursula liegt in der Umklammerung ihres ältesten Sohnes und weint still, die Tränen verschmieren den Staub auf ihrem Gesicht. Und über ihr tickt der Wecker und erinnert sie daran, dass die Sperrstunde bald vorüber ist.

      Der Vater hat sie zuerst erkannt. Ursula steht mit ihren Kindern auf den Trümmern vor ihrer Behausung und hält Ausschau nach ihren Eltern, nach Gottfried und Emma Straeten. Seitdem die Sperrstunde vorüber ist, sitzt sie wartend auf einem Mauerrest, denn hier draußen atmet sie frische Luft und wird von der Sonne gewärmt. Wenn sie jemanden entdeckt, der den Eltern ähnlich sieht, dann läuft sie ihm entgegen. Anfangs sind die Kinder mitgelaufen, jetzt bleiben sie, wo sie sind und sehen nicht einmal mehr auf, wenn die Mutter davonstürmt. Die kleine Marlene sitzt zwischen dem Schutt und spielt mit einer leeren Ölsardinendose, und Wolfgang und Achim, ihre beiden Brüder, schichten Steine aufeinander; sie bauen neue Häuser, sagen sie.

      Und immer noch ziehen Flüchtlinge kreuz und quer durch die Straßen, als kämen die Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Wenn die Sperrzeit vorüber ist, dann kriechen sie aus ihren Verstecken und ziehen weiter, bis sie wieder gezwungen werden, in den Trümmern unterzutauchen und zu warten, bis eine neue Sonne über dem zerschlagenen Land aufgeht. Überwiegend sind es jüngere Mütter mit ihren Kindern, die die Straßen füllen, auch Alte sind dabei mit fragenden oder verständnislosen Blicken und mit leeren Gesichtern. Abgeschlafft und verdreckt sind sie und stumpf geworden von dem, was hinter ihnen liegt. Die einen schieben voll bepackte Kinderwagen oder ziehen Wägelchen hinter sich her, andere führen, vom weiten Weg krumm geworden, ihr Fahrrad, auf dem sie ihre Habseligkeiten festgezurrt haben.

      Früher hat Ursula auch schon einmal einen dieser Umherirrenden angesprochen, hat ihn gefragt, woher er kommt und wohin er unterwegs ist.

      „Ach, Gottchen ne, dahin, wo ich kann ausschlafen oder sterben“, war die Antwort. Jetzt fragt sie niemanden und beachtet keinen mehr. Aber sie überlegt manchmal, wo in diesem verwüsteten Land, in dem keine Nahrung und kaum Obdach zu finden ist, die Flüchtlinge denn bleiben wollen. Westwärts wollten sie; sie sind im Westen angekommen und sind noch immer unterwegs. Diese Gestalten werden nicht mehr wahrgenommen, werden nicht befragt, werden nicht angesehen. Wonach Ursula alle Tage Ausschau hielt und mancher Täuschung erlag, das war Reinhold. Heute guckt sie sich nach ihren Eltern die Augen aus dem Kopf. Die Frau aus der ersten Etage des Hauses gegenüber, eine Frau in ihrem Alter mit fünf Kindern, schleppt Holz herbei. Sie trägt Schwarz, weil ihr Mann in den letzten Kriegswochen gefallen ist. Ihre schwarze Kleidung hat der Trümmerschutt zu einem hellen Grau verfärbt. Die Frau klappt das Ende ihres Schals, den sie um den Kopf geschlungen hat, herunter, um Schweiß und Staub aus dem Gesicht zu wischen. Als sie Ursula sieht, hebt sie grüßend eine Hand und rät ihr, sich mit Brennholz einzudecken, denn es geht das Gerücht, dass wieder strenger Frost aufkommen wird. Ja, das wolle sie tun,